Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Die Sachverständigen

Arcularius eilte zum »Lamm«. Er hatte sich das auch leichter vorgestellt. Im »Lamm« herrschte selbstverständlich die größte Aufregung. Vor einer Stunde hatte der Einzug Herrn Kortüms stattgefunden.

131 Ein Photograph hatte am Fuß der Gasthoftreppe seinen Apparat aufgestellt und hielt das Blitzlicht bereit. Schreckliche Worte gingen in der wartenden Menge um. Kaum ein Verbrechen wurde nicht aufgezählt – Kranichstedt, wer hätte geglaubt, daß dein Frieden und deine Ruhe so jäh geschändet werden könnten? Du lagst still in deinen schneegepolsterten Hügelbetten und sprachst im Traume von Arbeit und von Mühe, Freude, Sorge, Leid – und mit einem Male fuhrst du hoch: Feuer! Die Grüfte brennen! Aber Gott sei Dank: Kranichstedt liegt in Thüringen. Eben noch raunt das grausige »Sie hab'n 'n Brandstifter« durch die Massen – da erschallt vom Burgplatz her ein Laut, den man für Lachen halten sollte. Ja, Lachen! Ohne Zweifel: Gelächter – herrliches breites Volksgelächter schmetterte durch die klare Winterluft! Schon fliegt auch die Kunde von des Lachens Grund und Recht von Munde zu Mund. Die Menge vorm »Lamm« ist ungeheuer gespannt. Herr Kortüm naht. Aber keiner hat Lust, ihm ins geschwärzte Antlitz zu starren, nein, alles drängt sich zusammen, will Herrn Kortüm von hinten sehen. Von all den vielen und seltsamen Schicksalen des Herrn Kortüm war dieses ein besonders merkwürdiges: einer ganzen Stadt war plötzlich Herrn Kortüms Antlitz gleichgültig und Herrn Kortüms Hinterteil das Entscheidende geworden.

Leider ging auf dem engen Platz vorm »Lamm« kein ordentlicher Wind, und Herr Kortüm trug, wie wir wissen, bei wichtigen Anlässen keine Jacke, sondern einen zugeknöpften Rock mit Schwänzen. Die Leute mußten sich fast bis zur Erde neigen vor Herrn Kortüms Hintern, um etwas zu sehen von dem Sonnenabdruck. Aber es ist – zur Ehre der Kranichstedter sei es betont – immer festzuhalten: nur die völlige Windstille war der Grund dieser nie dagewesenen Reverenz. Herr Kortüm erstieg die steilen Stufen der Vortreppe, er erreichte die Plattform vor der alten geschnitzten Haustür – und der Wind erreichte ihn.

»Die Sonne! Da is se! Hurra!« schrien die fröhlichen Kranichstedter. Die Bestätigung der Wahrheit hat Kranichstedt stets glücklich gemacht – schon seit jenem Nachmittag, als ein Landpfleger, der nicht wußte, was Wahrheit ist, sich eine Schale mit Wasser bringen ließ und seine Hände wusch. Unter ungeheurem Beifall erreichte Herr Kortüm die Tür, schritt starr durch die Bedientenschaft – die wollte auch was sehen und war gezwungen, sich vor dem Brandstifter am Abend noch tiefer zu verneigen als vor dem geehrten Gast am Morgen – er erreichte sein Zimmer und sank längelang auf sein Bett. Monich war gleich auf dem Stuhl an der Tür sitzengeblieben und tropfte vor Nässe.

132 Herr Kortüm ächzte.

Monich stieß einen fürchterlichen Fluch aus.

»Wie mich das Volk anstarrte, Monich.«

»Dich? Nee, Kortüm.«

»Dich etwa, Monich?«

»Nee. Auch nich. Aber deinen Hintern haben sie beguckt.«

»Wie sie brüllten, Monich.«

»Un der Photograph hat'n abgenommen mit Blitzlicht.«

»Mit Fingern hat die Bande auf mich gezeigt, Monich.«

»Du hast nu 'n berühmtesten Hintern von ganz Thüringen, Kortüm.«

So redeten die beiden Männer noch lange, und sie verstanden sich nicht. Herr Kortüm sprach von seiner Vorderseite, und Monich meinte immer Herrn Kortüms Rückseite. Ja, Friedrich Joachim Kortüm, das Leben ist zweiseitig. Sein Sinn bleibt dunkel, denn der Mensch erblickt immer nur die eine Seite der wandelnden Gestalt, und die Menschen können sich nicht einmal verständigen, wenn sie dasselbe Wesen meinen. Eh sich's einer versieht, ist vorn und hinten verwechselt, Sonne und Mond vertauscht, Vorfahr und Nachfahr, Sarg und Bett, Tinte und Feuer, Gruft und Herberge, Leben und Tod – aus einer Brandnacht wird eine Kirmes, aus einem Feuerlöscher ein Brandstifter, Torstenson tritt als Kortüm auf, die beiden dreißigjährigen Kriege geraten durcheinander – ein großes buntes Maskenfest mit Tränen und Musik. Eine Maske tanzt mit der anderen, eine Larve steckt sich hinter die andere, und kein sterblicher Körperteil ist sicher vor dem Dämon – und alle loben Gott! Aber du, Kranichstedt, kleine Stadt in Thüringen, von der Gruft unten bis zur Glocke hinauf, vom Grammensand bis zur Badergasse in deinem Innersten – du bist von Gott geliebt, denn du hast das Lachen nicht verlernt, auch wenn die Maske an der falschen Stelle sitzt. Du siehst nicht nur den Splitter in deines Nächsten Larve, du freust dich auch über seine Sonne, wenn sie am verkehrten Ende lacht. Und da nun diese gebrechliche Welt so geordnet ist, daß auch große Herren Kortüms manchmal nur von hinten leuchten – wenn sie nur leuchten, und brächten sie den Sonnenschein selbst aus Grüften heraus – wir wollen der Stadt Kranichstedt das rechtzeitige Lachen nicht vergessen, denn am rechtzeitigen Lachen hängt das Leben.

Herr Kortüm lag aus dem Bett und genoß das Leid des Gerechten: »Wie sie sich vor mir krümmten, wie sie sich bis aufs Pflaster duckten – wagte einer mich anzurühren – mich, Kortüm?«

»Wir wolln erst abwarten, was noch kommt, Kortüm.«

133 »Sie werden ihn doch nich verhaften?« sagte einer der Männer vor der Treppe des »Lamms«.

»Na nee du, das wäre je noch schöner.«

»Wieso denn?«

»Da kommt aber schon der Pastor gelaufen.«

»Geht nach Hause, liebe Leute«, sprach Arcularius. »Das Abendessen wartet. Wir haben Hunger bekommen, nicht wahr? Ja, lassen wir es uns wohlschmecken. Gott hat heute seine Hand sichtbar über uns gehalten. Welche Freude, daß kein Unglück geschehen ist.«

Im Eingang stand der Lammwirt: »Gar nischt is passiert, Herr Pastor?«

»Gottlob, Lieber – nichts.«

Arcularius eilte die Treppe hinauf und trat in das Zimmer des Herrn Kortüm.

»Ei verflucht«, murmelte Monich. Herr Kortüm erhob sich langsam. Aber sein starres Gesicht lockerte sich auf, und Monich ließ den Mund offen stehen vor Verwunderung: es entwickelte sich eine manierliche, ja eine angeregte Unterhaltung. Zwar wurden die Worte gemessen, aber von beiden Seiten höflich und überlegt gesetzt. Einer stützte den anderen. Einer kam dem anderen entgegen.

»Ich werde mich sogleich auf die Schriftleitung der ›Ilmpost‹ begeben und die Notiz einrücken lassen, daß der Brand glücklicherweise nicht zum eigentlichen Ausbruch gekommen sei. Einen Unfall wollen wir es nennen. Ein Mißverständnis. Ohne Bedeutung – wenn« – plötzlich stand Arcularius auf, hob den Zeigefinger und bewegte gewaltig die Lippen wie bei einer Predigt – »wenn, Herr Kortüm – hören Sie? Wenn eines geschieht: auf dieses Eine muß ich aber dringen! Unnachsichtlich, sofort und absolut!«

»Herr Pastor, bitte?«

»Sie werden den Schaden am Sarkophag ausbessern lassen – sofort, morgen früh bereits und auf Ihre Kosten.«

Herr Kortüm erschrak: Geld? Aber ehe er reden konnte, rief Monich: »Wird gemacht!« Der schuldbeladene Feuerwehrhauptmann besann sich keine Sekunde. Er atmete auf.

»Sofort und bar bezahlt?«

»Sofort un gegen bar, Herr Pastor – ich heiße Monich.«

Herr Kortüm blinzelte mit den Augen, als wenn ihn die Sonne blendete – die wirkliche Sonne. Er sah seinen alten Lohberg, sein 134 Schottenhaus, und keine Kerkergitter kreuzten schwarz dieses lustige bunte Bild. Ausbessern? überlegte er – »Herr Pastor, aber wer bessert aus? Weder mein Freund Monich noch ich haben je mit Sargmacherei zu tun gehabt.«

»Ich werde mit dem alten Glockengießer Koch darüber reden«, antwortete Arcularius. »Der versteht sich auf Metallarbeit.«

Am anderen Morgen lasen die Kranichstedter in ihrer Zeitung, es sei nichts passiert. Das nahm sie wunder. Der Volksauflauf, die Sturmglocke, die Feuerwehr und dann die Fröhlichkeit in der Nacht – nichts? Einfach nichts? Die heutige Morgenausgabe der »Ilmpost« schätzten sie nur nach ihrem Papierwert und beschlossen, die Abendausgabe gar nicht erst zu lesen: »Es steht je doch nischt drinne.«

Während die Kranichstedter noch über das Rätsel des verschwundenen Ereignisses in der Kirchengruft nachdachten, standen Herr Kortüm und Monich bereits wieder vor dem Eingang dieser Gruft. Es würde gleich ein Mann kommen, ein gewisser Herr Schwartenmacher, wohnhaft in der Lorenzgasse: dieser Mann war von Andreas Koch als der einzige Hand- und Bildwerker von Kranichstedt empfohlen, welcher würdig und kunstverständig genug sei, den zinnernen Torstenson-Sarkophag wiederherzustellen, damit nicht nur der tote Marschall, sondern vor allem auch die lebendige »Ilmpost« ins Recht gesetzt würden.

Die Kirchentür klappte. Der Küster schloß diesmal persönlich auf und geleitete die Sargflicker durch das Schiff der Kirche. Es kamen zwei Sachverständige: voran schritt Schwartenmacher, ein Mann mit unternehmungsfreudigem Gesicht und wallendem Künstlerhaar, wie es von Bildhauern in früheren Epochen getragen wurde, um sich aus der Masse herauszuheben. Ihm folgte der Klempnermeister Spillecke, welcher einen Blechkoffer mit sich führte. Die Männer begrüßten sich und gingen unverzüglich, wie das die Handwerker gewohnt sind, ans Werk. Spillecke legte die Leitung für eine elektrische Handlampe. Der Kindersarg wurde herausgetragen – zweihundert Jahre stand er in der Gruft, des toten Kindleins Namen kannte keiner mehr, und doch begab es sich, daß Herr Kortüm hinter diesem Transport herging und mit Recht ein Leidtragender genannt werden konnte. Sein Blick lag mißtrauisch auf der entfärbten Sonne. Die rüstigen Meister aber rückten nun die Wandsärge nach, und in wenig Stunden hatte sich Schwartenmacher einen so komfortablen Arbeitsplatz in der Gruft geschaffen, daß Monich sinnend den Kopf schüttelte, mit dem Daumen über die Schulter zeigte und zu 135 Herrn Kortüm leise sagte: »Siehste? Die haben's weg.« Herr Kortüm zuckte die Schultern: »Das macht die Übung, Monich. In der nächsten Gruft gehen wir auch anders ans Werk.«

Spillecke klappte seinen Blechkoffer auf und entnahm ihm eine Fülle von Werkzeug. Lötkolben, Feilen, Raspeln, Schaber brachte er hervor, und zuletzt wickelte er aus dem Putzlappenbündel eine größere Flasche aus, welche die Aufschrift »Benzin« trug. Der Feuerwehrhauptmann las diese Inschrift nicht ohne Sorge. Spillecke stellte die Flasche neben das Schwert auf dem Sargdeckel, sah sie an, schüttelte sie, hielt sie gegen das Licht, zog den Korken, roch hinein – und plötzlich setzte er diese Benzinflasche an und nahm einen furchtbaren Schluck aus ihr. Monich entsetzte sich: »Nu hört doch alles auf – Sie sind je feuergefährlich, Meister!«

»Nee«, antwortete Spillecke, »ich fühle mich frostig.«

Aber diese wenigen Worte gaben Monich das Vertrauen zum Klempnerhandwerk zurück: der Meister roch deutlich nach einem Kümmeldestillat.

Schwartenmacher schien ein geschickter Mann zu sein. Er modellierte nach der Zeichnung in der Chronik das zerstörte Wappen in Wachs. Spillecke feilte die Schmelzränder im Sarkophag glatt. Herr Kortüm sah aufmerksam dem Modellieren zu.

»Heute abend gieße ich das Wappen in Zinn und morgen fangen wir mit dem Einsetzen an.«

»Sie haben wohl schon viele Särge ausgebessert?« fragte Herr Kortüm.

»Nee, solche Unfälle sind nicht sehr häufig. Aber den Turmhahn habe ich vorige Woche auf dem Kirchturm ausgebessert. Der war ausgeleiert.«

»Oben auf dem Turm? Werden Sie denn da nicht schwindlig?«

»Angenehm ist es nicht da oben. Aber ist es in dem Muff hier unten vielleicht schön? Turmknopp oder Gruft – Dienst ist Dienst, und im Beruf wird man nicht schwindlig.«

Herr Kortüm schien anderer Meinung zu sein. In seinem Beruf war ihm wiederholt schwindlig geworden. Nach einer Weile fing er wieder an: »Sie modellieren wohl viel?«

»Nee. Ich mache bloß kleine und mittlere Sachen, aber jetzt gehn bloß die großen.«

»Und nun müssen Sie vom Ausbessern leben?«

Schwartenmacher seufzte.

»Aber Sie haben doch wenigstens ordentlich Reparaturarbeit?«

»Früher war's besser.«

»Ging früher mehr entzwei?«

»Nee, es wurde aber mehr geflickt.«

Ärgerlich schüttelte Herr Kortüm den Kopf. Er liebte die Ordnung: »Was machen denn die Leute mit den zerbrochenen Kunstgegenständen?«

»Die kommen ins Museum.«

»Was Sie sagen! Ins Museum!«

»Sehn Sie«, belehrte ihn Schwartenmacher, »je weniger von einer Figur übrig ist, desto mehr können die Fachleute drüber schreiben.«

»Aha«, sagte Herr Kortüm und dachte eine Weile über diesen Zusammenhang nach. Dann nickte er: »Natürlich. Je weniger übrig, desto besser. Das ist wie im Gaststättengewerbe. Je mehr zerbrochene leere Flaschen, desto besser die Bilanz. Nichts ist so abscheulich, wie volle Flaschen.«

Spillecke hörte auf mit Feilen. In tiefem Nachdenken guckte er in das Loch im Sarg: »Je leerer, desto besser.« Er schüttelte den Kopf über dieses Jammertal, ließ seinen Blick auf dem Bauch des Gaststättenbesitzers haften und sagte: »Es is alles so untröstlich.«

Aber Schwartenmacher fuhr fort: »Ja, Herr, je weniger von einer Figur vorhanden ist, desto dicker wird das Buch –«

»Die Bilanz«, warf Herr Kortüm ein.

»Und die dicksten Bücher in unserer Zeit handeln von Sachen, die gar nicht vorhanden sind.«

»Also die Bilanz«, wiederholte Herr Kortüm vergnügt, klopfte dem Meister auf die Schulter und fing an im Chor, dann im Schiff und zuletzt auch in den Seitenschiffen herumzuwandeln. Monich benutzte die Gelegenheit, ein wenig ins Freie zu gehen. Er mußte sich erfrischen. Eingeschlossene Luft bekam ihm nicht. Herr Kortüm aber wanderte, blieb gelegentlich stehen und sprach mit sich. Offenbar arbeitete er. Endlich stand er im Chor still und rief mit starker Stimme in die Gruft hinunter: »Herr Schwartenmacher, einen Augenblick!«

Der Sargflicker erschien. »Setzen Sie sich, Meister«, sagte Herr Kortüm. Da es keine andere Sitzgelegenheit im Chor gab, setzte er sich auf den Kindersarg, den sie hier abgestellt hatten. »Stehen Sie auf, Meister!« schrie Herr Kortüm. Er griff nach seinem Hosenboden. Eine grauenhafte Erinnerung stieg in ihm auf. Die Leute haben recht, dachte Schwartenmacher, der Kerl ist verrückt. Aber er sollte gleich freundlicher von Herrn Kortüm denken, der sichtlich Anstalten zu einer Rede 137 traf: er stellte das eine Bein etwas vor, zog Merkbuch und Goldbleistift heraus und sprach: »Ich habe einige sachliche Fragen an Sie zu richten. Zunächst müssen Sie wissen, daß ich Besitzer von einer außerordentlich großen Zahl zerbrochener Gegenstände bin.«

»Und die wolln wir nun flicken«, sagte Schwartenmacher freudig.

»Eben nicht, Lieber. Was zerbrochen ist, bleibe zerbrochen. Ja« – Herr Kortüm strich über seinen Bauch – »der Mensch soll die Gegenwart nicht am Fraße der Vergangenheit hindern, nicht wahr? Man soll sich nicht selbst die Nahrung entziehen. Ich, Kortüm, ein Gastwirt, kann nur billigen, daß man eine Sache alle werden läßt, wenn sie so weit ist.«

Schwartenmacher sah ein Geschäft davonschwimmen: »Gute Sachen«, sagte er, »sind aber das Ausbessern wert. Und ich arbeite preiswert und sachverständig.«

Aber Herr Kortüm fuhr mit der flachen Hand durch die Luft: »Nicht flicken. Nein. Aber Sorge wollen wir tragen, daß, was zerbrochen ist, öffentlich zerbrochen ist: die Museen haben ganz recht.«

»Na ja« – Schwartenmacher begriff, daß er sich durch sein Gerede über die Museen selbst um einen schönen Auftrag gebracht hatte – »aber die vielen alten Sachen, die's gibt.«

»Diese alten Sachen fangen leicht Feuer. Der Teufel hol's. Sie bereiten einem dann die größten Unannehmlichkeiten. Das habe ich gestern in der Gruft gemerkt.«

Der Sargflicker lachte: »Lärm hat's genug gemacht.«

»Lachen Sie nicht, Herr Schwartenmacher. Es wird heute entweder gar nicht gelacht oder an der falschen Stelle. Man muß an diesen falschen Stellen nicht lachen, sondern nur über sein Kinn streichen. Sehen Sie: so! Ja. Also: öffentlich zugänglich machen allein, ist nicht genug. Solche ehemaligen Gegenstände müssen auch trocken stehen, damit sie ihre Farbe behalten. Erstens. Und zweitens müssen sie feuersicher stehen. Die Museen haben ganz recht«, wiederholte Herr Kortüm überzeugt. »Sie sagten doch, lieber Schwartenmacher, daß der Besuch der Museen in heutiger Zeit recht zufriedenstellend ist?«

Schwartenmacher nickte verdrossen.

»Sehen Sie! Das ist mir eine große Beruhigung. Sagen Sie, Lieber, haben Sie nach einem Museumsbesuch nicht auch ein ausgesprochenes Hungergefühl?«

In Schwartenmacher begann die Wut hochzusteigen: das hätt' er auch sonst manchmal, behauptete er.

»Ausgezeichnet!« rief Herr Kortüm. »Geistige Arbeit zehrt eben! 138 Ein erfahrener alter Gastwirt weiß das! Zahlende Gäste soll man geistig anregen, damit sie sich nach einem Kotelett sehnen. Nichtzahlende, also Leute, die man gemeinhin liebe Gäste nennt, soll man in stumpfsinnigem Zustande erhalten, bis sie gehen. Dann verzehren sie weniger. Ja, nun sagen Sie mir aber: was ist bei einem Museum die Hauptsache?«

»Der Katalog natürlich«, sprach Schwartenmacher trotzig. »Was für Gegenstände haben Sie denn überhaupt?«

»Gegenstände? Ich sagte ja schon: alles zerbrochen und unbrauchbar.«

»In welches Genre Ihre zerbrochenen Sachen fallen, meine ich.«

»Oh – Urnen, Steinbeile, Knochennadeln, Schädel –«

»Sehr gesucht heute«, unterbrach Schwartenmacher.

»Es ist alles so untröstlich«, murmelte Spillecke an seinem Loch im Sarkophag.

Herr Kortüm zählte weiter auf: »Spinnwirtel, Zähne, Ketten, Münzen, Spangen, Spiegel, Sporen, Schwertstücke – und zwar Kisten voll. Es fragt sich nur: wie fängt man mit dem Ausstellen an?«

»Zuerst muß alles genau numeriert werden.«

»Mit Tinte.«

»Ja nicht! Sie müssen sich – wie heißen Sie? Kortüm? – Sie müssen sich Zettel drucken lassen mit der Aufschrift ›Museum Kortüm‹, und darauf schreiben Sie, was Sie denken – besser natürlich, was ein Fachmann denkt.«

Herr Kortüm war sehr befriedigt: »Bitte, Meister, wenden Sie sich wieder Ihrer Arbeit zu.«

Er begann seine Wanderung durch das Gotteshaus von neuem. Teils murmelte er, teils schrieb er in sein Büchlein. So fand ihn Monich, als er von seinem Ausflug in die nähere Umgebung der Marienkirche sehr angeregt zurückkam. Als er seinen Freund wandeln, murmeln und schreiben sah, wurde er ängstlich. Er kannte diese Zeichen erhöhter Geistestätigkeit. Und er kannte, bei Gott, die Folgen.

»Du hast wohl was vor?«

In kurzen scharfen Sätzen umriß Herr Kortüm seinen Museumsplan. Eine solche Sehenswürdigkeit begucken sich auch Einheimische und verspüren nach der Besichtigung Appetit. Sicher werden auch Gelehrte kommen. Bücher werden geschrieben, vielleicht sogar dicke Bücher, denn er habe ja kaum ein ganzes Stück in seinen Kisten. »Und die Reiseführer müssen Hinweise bringen. Du verstehst: es muß etwas geschehen. Das Schottenhaus muß Zugkraft bekommen.«

139 Monich überlegte: »Da scheint nischt passieren zu können. 's kostet auch nischt. Warum denn nich?«

»Aber, Monich, zum Ausstellen brauche ich einen Fachmann.«

»Um Gottes willen! Fachmann!! Kortüm, an Fachleuten sin ganze Familien, an denen sin ganze Länder un Erdteile zugrunde gegangen! Ich habe sogar 'nmal gelesen, daß 'n ganzes Sternbild ausm Himmel rausgeredt worden is. Laß bloß nich so 'n Gutachtenonkel in dein Haus. Der rein un du naus is eins. Der disputiert dir's Leben ab un beweist, daß du gar nich da bist. Das weiß ich doch: nach jedem Brande kommen die un fangen an! Taxieren heißt das bei uns in der Feuerbrangsche.«

Herr Kortüm zog die Augenbrauen hoch, machte einen spitzen Mund, bückte sich nahe an Monichs Gesicht und sagte leise: »Monich, was würdest du aber zum Meister Schwartenmacher sagen?«

»Bloß nich« – aber Herr Kortüm rief bereits: »Meister Schwartenmacher, einen Augenblick!«

Man besprach die Sache, redete lange hin und her, und es zeigte sich, daß der Sargflicker ein sachkundiger, aber ein ordentlicher Mann war. Monichs Bedenken zerstreuten sich. Schwartenmacher war bereit, die Kisten mit den unbrauchbaren Gegenständen, welche den Boden des Schottenhauses ungebührlich einengten, zu entleeren, ihren Inhalt nach Prüfung, Untersuchung, Numerierung und Beschriftung aufzustellen, und zwar ohne Honorar, nur gegen freie Wohnung und Verpflegung.

»Angemessene Verpflegung«, sagte Schwartenmacher mit erhobenem Zeigefinger, »ich habe nämlich gehört, daß Sie zwischen zahlenden und lieben Gästen einen Unterschied machen. Bin ich etwa ein lieber Gast?«

Herr Kortüm lächelte und klopfte ihm auf die Schulter: »Aber lieber Freund, man schädigt doch seinesgleichen nicht.«

»Na, Kortüm«, sagte Monich, »dann gibt's deinesgleichen überhaupt nich auf der Welt. Dich haben se alle geschädigt.«

 


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