Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Diät

Jemand da?« fragte Langloff. Er nahm eilig seinen Hut ab, von dem ein Wasserschwapp stürzte, und gab der Haushälterin den triefenden Schirm.

»Bloß Herr Wingen.«

Langloff wies fragend auf die Sprechzimmertür.

»Nein, er ist fortgegangen. Er will derweile 'n bißchen orgeln.«

»Geben Sie den Schirm wieder her.«

Doktor Langloff stieg von neuem hinein in das Unwetter. Er stand in diesen Tagen vor der wichtigsten Entscheidung seines Lebens. Langloffs Schreibtisch barg zwei Kästen mit Karten: die laufenden Fälle enthielt die Kartei A. Mit O bezeichnete Langloff den Organisationsplan einer Pension mit Diätküche für leidende Fremde. Zwischen diesem A und O bewegten sich Langloffs Erwägungen. Wer überarbeitet ist, erfreut sich in der Regel einer gewissen Wohlhabenheit, die er auf Grund jener Überarbeitung erwarb und nun wieder zur Heilung der Folgen von Überarbeitung braucht, wobei er voll Genugtuung zu sich selber spricht: welch ein Segen ist greifbarer Besitz in Fällen der Not. »Jawohl«, sagte Langloff, »diese Welt ist gerecht im Kerne.«

Auch bei Sonne lag in der kleinen Kirche Bank und Kanzel und Altar in friedlicher Dämmerung. Heute hing der Regen vor die dunklen Glasfenster noch einen schweren Überhang. Auf der Empore oben brannte eine Lampe. Einzelne Akkorde schwebten, brachen ab, klangen wieder auf. Er übt nur, dachte Langloff und ging den Mittelweg entlang. Aber da in der Ecke saß wahrhaftig ein Zuhörer. Erkennen konnte der Doktor den Mann nicht. Vielleicht weiß er nicht, wohin bei dem Regen.

Vorsichtig tappte Langloff die Wendelstiege zur Orgelempore hinauf. Dieser Wingen übte wirklich merkwürdige Musik. Manchmal hörte es ganz auf. Dann klang es wie Vogelruf. Zwei Töne nur, ein hoher und ein tiefer. Ums Pfingstfest ruft der Pirol so, aber weiter draußen im warmen Tal der Goldenen Aue. Auf ein paar Sommerwochen kommt er da zu Besuch, dann reist er wieder in sein tropisches Asyl und ruft die zwei ewigen Töne von Palmen hinaus in die heißen Nächte. Doktor Langloff hatte wirklich keine phantastischen Anwandlungen. Dazu war sein Beruf zu ernst. Aber wie er jetzt die Wendelstiege hochtappte, glaubte er in einem hohlen Baumstamm emporzusteigen, der sich oben, wo das warme Licht funkelt, in tausend 409 Zweigen ausbreitet und sonderbaren Vögeln Unterkunft gibt. Zum Glück die letzte Stufe jetzt – da pfeift wieder der Pirol die zwei Tropentöne. Langloff wollte einen Scherz machen, das Wort blieb ihm in der Kehle: da saß Wingen, hielt den Kopf schief, horchte dem fremden Vogelruf nach. Jetzt hob er langsam seine beiden Arme, die Finger gespreizt – ganz hoch die Arme. Wingen saß wie eine Holzfigur. Totenstille in der Kirche. Man hörte den Regen draußen rauschen. Und jetzt ließ Wingen seine Hände mit den zehn Fingern in die Tasten einbrechen wie Hämmer. Die Orgel brüllte auf – der erschrockene Doktor sah nur die zwei Hände: Sie bewegten sich, nein, sie knäuelten sich, als ob sie die Tasten zerkneten wollten – »laß mich Engeln ähnlich sein, letzte Stunde, brich herein!« Der praktische Arzt wußte nichts von Johann Sebastian Bachs Musik, und noch viel weniger wußte er von Patienten, die diesen Bachschen Schrecken in Augenblicken gotteslästerlicher Angst für nichts als einen Ruf nehmen aus ferner Nacht, den sie halsbrecherisch zu modulieren wagen in ihre eigene Jammersprache. Langloff hatte das Gefühl, daß die ausgetretenen Holzbretter der Empore in der Gewalt der Töne zu zittern begannen. Er tastete sich an der Wand bis zu dem Chorfenster und merkte nicht, wie Staub und Spinneweben seine Hand beschmierten. Er setzte sich auf die Stufe der Fensternische und dachte nicht an seinen feinen schwarzen Rock, in dem er heute Abend noch eine Rede im Diätverein in Jena halten wollte. Sein Auge glitt von den wütenden Händen dieses Organisten langsam zu den zuckenden Schultern hoch, zum Kopf: Wingen hatte ihn weit zurückgelegt und sah angestrengt auf einen festen Punkt, als ob dort etwas anderes gewesen wäre als der gekalkte Schwibbogen über dem Orgelprospekt. Und – jetzt stand Langloff auf und trat näher an die Orgel, noch näher: kann das sein? Der Mann singt. Wingen hatte den Mund offen, die Halsmuskeln waren gespannt, arbeiteten: Wingen sang. Er mußte mit gewaltiger Stimme singen, aber Langloff hörte keinen Laut aus seinem Munde kommen – die dröhnende Orgel schmolz jeden menschlichen Laut in ihre furchtbare Musik hinein.

Nun griff der erschrockene Doktor doch nach Wingens Arm. Wingen ließ die Tasten los – mit eins brach die Musik ab. Die jähe Stille schien noch zermalmender zu dröhnen. Langloff schüttelte die Zeigefinger in den Ohren: »Herr Wingen!« rief er.

Abwesend starrte der Organist ihn an.

»Verstehen Sie, was ich sage?«

410 Wingen schloß einen Augenblick die Augen. Dann sah er Langloff an. Allmählich sah er ihn wirklich, lachte leise auf und schüttelte stumm den Kopf.

»Meinen Patienten besuche ich! Hören Sie? Und ich sage Ihnen: Schluß damit.« Er faßte Wingens Arm fester, zog ihn von der Orgelbank hoch. Wingen wankte. Der Doktor hielt ihn, aber des Organisten Fuß streifte die Pedale. Wie Tierlaute brummten ein paar Dissonanzen auf. Langloff zog Wingen das herausgerissene Halstuch zurecht und sagte: »So. Diese Orgelspielerei, Herr Wingen – nie wieder. Ich habe Ihnen bisher nur eine leibliche Diät verordnet. Davon« – er zeigte auf die Orgelpfeifen – »davon wußte ich nichts. Sie haben geistige Diät nötig. Ein Mann mit Ihrem Herzen hat sich solcher Exaltationen gefälligst zu enthalten. Das kann – ich wollte sagen, das könnten wir sonst eines Tages sehr bedauern müssen. Nun setzen Sie sich erst mal hin. So.«

Langloff drückte den Organisten in den abgeschabten Ledersessel, der den Kantoren der Besenröder Kirche seit Generationen gedient hatte. Tief sank Wingen in das alte Polster und wollte sich zurechtrücken, als Schritte auf der Emporentreppe tappten. Im Halbdunkel tauchte über den Bodenbrettern ein Kopf auf, die ganze Gestalt stieg aus dem hohlen Baum hoch –

»Klaus Schart«, murmelte Wingen, »sieh da. Er selber.«

»Ich habe unten zugehört . . .« Klaus verstummte und sah Wingen groß an. »Ist Ihnen nicht gut?«

Wingen lehnte sich zurück in den Sessel, lächelte ein wenig und wies auf Langloff: »Der Doktor behauptet es.«

»Langloff«, antwortete der Arzt auf Scharts Vorstellung und rieb den Staub von seinem Rock. So fragend ihn Klaus ansah, er konnte in Wingens Gegenwart kein Bild der Krankheitsgeschichte entwerfen und sagte nur: »Sie begleiten ihn wohl nach Hause? Er muß aber noch eine Viertelstunde ruhig sitzen bleiben. Ich kann leider nicht länger warten. Mein Zug geht. Ich halte einen Vortrag in Jena.«

Langloff ging.

»Da bin ich ja zur rechten Stunde erschienen«, sagte Schart, »ich komme vom Bahnhof, will aufs Flügelhaus –«

»Ferien?«

Der Schulmeister nickte: »Ein paar Wochen. Ja, und wie ich an der Kirche vorbeigehe, höre ich Musik. Die Türe war angelehnt – geht's wieder? Jetzt sehn Sie schon viel besser aus!«

411 »Machen Sie keine Umstände, Schart. Ich weiß Bescheid.«

Klaus sagte, was ein junger Mensch in der Verlegenheit eben auf solche Worte zutage bringt: von Wingens Krankheit hätte er wohl gehört, aber gedacht . . . er kam nicht recht weiter.

Wingen streckte die Beine von sich und lehnte den Kopf ans Polster. Dabei sah er Klaus an und sagte unvermittelt: »Schart – Sie schreiben jetzt?«

Klaus war wieder verlegen.

»Bücher?« fragte Wingen.

Die Antwort war so gewunden, daß über Wingens Gesicht ein flüchtiges Lächeln flog: »Das erste Buch, ja . . . Eine Frage. Aber die Wahrheit! Ich lüge auch nicht mehr. Warum schreiben Sie?«

Der Schulmeister starrte den kranken Mann an. Schließlich brachte er heraus: »Warum regnet es?«

Lächelnd nickte Wingen langsam mit dem Kopfe: »Ja, warum. Weil das Barometer fällt. Worte . . . eine unergründliche Sache, dieses ewige Fallen . . . von Wort zu Wort . . . bis ins Leben.«

Der Regen draußen mußte zugenommen haben. Oder Langloff hatte die Tür nicht eingeklinkt. Das ebenmäßige Wasserrauschen war eine tief beruhigende Musik.

»Ich wollte«, sagte Klaus, »ich könnte das Leben sehen, da, unter den Worten. Aber es ist schwer zu erkennen –«

»– und trägt doch Ihren Namen.«

Klaus sah ihn fragend an. Wingen nickte: »Meins heißt Friedrich Wingen. Dem sein's da oben hinterm Berge heißt Kortüm. Ihres heißt Schart.« Wingen richtete sich plötzlich auf: »Oder wissen Sie's anders?«

Klaus Schart hatte wohl von Wingens Krankheit gehört. Aber daß der Mann krank war auf Tod und Leben, das wußte der eben erst im Schottengelände Angekommene auch jetzt noch nicht. Es war Klaus zu verzeihen, daß er den überhöhten Augenpunkt Wingens nicht gleich fand und mit dem Seufzer antwortete: »Wenn ich den Namen hätte, der das Leben trägt! Kein Mensch kennt mich. Wie komme ich zu Namen, Wingen . . .«

Der Kranke, der wenigstens eine Viertelstunde ruhen sollte, stand mit einem Ruck auf, ging hin und her und sagte dabei: »Weiß Gott, Schart, jetzt haben Sie mir eine Freude gemacht. Eine richtige Freude, mit Ihrer blöden Frage, Schart! Ich fühle zum ersten Male wieder, daß ich was wert bin – nein, seien Sie still! Man lebt also noch! 412 Man kann etwas tun. Ja. Ich will Ihnen handfest helfen, mein Lieber. Wie man zu Namen kommt? Wer so fragt, dem kann nur so geantwortet werden: indem man Verbindungen knüpft, he? Oder: die Persönlichkeit einsetzt, wie das anstandshalber manchmal ausgedrückt wird . . .«

Wingen stand jetzt still vor dem Schulmeister. Gerade hinter dem Organisten sah Klaus, der auf der Holzstufe vor der Orgel saß, in der gotischen Glasfensterrose ein paar glühende Farben funkeln.

»Ich habe das getan, Schart. Kam ich hier nicht vorwärts, versuchte ich's dort, wo jemand saß, der einen kannte, welcher die Stelle wußte, die helfen konnte – auf anderer Kosten. Verschlungene Pfade. Kulissenwege nennt man das, ja? Meine halbe Lebenskraft habe ich zugebracht auf Nebenwegen. Rechne die vertrödelte Schaffenszeit nach. Aber die verlorne Kraft und Zeit ist es ja gar nicht. Paß gut auf, Schart. Ich bin nicht dumm genug, um nicht zu sehn, daß auch anständige Leute hinter Kulissen rumgehen müssen. Vielleicht nicht einmal um ihrer selbst willen: tatsächlich, die Sache selber kann zuweilen Labyrinthengänge fordern. Jeder mag das tun. Alle. Bis auf einen: bis auf dich, Schart – wenn du das Verschwemmte um dich herum dichten willst. Du verletzt die Dichtkraft. Andre überleben es. Du bist ein Schwindler geworden. Die anderen nicht. Aber du. Und bist du etwa schon drin in der Herumgeherei, reiß dich raus. Ich weiß, das tut weh. Es reißt viel Gutes mit ab. Laß es reißen. Die Leute werden sagen, es sei kein Verlaß auf dich. Laß sie's sagen. Das ist ein Übergang. Hältst du's aus, kommt die Stunde, in der sie dich messen müssen an dem, was du herausgestellt hast aus dir und nun dasteht als dein Du. Aber ich rede damit nicht von deinem Namenstag, von deinem Rühmchen, mein Junge, einem zeitlichen oder sogenannten ewigen. Das ist Unsinn. Wie das Volk vor tausend Jahren gesprochen hat, versteht das Volk heute nicht mehr. Wer weiß, wie in tausend Jahren Liebe heißt oder was sie sagen für das, was wir heute mit Ruhm meinen oder mit – Schart. Nimm keine falsche Münze. Sonst gibst du falsche Münze aus. Alles was hier erreicht werden kann, ist das: einmal sich zu erleben als das Ganze. Um dich hat es gelebt, lebt es, wird es leben: und du warst in einer Gottesstunde – sie alle. Das kann dir keiner verleihen oder bescheinigen. Das kannst nur du wissen und in dir haben. Und das ist deine Ewigkeit. Die Menschen zwingen dich nicht zu dem, was du tun willst. Wenn dich aber etwas anderes zwingt, so ist es ratsam, dem zu gehorchen, das dich gezwungen hat. 413 Zwischen diesen zwei Sätzen ist nicht Raum für ein einziges Wort mehr.«

Wenn Herr Kortüm das gehört hätte oder ein um zwanzig Jahre älterer Klaus Schart, so wäre der erschrocken: kann einer so reden, der das Werkzeug noch in der Hand hält? Der junge Klaus Schart aber griff nach Wingens Hand: »Ich sitze in dem Nest dahinten an der Hörsel, kein Mann, mit dem ich reden könnte –«

Wingen steckte seine Hand in die Hosentasche: »Mit einem Mann? Auf diese Sprache hören nur tote Männer – und, manchmal, lebende Frauen.«

»Wingen!«

»Halt 's Maul. Dreh 's Licht aus. Komm. Hilf mir diese miserable Treppe hinunter.«

 


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