Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Die letzte Ehre

Wie der Pfarrer auf die Kanzel gekommen ist, konnte er später niemandem sagen. Aber er stand oben, hielt sich an der Brüstung fest und fühlte mit geschlossenen Augen, daß die entsetzte Gemeinde ihn ansah und wartete. Seine Predigt? Der Spruch vom heutigen fünften Sonntage nach Trinitatis war ihm ganz aus dem Gedächtnis 450 geschlagen. Er dachte nichts, hörte noch immer auf den großen Dominantakkord, für den kein irdisches C-Dur reichte zur Auflösung. Er öffnete die Augen, sah die Gesichter seiner Herde und hob die Hand. Der Pfarrer sprach über das Thema: Wir haben einen Menschen zu Gott gehen hören.

Mancher von diesen Ohrenzeugen in der Kirche hatte im Kriege an den Fronten gelegen und glaubte, das wüste Gröhlen des Todes gut zu kennen. Daß aber Sterben eine Melodie haben kann, das war ihnen aufgegangen an diesem fünften Sonntag nach Trinitatis. Musikanten waren sie nicht. Der unfaßbaren Fuge hatten sie nicht folgen können. Nur wie der Tod überhaupt klang, das wußten sie und hörten den majestätischen Widerhall bis an den letzten ihrer Tage.

Der alte Kantor war schlimmer dran. Der hatte Musizieren gelernt. Ihn quälte von diesem fünften Trinitatissonntage an die Sorge vor dem endgültigen Verhallen jener Töne. Das Briefblatt auf dem Notenhalter, das Wingen hinterlassen hatte, bot keinen Anhalt. Da stand keine Note drauf. Niemals hatte der Kantor dieses strahlende Hinschreiten einer Musik vernommen, nie dieses letzte Hinaufstoßen in einen endlosen furchtbaren Dominantakkord.

Tage und Nächte saß der alte Mann und tastete auf dem Notenpapier nach Wingens C-Dur. Er schrieb Akkorde, schlug sie auf dem Klavier an, horchte sie auf der Orgel ab. Aber der Klang wollte nicht heraus aus stählernen Saiten und Rohren von Zinn und Holz.

Es verging viel Zeit, ehe der Kantor sich wieder in seinem Stuhl am Fenster zusammenrücken und durch die Tabakwolken in den kleinen Garten hinterm Kantorhaus sinnieren konnte: »Was sie da in den Konzertsälen aufführen und was die Meister von Namen sich ermusizieren können – ich habe mehr gehört. Ich, der alte Kantor von Besenroda. Mein Vater war Stellmacher und meine Mutter Tagelöhnerin – ich bin der einzige lebende Musikant, der Musik von drüben gehört hat. Ja, wenn das auf der Empore da oben losgebrochen wäre vor zweithalbhundert Jahren und mein großer Kollege von der Thomaskirche hätte den Sturz aufgehalten in seinen Armen, da wäre vielleicht ein Schimmer davon über der Erde geblieben. Ich find's nicht wieder. Aber vielleicht ist zwischen den fünf Notenlinien gar kein Platz dafür. Und 's ist vielleicht besser so . . .«

Wer damals in Besenroda miterlebt hat, wie dieses Dominantenspiel des Todes, Gottes einfallsreichsten Dieners mit seinen heute graziösen, morgen geistvollen, dann wieder bärenplump dummen 451 Tanzschritten, ein Leben beendete, der mochte dem Kantor wohl zustimmen: 's ist vielleicht besser so. Die Besenröder hatten alle eben noch dagesessen und wichtig getan, und plötzlich hatte einer den andern im Phosphorlicht von der anderen Seite gesehen. Den alten Kantor hatte der Tod mit dem elfenbeinernen Taktstöckchen gestreift. Der kalte Luftzug, den der dirigierende große Herr auf der Empore machte, hatte dem Pastor den Predigttext auf der Kanzel verblättert. Die Gemeinde wollte nun ihren Schrecken dahin tragen, wo er hingehörte; aber Frau Lotte war am Tage des Dominantenspiels nicht in der Kirche gewesen, und sie blieb für die Teilnahme auch unsichtbar bis zum Tage des Begräbnisses. Wer durchaus mehr wissen wollte, als Wingen auf der Orgel selber mitgeteilt hatte, mußte sehen, daß er Doktor Langloff gelegentlich auf der Straße traf. Die Umgebung, das ganze Land horchte auf bei der Nachricht von diesem Sterben eines Organisten an Ort und Stelle. Wer Wingen gekannt hatte, trauerte um ihn. Auf einen aber wirkte Wingens Ende absonderlich, ja befremdend: auf den Herrn Kortüm.

Herr Kortüm nämlich trauerte vorläufig nicht. Er befleißigte sich keineswegs der üblichen leidtragenden Gebärden: Herr Kortüm nahm eine drohende Haltung an. Besenroda und Umgebung konnte ihre Mißbilligung nicht unterdrücken angesichts dieser Gefühllosigkeit: »Da habt Ihr'n, wie er wirklich is!«

Sie hatten ihn nicht, wie sie ihn nie gehabt hatten: Kortüm mußte handeln, um leben zu können. Und er hatte zu handeln begonnen! Weitsichtig und planvoll! Des kranken Organisten und seine eigenen Interessen erwiesen sich Kortüm als gleichlaufend. Der Kranke brauchte Ruhe. Kortüm brauchte einen Gast. Einen wirklichen Gast. Nicht einen, der bezahlte, sondern der die Kunst verstand, Gast zu sein. Was da nach Zimmernummern geordnet auf dem Flügelhaus wohnte, war Geschäft. Und die Anderen? Windhebel war wenig zu sehen. Er arbeitete an seinem Buch. Repshagen schwieg sich von Bouteille zu Bouteille. Der Film war endgültig fort. Die beiden alten Damen – die gingen um neun zu Bett. Konstanze reiste in der Welt herum. Und was dieser Schart dauernd in Weimar zu suchen hatte, wußte der Teufel. Wingen! Einer von den Gästen der »Silbernen Windfahne«!

So redete Kortüm vor sich hin, weil ihm als einem verantwortlichen kühlen Geschäftsmann genierlich war einzugestehen, daß er einem so braven Mädchen wie Lotte den Mann wieder reparieren wollte. Mit Wingen hatte er sich immer gehäkelt, aber Lotte – da wollte er schon 452 das seinige tun, ja ja. Und nun? Wer, wer hatte ihm diesen Mann vor den Augen zu Tode gebracht? Kortüm suchte den Schuldigen.

Zuvörderst verdächtigte er die halbe Provinz. Den alten Albrechts sagte er nach, sie hätten dem Mann nicht die nötige Ruhe im Haus gelassen. Kortüm sprach schlecht von Kantoren, Pastoren, von der ganzen Kirchgemeinde. Er beschimpfte den Apothekerstand samt Chemie und chemischer Fabrik. Er wollte sogar fragen, warum Lotte ihren Mann nicht aufs Flügelhaus geschickt hätte – verschluckte es aber und begann von neuem: »Monich! Sitze nicht da wie ein Sack, der sich nicht regt! Habe ich das Unglück nicht längst prophezeit?! So tu doch den Mund auf, Monich! Habe ich's nicht vorausgesagt? Ein Schiffsarzt! Ah, dieser verlobte Hackemann! Er hat Wingen umgebracht, er wird mich umbringen, dich wird er umbringen, uns alle wird er – was?! Ich soll das nicht sagen? Du willst mir verbieten, in meinem Hause zu reden?! Ein Schiffsarzt! Und eine Diätköchin! Du wirst noch an mich denken, wenn du umgebracht bist, Monich!«

Als nun aber Herr Kortüm von Klaus Schart erfuhr, was Wingen vor seinem Tode von Amts wegen hatte durchleiden müssen, da geriet er außer sich.

Es war nicht mehr rätlich, in Herrn Kortüms Nähe zu kommen.

Als ihm der neue Kellner um vier Uhr den Tee brachte, Herr Kortüm den Kannendeckel hob, den Tee ansah und die ausgelaugten Teeblätter in dem Absud schwimmen sah, nahm er das Tablett samt Kanne und Tasse, schmetterte es dem entsetzten Mann vor die Füße und schrie ihn an: »Sie sind auch ein Kerl, der den Leuten ›Wohl bekomm's‹ sagt und sie dann mit Teïn unter die Erde bringt! Wissen Sie überhaupt, was Teïn ist?! Nichts wissen Sie Rindvieh!!«

Der Kellner stand zunächst starr, dann ergriff er die Flucht und kündigte diese Stelle noch in der gleichen Nacht.

Am Morgen des Begräbnistages erstieg Herr Kortüm den Lohberggipfel, um sich etwas zu sammeln. Er befand sich schon in Trauerkleidung. Höchst unzufrieden betrachtete er die steinerne Nadel: »Dies sehe einer an! Unten ist sie dick und oben dünn. Da hinauf zeigt sie nun.« Herr Kortüm erwog, den Unsinn wieder einreißen zu lassen und neu aufzubauen: oben dick und unten dünn. Kortüm ahnte nicht, daß er mit dieser Erwägung eins der tiefsten Bauprobleme aus uralten Zeiten wieder aufnahm. Damals hielten die Menschen ebenfalls nach oben verdickte Säulen für wahre Säulen. Erfreulicherweise 453 verhinderten die kommenden ernsten Ereignisse die Ausführung dieser Absicht, sonst gäbe es außer Kortümgeld, Kortümmenschen, Kortümwegen, Kortümuhren auch noch Kortümsäulen. In diesem Augenblick aber war die Sache dem Herrn in Trauerkleidung auf dem Lohberggipfel ernst. »Da hinunter soll sie zeigen«, sprach er grimmig. Der Entschluß zum Handeln erleichterte sein Herz. Er wandte das Auge der Landschaft zu, die er so liebte, nahm den Zylinder ab, stülpte den hohen Hut auf die steinerne Nadel, sah sich nochmals ringsum die Erde an und sprach: »Ja. Da liegst du: mit Bäumen und Büschen besetzt, mit Gras bemäntelt und mit Blumen aufgetakelt, alte Jungfer. Läßt dich von der Sonne bescheinen, Wolken am Kapotthut und drehst dich im Kreise – und innen drin? Voll, ich sage: voll von Gebein. Dick, rund und gefräßig. Oben piepsen die sogenannten gefiederten Sänger, und innen drin schmatzen Würmer. Aber die sind stumm. Man hält auf Anstand: ja, wer so was in sich hat, muß auf angenehmes Äußere halten. Feuer soll sie in sich haben. Feuer, sagt Doktor Windhebel. Der hat dich noch nicht gefühlt.« Wuchtig setzte sich Herr Kortüm seinen Zylinder wieder auf.

Nach dieser vorläufig ersten Grabrede gönnte Herr Kortüm der Erde keinen weiteren Blick, schritt den Waldpfad, dann die schlechte Straße hinab, ging zornig durch die Ortschaft Besenroda und betrat den Friedhof. Der Gottesacker war klein, Kortüm sah die Trauergesellschaft am Ende des Mittelweges bereits versammelt. Langsam ging er den Weg entlang . . . oh – Lotte. Unbeweglich stand die schlanke große Frau. Herr Kortüm grüßte sie ehrerbietig. Da schien es, als ob ein Schüttern durch ihren Körper ginge. Die Besenröder sahen scharf hin – nein, sie stand schwarz und verschleiert und ohne Bewegung. Herr Kortüm stellte sich so, daß er dem Doktor Langloff den vollen Rücken zukehrte. Wenn er aber glaubte, sich damit einen einigermaßen erträglichen Anblick gesichert zu haben, täuschte sich Kortüm. Ihm gegenüber standen vier fremde Herren. Wer die seien?

»Der Orgelausschuß«, flüsterte Klaus, »der zweite von links ist Lobedanz.«

Kortüm riß die Augen auf. Er suchte die Figur des Lobedanz von unten bis oben mit den Augen ab und dann wieder von oben bis zu den schwarzen Schnürstiefeln. Dann kamen Kortüms Augen wieder im Gesicht des Vorstehers an. Er starrte ihm in den Mund, der beim Singen weit offen stand. Mit schallender Stimme sang der musikalisch nicht unbegabte Lobedanz den Choral »Jesus meine Zuversicht«. 454 Kortüm wurde blaß. Auch sein Mund fing an sich zu bewegen. Aber nicht zum Singen. Er sprach unhörbar vor sich hin. Besorgt betrachtete Monich seinen Freund Kortüm und kam während der Feier gar nicht zur Sammlung: Der macht sich eine Ansprache zurecht, lieber Gott, wenn er bloß nicht am Grabe redet. Da schnappt er nach Luft. Barmherziger, der redt . . .

Aber die Feier ging ohne Sonderansprache vorüber. Die Schulkinder sangen »Wie sie so sanft ruhn«. Kortüm preßte den Mund zusammen. Sanft? Ja . . . und sein Auge suchte Lotte. Aber auch die Arie ging vorüber. Die Trauergäste traten zu Lotte, drückten ihr die Hand. Monich atmete auf. Schon begannen die Leidtragenden still auseinander zu gehen. Herr Kortüm wendete sich noch einmal um: vielleicht gab es sich, daß er Lotte seine Begleitung anbieten mußte. Der letzte Leidtragende trat zu Lotte: Lobedanz. Er streckte ihr seine schwarzbehandschuhten Hände entgegen. Kortüm sah diesen Handschlag. Lobedanz wollte nun ebenfalls still den Friedhof verlassen. Herr Kortüm trat ihm in den Weg. Der Vorsteher kannte den imponierenden Herrn nicht – eine Amtsperson wohl, aus Weimar vielleicht.

Herr Kortüm winkte Lobedanz durch Heben des Kinnes etwas näher an sich. Lobedanz trat verwundert und neugierig einen Schritt heran. Kortüms Stimme zitterte etwas: »Sie sind« – er mußte sich räuspern, sein Ton klang belegt – »Sie sind der Vorsteher?«

»Lobedanz ist mein Name.«

Herr Kortüm trat näher an den kleinen Herrn heran – er war fast noch einmal so groß: »Sie haben der Witwe die Hand gedrückt?« Er zeigte dabei aber auf den Erdwall, den die Schippe des Totengräbers abzufressen begann. Lobedanz gab durch Heben der Schultern und Seitwärtsneigen des Kopfes seiner Teilnahme Ausdruck – im übrigen mußte er jetzt zum Bahnhof. Außer dem fremden Herrn und ihm befand sich nur noch der Totengräber am Platz. Aber der war in die Grube gestiegen und stach Erdreich ab. Kortüm bemerkte Lobedanz' Blick nach dem Friedhofstor, er nickte: »Das kann ich mir denken«, und trat Lobedanz abermals näher, damit der ihn verstand, denn Kortüm sprach gar nicht laut. Ängstlich sah sich der Vorsteher beim abermaligen Zurücktreten um – es hatte sich gemacht, daß er dem Erdwall, hinter dem Wingen lag, immer näher kam.

»Ich hörte Sie ›Jesus meine Zuversicht‹ singen.«

Fragend blickte Lobedanz den großen Herrn an.

»Sie haben eine schöne Stimme«, sprach Herr Kortüm weiter.

455 »Man singt, wie man kann«, er klopfte sich auf die Brust. »Wenn's von innen kommt . . .«

»Von innen. Wo die Zuversicht sitzt. Aha. Sie glauben zuversichtlich an die göttliche Gerechtigkeit in dieser Lausewelt?« Kortüm war plötzlich bis in die Lippen blaß geworden. »Ja?!«

Ratlos starrte ihn Lobedanz an.

»Es ist bei Gott eine schöne Zuversicht, deren Sie sich erfreuen, Herr Vorsteher. Wenn der da« – er zeigte auf das Grab und trat dicht an Lobedanz heran, ohne zu bemerken, daß sein verblüffter Zuhörer schon mit den Absätzen am Lehmrand stand – »wenn der da nicht so tot wäre, wie Sie lebendig, möchte ich fast Ihrer soeben geäußerten Ansicht beitreten.« Gänzlich verdonnert stand, nein: balancierte der Vorsteher an dem Rande der Grube und sah hinauf zu dem Herrn, der wahrscheinlich eine Amtsperson war und jedes Wort langsam mit diplomatischer Exaktheit aussprach: »So wie die Dinge aber wirklich liegen, bleibt uns nichts übrig, als außer den sonstigen Tagespflichten auch noch die doppelte Buchführung über die Untaten der Nullen auf sich zu nehmen, mit denen die Vorsehung unsereinen zu allem übrigen behelligt. Sie halten die Nullenchronik für Zeitverschwendung? Oh, Not, Unglück, Lebensangst, Armut – das alles kann eine gewöhnliche Null durch ihr bloßes Vorhandensein verzehnfachen. Sie haben es gekonnt. Und das muß von Zeit zu Zeit korrigiert werden. Nicht für uns. Aber wir wollen doch dagewesen sein, um denen, die nach uns kommen, das Dasein leichter zu machen. Verstehen Sie, was ich sage, Herr Lobedanz?«

»Herr, Herr –«

»Ganz recht. Wenn ich einmal nicht mehr genötigt bin, auf Friedhöfen zu reden statt wie der da andre reden zu lassen, dann wird man meine Buchführung nachlesen. Auch Sie werden darin eine Position einnehmen, Herr Lobedanz. Ängstigen Sie sich nicht. Dann sind Sie ja auch längst hier untergekrochen.« Kortüm wies auf den braunen Erdhaufen. »Aber um dem Leben seinen Sinn zu lassen, ist Gerechtigkeit vonnöten. Die Sterne am Himmel können da oben auch nicht herumreisen, wie's ihnen paßt. Man muß die große Ordnung fühlen. Wie ist Ihr Vorname? Willy?« Herr Kortüm notierte. »Der Name Willy Lobedanz soll kommenden Geschlechtern eine Warnung sein. Gott, so viel ich sehe, wohl nicht – die Sonne trotz des bekannten Verses auch nicht: nur der Mensch bringt den Menschen an den Tag. Gehen Sie jetzt, Lobedanz.«

456 Herr Kortüm trat zur Seite. Der Vorsteher sprang von dem Abgrund weg auf festes Land, wollte reden – aber die Gedanken überstürzten sich. Auch etwas Ähnliches war ihm nie begegnet. Der große Herr schrieb, er beachtete Lobedanz gar nicht, schrieb. Der Vorsteher wich ein paar Schritte zurück. Zeugen, sagte er sich, Zeugen. Ja – wo auf einem leeren Friedhof Zeugen hernehmen! Hier bezeugte niemand mehr etwas. Doch, der Totengräber. Der Kerl schippte stumpfsinnig. Ob er überhaupt etwas gehört hatte? Und dann mußte Lobedanz an dem großen Herrn vorbei, wenn er an das Grab wollte. Rechtsanwalt . . . Ja! So schnell er konnte, eilte Lobedanz dem Ausgang des Friedhofes zu. Am Tor stand er plötzlich still: was aber hilft ein Rechtsanwalt ohne Zeugen? Er blickte noch einmal nach Kortüm hin. Der steckte eben sein Notizbuch ein, sah auf. Lobedanz verschwand.

Herr Kortüm zog jetzt statt des Notizbuches die Zigarrentasche heraus. Ahh . . . er fühlte sich wieder Mensch. Gemächlich nahm er Platz auf einer benachbarten Grabplatte, schnitt sorgfältig der Brasil die Spitze ab, zündete die Zigarre an, stellte den Zylinder auf den gemeißelten Palmenzweig und sah behaglich dem Totengräber zu.

Bis jetzt hatte der Brave fleißig geschippt. Nun hob er hin und wieder den Kopf. Endlich richtete er sich ganz auf, schnupperte in der Luft, sah sich um und gewahrte erstaunt einen mit Genuß rauchenden Herrn in Trauerkleidung, der mit dem Gehstock lächelnd Figuren in den Sand malte.

Der Totengräber schnüffelte vernehmlich.

Herr Kortüm hörte es, fühlte den Blick, entnahm, ohne aufzusehen, der Tasche eine Zigarre, reichte sie dem fleißigen Arbeiter und schrieb weiter in den Sand.

Der Totengräber roch an dem Tabak: »Alle Wetter. Schönen Dank auch, Herr. So eine rauch ich aber erst nach der Arbeit.«

»Ich rauche auch grundsätzlich nur nach der Arbeit«, sprach Herr Kortüm und blies ein blaues Wölkchen über Wingens Grab.

 


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