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Klaus Schart, Schulmeister von Beruf, wohnhaft in Hörsel, einem abgelegenen Dorfe hinter dem Wald hinter Eisenach, drückte auf den Klingelknopf, über dem ein Messingschild den Namen der sehr berühmten und schönen Konstanze Schröter trug. Gewiß war er ein wenig befangen, denn der Druck auf Klingelknöpfe anderer Leute erzeugt fast mit der Zuverlässigkeit eines Naturgesetzes im Leib des Angreifers ein Vakuum. Aber hatte Konstanze Schröter den Hörseler Schulmeister zu Tisch geladen? Schart hatte sie eingeladen, jawohl, vielleicht sogar Klaus, jedenfalls den Verfasser des Richtfestspruches zur Einweihung des Flügelhauses. Allerdings führte Klaus jenes Gedicht jetzt nicht bei sich. Der Schluß, den Konstanze nun endlich hören wollte, war ihm immer noch nicht gelungen. Dafür brachte Klaus einen Strauß roter Rosen mit, welche indes, häufigeren Vorkommens halber, bei jungen und schönen Schauspielerinnen nicht so hoch in Gunst stehen wie gute Dichtung.
Als Klaus nun in Konstanzes Empfangszimmer stand, auf die Herrin des Hauses wartete und sich rasch ein wenig umsah, war er auf sich selber angewiesen. Der Rosenstrauß half ihm nicht, wenn er sich sagte, daß er nichts war als eben Klaus Schart, der sich herausnahm, eine Frau zu lieben, die in solchen Gemächern wohnte. Scheu glitt sein Auge über die Sessel, Tische und Teppiche. Er wickelte die Rosen aus dem Seidenpapier. In seiner Stube in Hörsel sah es anders aus . . .
473 Dafür – er richtete sich auf, und wenn es Konstanze gesehen hätte, würde sie ihm zugenickt haben – dafür war an diesem Tisch aus Rosenholz nicht ein Richtfestgedicht geschrieben worden wie auf dem kiefernen Pult in der geweißten Stube hinterm Wald hinter Eisenach. Nur, wie gesagt, er hatte das vollendete Werk leider nicht zur Hand. Im Augenblick konnte er Konstanze nichts weiter als sich zur Verfügung stellen, sich und ein paar Blumen.
Sie trat ein.
Daß sie die Rosen schön fand, war zu erwarten gewesen. Daß sie jetzt aber von den Rosen ohne weiteres auf Arbeit zu sprechen kam, das hatte Klaus nicht voraussehen können. Aber er kam schon nach wenigen Monaten dahinter, daß in großen Schauspielern dieser Gedanke vor allen Gedanken lebt: gebt mir die Rolle, die nur für mich erdacht ist, aus mir erlebt, mir auf den Leib geschrieben. Von dem schönen Frauenleib, dem ein Gedicht zu schreiben sicherlich sehr großer Meister würdig war, hätte Klaus gerne gesprochen. Jedoch Konstanze blieb bei der Rolle. Diese Wendung gefiel ihm nicht.
»Ich glaube, Sie sind faul!« rief Konstanze.
Oh, dachte Klaus, so nicht. Er saß in dem Sessel ihr gegenüber am Kamin, lässig, als brauche er nur in den Schatz seines Geistes zu greifen und mit beiden Händen Rollen herauszuziehen, Rollen! Aber Konstanze wußte, daß man nicht nur etwas sein, sondern allerlei gelernt haben muß, um eine Rolle hinstellen zu können, und sagte das in hörenswerten Worten. Klaus hatte jedoch nicht auf den Klingelknopf gedrückt und das peinliche Vakuum tapfer überwunden, um hier zu lernen.
Es beliebte ihm daher zu sagen: »Ein Schauspiel zu schreiben, hat heute wenig Sinn. Das Theater war nie so gut. Wir leben in einer Zeit des Schauspielers« – er sah das milde gedämpfte Licht auf ihrem dunklen Haar glänzen – »nicht des Dichters«, schloß er seinen Satz.
»Also des dramatischen Dichters, haben Sie wahrscheinlich sagen wollen!«
»Des Schauspielers«, sprach Klaus hartnäckig – wer ist hier Herr, nun, nicht Herr aber: wer ist hier Mann im Hause – »das dramatische Gedicht wird heute vom Schauspieler gemessen an der Tiefe des Lebensraumes, den es dem – Schauspieler gibt.«
Dies an dieser Stelle vor diesen Ohren gesagt, war nun sozusagen eine Unverschämtheit. Konstanze sah ihn ganz verblüfft an: »Und wann war das jemals anders, hochverehrter Mann?«
474 »Als«, sagte Klaus trotzig, »der Schauspieler und das gedichtete Wort noch vor dem Theaterbesucher standen. Jetzt lebt das Publikum in den Vorstellungen der Filmwirklichkeit – nicht der Lebenswirklichkeit. Wie soll auch eine ungeheuer in die Breite wirkende Gewalt wie der Tonfilm, der doch scheinbar das wirkliche Leben packt, spurlos an der Bühne vorübergehen. Das Schaupublikum braucht nicht mehr den großen Dichter, sondern den großen Regisseur. Und der Regisseur braucht außer dem Schauspieler einen anständigen Text, mit dessen Hilfe er das Schauspiel optisch in Gang bringt. Da es insgesamt nur sechs oder sieben Handlungsmöglichkeiten überhaupt gibt und diese in den dramatischen Büros der Filmgesellschaften täglich an den Hauptdarstellern und Spielabsichten auf ihren Sitz geprüft werden, ist es wahrscheinlich sinnvoll, hier gutes Handwerk zu leisten und von ihm zu existieren, damit die Phantasie leben und die Stöße des wirklichen Lebens aufnehmen kann, aus dem eine neue Epik zu erschaffen ist. Epochales Schicksal.«
Konstanze sah vor sich hin und nickte: »Die Wirklichkeit ist das Schicksal.«
»Nur war seinerzeit ihre Gestaltung zu erleben in einem gegebenen Bühnenausschnitt, einem ruhenden, festen, sicheren: also in einer Form. Jetzt ist das Auge der Kamera – und damit das Auge des Publikums – beweglich geworden und sucht, was es braucht, dort, wo es annähernd paßt: für die Dichtung kein geringerer Einschnitt als Kopernikus' Umkehrung aller Dinge.«
»Wenn ich jetzt die Augen zumache, könnte ich denken, ein alter Herr murmelt mir Weisheit vor.«
»Lassen Sie die Augen zu« – aufatmend erhob sich Klaus.
»Es ist angerichtet«, meldete das Mädchen und schob die breite Tür zum Speisezimmer auf.
Bei Tisch, zwischen Tellern und Gläsern eingeklemmt und in Erwartung, jeden Augenblick die Bedienung eintreten zu sehen, kann natürlich auch der entschlossenste Verliebte nicht von sich reden. Vom Schottengelände sprach man. Das gehörte ja ihnen beiden. Ein Ereignis freilich, das dort eingebrochen und durch alle Zeitungen gelaufen war, berührte Klaus nicht. Daß Konstanze um Wingens Tod wußte, sah er, wenn sie beim Aufklingen der Worte Ilm, Besenroda, Flügelhaus Brot zerkrümelte und zerstreut auf dem Tischtuch hin und herschob. Sie hatte Wingen einmal geliebt . . . Das Gespräch stockte. Klaus mußte sich Mühe geben, Konstanze zum Bewußtsein seiner 475 Anwesenheit zu bringen. Von Herrn Kortüm soll man reden, dachte er und erzählte von Kortüms neuesten Sorgen und wie er ihnen zu Leibe ging.
»Jetzt hat Lotte Wingen die Stellung als Wirtschafterin auf dem Flügelhaus. Sie scheint nicht schlecht aufzuräumen.«
»Wer?« fragte Konstanze erschreckt. Klaus antwortete nicht sofort. »Ich meine«, sagte Konstanze, »wo wohnt sie?«
»Auf dem Flügelhaus.«
»Für immer?«
»Sie ist in Stellung bei Herrn Kortüm.«
»Hat sie nicht Kinder?«
»Die wohnen auch mit oben.«
»Auf dem Flügelhaus?«
»Im Ostflügel, glaube ich. In einem Dachzimmer.«
Nun wurde Konstanze erst recht einsilbig. Eben hatte sie sagen wollen: übermorgen fahre ich für eine Woche aufs Flügelhaus. Sie schwieg. Klaus hatte es wieder schlecht getroffen. Konstanze dachte nun beinahe wie der Bälgetreter Wenzel und der Gastwirt Kortüm: Wingen könnte heute noch leben. Wenzel beschuldigte unter vier Augen Knackfuß, Kortüm gab vor sämtlichen Ohren dem Vorsteher Lobedanz, dem Doktor, der Kirchgemeinde, der halben Provinz die Schuld. Konstanze öffnete den Mund nicht, sagte auch später nie ein Wort – aber leben, das hieß für sie Gestalt machen aus Liebe. Kaum mit Lotte verheiratet, hatte Wingen aufgehört, Leben zu erfinden in seinen Theaterstücken. Er hatte gemerkt, wie süß es ist, so sich zu verwirklichen: selber zu leben. Konstanze empfand fast körperlichen Schmerz bei dem Gedanken: was ist darüber aus ihm geworden? Ein Organist – ein Mann, der ein Instrument spielt, das ihm nicht gehört. Ein abhängiger Mann, dem ein Amt, ein Vorgesetzter das Instrument zuschlagen konnte. Und zuallerletzt war Wingen daran gestorben! Die Tage ihrer Liebe zu Wingen waren längst versunken, die Erinnerung an jene Liebe hatte sie längst überspielt auf den Brettern. Nun konnte sie nicht mehr sehen, daß jede Frau nehmend gibt, und heute wollte sie nicht sehen, was Lotte ihrem Mann an Leben gegeben hatte für das, was sie ihm verdeckte.
Verstohlen blickte Klaus die stumme schöne Frau neben sich an. Die gefährlichste Eifersucht regte sich in ihm, die Eifersucht auf einen Unüberwindlichen: auf einen Toten. Aber Konstanze lächelte melancholisch vor sich hin. Sie dachte eben nicht an Wingen, nicht an Klaus: Herrn 476 Kortüm sah sie. Sie sah den Mann vor sich stehen und tief erstaunt sein Kinn reiben. Ja, auf Kortüms Webstuhl hatten sich alle diese vielen Fäden zu einem schweren Trauerkleid verwebt. Und Kortüm müßte nicht Kortüm gewesen sein, wenn er nun nicht von oben mit einer großartigen Handbewegung das unheimlich fleißige Weberschiffchen angehalten und ihm eine neue Bewegung vorgeschrieben hätte – wie es einem Manne, der die Menschen kennt, wohl ansteht: er brachte die beraubte Lotte unter Dach und in vier Wände, half in großer Weisheit ihr und sich damit zugleich, wie das so seine Gewohnheit war, und – schloß Konstanze Schröter aus seinem Haus. Das hatte der Webmeister nicht bedacht. Lotte und Konstanze – Leinen und Seide können wohl leichter verwebt werden, als zwei Frauen zusammengeführt an der Domtür zu Worms, deren eine mit Freuden gewann, was die andre mit Schmerzen verlor. Konstanze lächelte traurig vor sich hin, oh, sie hörte ihn: sie besucht mich nicht mehr? Konstanze Schröter, die große Schauspielerin, meine Freundin? Unbewußt drehte sie das Weinglas um sich selber. Ja, Friedrich Joachim Kortüm, Gottesblick heißt deine Bank, Weltregieren ist leicht, aber Menschenregieren ist schwer; wenn die Menschen nicht so verschieden sein sollten voneinander, hätte Gott dem Tonklümpchen nicht seinen Odem einzublasen brauchen. Sein Mitarbeiter, der mit der Hahnenfeder am Hut, konnte sie ausstanzen nach Gottes Bild, einen wie den andern. Man muß doch aber, rief Herr Kortüm bei ähnlichen Schwierigkeiten ein wenig altmodisch, die Guten und die Schönen versammeln können um seinen Tisch! Auf Geistergastmählern vielleicht, Herr Kortüm. Wenn der Odem nicht mehr in ihnen ist, der vom Anfang her, der unabänderliche.
Ohne den Nachtisch zu berühren, stand Konstanze auf, immer noch benommen sah sie gedankenlos ihre Armbanduhr an: »Und nun den Kaffee, Herr Schart?«
»Falls Sie noch etwas Zeit haben.«
Was hat er gesagt? dachte sie. Ach, Klaus Schart! »Ja, so sind Schauspieler« – sie schüttelte sich, nahm seinen Arm und lachte: »Ich war in Gedanken in eine andere Rolle geraten.«
Sie führte ihn ins andere Zimmer. »In eine gute Rolle?« fragte Klaus, »Sie haben gelächelt.«
Konstanze lehnte am Kaminsims, stützte die Ellbogen auf und sah Klaus lächelnd an: »Jetzt fragen Sie nach einer Rolle?«
Das geräumige Zimmer wirkte kleiner, als es war. Roter Damast überspannte die Wände. Nur auf dem niedrigen Teetisch brannte eine 477 Lampe. Konstanze stand in diesem bühnenhaften Raum fast wie im Rampenlicht. Klaus sah sie an, schwieg. »Ich denke, Sie sind nicht fürs Theater«, lächelte Konstanze.
Klaus sah sie unverwandt an. Sein Herz begann plötzlich so laut zu schlagen, daß er hoffte, sie müsse die Schläge hören. Und er begann, langsam und ruhig, ohne sich von der Stelle zu rühren: »Theater? Ich mag es nicht. Ich bin eifersüchtig aufs Theater. Ich gönne ihm Konstanze Schröter nicht. Weil ich sie lieb habe, Konstanze.«
Das hatte er zustande gebracht, als ob er es aus einem Buche vorläse. Die nicht nur schöne, sondern auch sehr gescheite Frau starrte ihn an, öffnete den Mund ein wenig, schien den verwegenen Worten nachzuhören . . . Klaus hatte seine Sache schon gut gemacht. Hilflos sah Konstanze eine Sekunde lang den unbeweglichen Klaus an. Aber Klaus war noch kein Mann. Er half ihr nicht. Was er an Tapferkeit bei sich hatte, war vorläufig ausgegeben. Den Rest brauchte er zum Stehenbleiben. Konstanze mußte sich selber helfen.
»Und so ein Mann schreibt keine Theaterstücke!« rief sie, griff in die Zigarettendose, hielt sie auch Klaus hin und setzte sich in den Sessel. Jedoch dieser Klaus klaubte eine Zigarette heraus, legte sie auf den Kaminsims, nahm Konstanze die Zigarette aus dem Mund, legte sie auch weg und setzte sich auf die Armlehne ihres Sessels.
Konstanze hatte in der Schrecksekunde, die der dumme Klaus versäumte, das Spiel wieder in die Hand genommen: »Das ist mein Sessel, Klaus Schart. Nicht Kortüms Teich.«
Gar nichts antwortete Klaus. Er legte die Stirn an die Sessellehne. Sein Mund war nahe über Konstanzes Schulter. Langsam glitt seine Stirn an dem harten Brokatstoff hinab. Seine Lippen berührten ihre nackte Schulter, ganz sachte und unbewegt, als ob er Marmor berühre. Konstanze saß still, sie sah seitwärts auf seinen blonden Scheitel, lehnte leise den Kopf zurück. Ihr Haar strich über seine Wange. Klaus faßte mit beiden Händen Konstanzes Kopf, drehte die zerbrechliche Kostbarkeit zart zu sich hin. Konstanze ließ ihn, aber sie blickte Klaus ruhig an, ruhig, ob sie gleich einen Schimmer wie Wasser in seinen Augen flimmern sah. Einen Augenblick lang hätte sie wohl ihren Kopf mit seiner Schwere in Klaus' Hände gelegt, aber sie schloß die Augen nicht, hielt den klaren Blick fest.
»Konstanze!«
»Träume nicht.«
»Bist du denn wach?«
478 Ein paar Herzschläge lang fühlte Konstanze wehrlos die Seligkeit, von einer Woge getragen zu werden. Nahe sah Klaus ihre geöffneten Lippen vor sich, sie atmete schon seinen Hauch, da wandte sie leicht den Kopf unter seinem Arm seitwärts und war frei: »Morgen vielleicht –«
»Morgen, sagst du . . . Konstanze.«
»Und wieder morgen. Immer wieder morgen –«
»Ich habe dich lieb –«
Sie lächelte schwermütig: »Die Liebe hast du, Klaus; mich – wenn du nicht mehr zu erschrecken brauchst und fragen, was du mit mir anfangen willst vor den Leuten. Die vier Wände hier stehn nicht immer um uns.«
»Vor den Menschen?!« Klaus trat zurück.
»Vor der Welt. Oder« – sie griff nach dem Lichtschalter, aus blitzenden Prismen blendete es wie heller Tag – »oder soll ich dich in Hörsel besuchen?«
Diese Frau in meinen vier gekalkten Wänden? Der jähe Glanz der Pracht um ihn tat seinen Augen weh. Er blinzelte in das Licht.
»Wenn's Fenster auf ist, hören wir das Ilmwehr. Es rauscht stark jetzt. Bitte, Klaus.«
Er gehorchte. Im offenen Fensterrahmen stand der sommerliche Nachthimmel, an dem die Sterne ihre vorgezeichneten Bahnen ziehen – schade, die Frauen müssen es den Männern schwer machen, den Männern gerade, von denen sie geliebt sein möchten. Aber sie müssen eben Frauen bleiben, um solche Liebe zu verdienen. Wenn der Herr des Flügelhauses, der weise Webmeister, eine Kortümliebe weben könnte – aus Sternlicht und Musik! Aber das kann wohl auch Herr Kortüm nicht; er müßte Leinen nehmen oder Seide, und die haben beide einen irdischen Wert.