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Pastor Arcularius kam nicht dazu, Kortüm die Grabrede zu halten. Utzenstorff dagegen versammelte eine ungeheure Gemeinde zu Kortüms Gedächtnis. Arcularius mußte eben seine Rede auf einen reellen Toten gründen können. Utzenstorff brauchte nur Kortüms 729 lebendes Bild, die runden Blechschachteln mit den zweitausendzweihundert Meter langen Zelluloidstreifen darin. Ein paar Federn schnappten ein, der Motor summte, Zahnräder bewegten das Bildband und Kortüm erschien, ein Timeslesender Andermann, vor dem halb erschrockenen, halb gerührten Publikum.
Herr Kortüm selbst blieb verschwunden, und das Schottengelände blieb unruhig. Konnte doch jeder Tag eine umstürzende Nachricht bringen. Abenteuerliche Gerüchte tauchten auf. Die Behörden hatten viel Ärger und Schreiberei. Mancher Bogen wurde mit überflüssigen Worten beschrieben, namentlich seit ein Gerede tuschelte, Kortüm lebe und halte sich irgendwo im Ausland auf. Sogar englische und französische Konsulate beklagten sich über unnötige Scherereien. Nichts Sicheres war festzustellen. Wieder einmal erwies sich, daß der Mensch, dem auf der Erde aus irgendwelchen Gründen kein ordnungsmäßiger Aufenthalt erwünscht scheint, sich am besten in die Erde begibt, und zwar nicht auf einem privaten, sondern auf dem behördlich geregelten Wege. Alle Abschweifungen von dieser bestens bewährten Abgangsweise bringen nur Schwierigkeiten.
Nachdem Lotte Wingen und Monich im Lauf der nächsten Wochen an die verschiedensten Amtstische gerufen worden waren, bestellte sie nun auch der Amtsrichter Heydenreich nach Esperstedt. Er eröffnete ihnen die Rechtslage: wenn der Aufenthaltsort eines abwesenden Volljährigen nicht bekannt ist, wird für seine Vermögensangelegenheiten ein Abwesenheitspfleger eingesetzt. Der Amtmann Lehnert in Esperstedt sei vom Gericht als Pfleger bestellt und werde seine Tätigkeit bis zur Rückkehr Kortüms ausüben. Nach zehn Jahren Abwesenheit trete dann das Testament des nicht vorhandenen Kortüm in Kraft.
Auf dem Nachhauseweg sagte Monich: »Auf jedes Unglück paßt ein Paragraph. Wenn man aus dem Amte wieder 'naus is un nun weiß, wie alles geregelt is auf Erden, kommt einem doch die unheimlichste Angelegenheit ordnungsmäßig vor.«
Die Wochen gingen hin. Die Hauptsaison begann. Auf dem Lohberg wurde viel Geld umgesetzt. Im Sanatorium blieb es still. Aber Doktor Langloff war daran selber schuld. Er unternahm in dieser wichtigen Geschäftszeit wiederholt Reisen, prüfte die Niederlassungsfrage in Geestemünde und anderen Orten, statt sich um das Flügelhaus zu kümmern. Im Schottengelände lebte er still und zurückgezogen. Freilich konnte man Langloffs Gründe verstehen. Jeden Tag jedem Gast die Frage beantworten zu müssen: »Im Vertrauen, wie ist das nun 730 eigentlich mit Kortüm, Herr Doktor?« – diese ewige Übermacht selbst des nicht mehr existenten Kortüm wurmte den Doktor. Er sah den Leuten schon von weitem an, wenn sie mit der großen Frage auf den Lippen herantraten. Und erst die Nebenfragen: Sarg, Leichenrede, Grabstein – wie Mücken an gewitterwarmen Tagen surrten die Rätsel in der Luft. Langloff hatte keine Lust, sich stechen zu lassen. Wer Näheres hören wollte, mußte schon aufs Lohberghaus gehen. Bei Lotte freilich kamen die Aushorcher schief an. Sie schüttelte nur stumm den Kopf und ging an ihre Arbeit. Zudem war sie eine Respektsperson geworden, die vorsichtig angefaßt sein wollte. Wenn sie sichtbar wurde, deutete der ältere Gast mit dem Daumen über die Schulter und sagte zu dem jüngst eingetroffenen: »Das ist sie.« Aber im Lohberghaus stand ja noch der runde Tisch mit Kortüms silberner Windfahne. Alle die älteren Herren, welche sich rühmen konnten, zu Kortüm in einem näheren Verhältnis gestanden zu haben, versammelten sich hier: Mickewitz, Kuffert, Menger, Rab, auch Lehrer, Pastor und Amtsrichter. Nur Monich kam nicht mehr. Er besuchte Lotte zuweilen in den ruhigen Mittagsstunden, wenn die Gaststube leer war, sagte: »Je ja, Frau Wingen«, trank seinen Schoppen und ging wieder.
Je weiter die Jahreszeit vorrückte, desto fester gründete sich der sogenannte Kortümtisch, dem die angeseheneren Einwohner der Umgebung angehörten. Der alte Freitagstisch hatte sich in den letzten Jahren immer mehr verkleinert und zuletzt aufgelöst. Mit Recht sagte Mickewitz: »Meine Herren, man muß auch vergessen können. Der Dahingeschiedene hat manche Unruhe in unsere Gegend gebracht, gewiß. Aber manchmal kam er auf nutzbringende Gedanken. Nun er fort ist, lassen Sie uns ruhig eingestehen: dieser Tisch im Lohberghaus hat seinen Wert.«
»Bloß Monich fehlt.«
»Regulär«, meinte Kuffert, »dauert 's Trauerjahr sechs Monate. Passen Sie auf, zu Weihnachten sitzt er hier mittenmang.«
So sicher stand Monichs Rückkehr aber nicht fest. An warmen Abenden saß er jetzt auf der Bank vor dem Leinwandladen und brummte vor sich hin. Seine Augen mußten nachgelassen haben: »Er hat mich wieder nich gesehn«, sagte mancher Besenröder, »auf drei Schritte bin ich an ihm vorbeigegangen, un er hat mich nich gesehn.« Ein paar Leute aber erkannte Monich stets. Wenn Bilmes vorbeikam, rief ihn Monich an. Sie tranken einen Püsterich zusammen und besprachen das große Rätsel ihres Lebens.
731 »Mir is immer so, Herr Monich, als müßte Kortüm ganz hier in der Nähe sein.«
Monich erschrak: »Aber Bilmes.«
»Je, ich kann mir nich helfen. Mir is es so.«
»Das will ich Ihnen sagen, warum's Ihnen so is. Horchen Sie mal gut drauf. Wie 'n Dicker im Leben mehr Platz braucht als 'n Zwirnsfaden, so hat eben Kortüm eine sozusagen geistige Korpulenz gehabt, un was das Geistige is, das bleibt. Das kommt von der Dimension, verstehn Sie? Kortüm hat eine Dimension gehabt. Wir werden noch lange dasitzen, un uns wird's sein, als wenn Kortüm neben uns säße.«
»Nee, so nich. Kortüm – ich lasse mir das nich nehmen – Kortüm is lebendig un lebt hier irgendwo lebendig.« Er näherte sich Monichs Ohr und sagte leise: »Wer weiß, was der vor hat.«
»Bilmes, wenn das die Polizei hört!«
»Da hört sie's eben. Wenn ich im Walde zu tun habe un 's knackt was hinter mir, da fahre ich allemal rum un denke: Kortüm, bist du's?«
Monich schüttelte traurig den Kopf: »Im Walde? Nee, Bilmes. Da haben Sie Kortüm schlecht gekannt. Im Walde? Dazu war Kortüm zu komfortabel. Auf Moos un Kleinholz, mit einem langen Bart un als wilder Mann? Jawoll, alle zwei Tage einen frischen Kragen un untern Honig erst 'n Schichtchen Butter. Nee, im Walde nich.«
»Wenn er nu heimlich im Lohberghaus wohnen täte?«
»Ich glaube, Sie sin verrückt geworden!«
»Je, wär das denn wirklich so dumm? Kortüm sagt Lotten heimlich, wie sie's machen muß? Merken Sie denn nich, was das für einen Aufschwung nimmt auf dem Lohberg? Un wo 'n Aufschwung is, da is Leben, un wo Leben is, da is Kortüm.«
Monich ging ins Haus, holte die Püsterichflasche und ein paar Gläser: »Prost, Bilmes. Mir is es ganz schwächlich geworden. Sagen Sie sowas nich wieder. Ich getraue mir doch gar nich einzuschlafen, wenn ich denke, 's kloppt plötzlich an den Fensterladen, un ich gucke 'naus, un Kortüm steht da in der Nacht.«
Der kleine unentgeltliche Püsterichausschank vor dem Leinwandladen war noch einigen anderen Besenrödern bekannt. Von ungefähr kam Kersch seines Weges, sah die Püsterichflasche im Grase stehen, bot einen schönen guten Abend und nahm teil an der Gedächtnissitzung. Selten ließ sich einer der Trauergäste einen Püsterich einschenken, ohne dafür eine neue Nachricht zu spenden.
732 »Der alten Schellert'n«, begann Kersch, »gehören doch die Haselbüsche zwischen dem Mühlholz un der Ilmwiese. Hä, wissen Sie, was der passiert is? Die hat sich gestern abend nach dem Behang umgeguckt. 's haben schön viel Nüsse angesetzt. 's wird 'n Nußjahr, denkt sie, un da kommt einer – na nu, denkt sie, in meinen Haseln? Sie guckt, un die Kiepe fallen lassen un ausreißen is eins. Wissen Sie, wen sie gesehn hat?«
»Kersch!« rief Monich drohend.
»Nu, ich will nischt gesagt haben. Aber er hat keinen Hut aufgehabt un 'n schwarzen Rock angehabt.«
»Sehn Sie?« unterbrach Bilmes die aufregende Schilderung.
»Sehn Sie!« – Monich wurde zornig. »Was heißt'n das: sehn Sie?! Der neue Organiste geht auch mannigmal im bloßen Koppe rum, un jeder Mensch im Orte weiß, daß er jetzt seinen alten Gehrock abträgt, zum Donnerwetter!«
Kersch wiegte schweigend seinen Kopf. Bilmes wiegte schweigend seinen Kopf. Monich trank einen Püsterich, ohne Erleichterung zu spüren. Er begrüßte deshalb die Ankunft des vierten Mannes, sagte, daß jetzt Gott sei Dank ein vernünftiger Mensch komme, und fügte hinzu: »Die beiden hier, Albrecht, die sind reine dumm im Koppe! Wie geht's 'n, Albrecht?«
»Man wird alt. 's geht nich mehr wie sonst, un 's muß doch gehn.«
Monich holte ein weiteres Glas und schenkte ein: »Trinken Sie 'n Püsterich, Albrecht. Der vertreibt die Sorgen.«
»Der eben grade nich; der macht mir je die Sorgen.«
»Nanu?«
»Gearbeitet un gearbeitet, un nu fange ich von vorne an.«
»Was fehlt'n?«
»'s Rezept! 's Püsterichrezept. Wie's erst war, das weiß ich je ausm Koppe. Aber dann haben wir doch 's Rezept ändern müssen. Als Kortüm den großen Kessel kaufte. Damit's zur neuen Destillasche paßte. Sowas is gar nich einfach. Das haben wir nu alles genau aufgeschrieben. Un das is weg. Lotte findt's auch nich. Kortüm muß es mitgenomm' haben.«
»He!« rief Kersch, »nu sin wir gleich 'n Schrittchen weiter!«
»Schämen Sie sich«, knurrte Monich, »'n anständiger Mensch macht sich Gedanken, daß nu Kortüm in der ewigen Seligkeit is, un der Kerl kommt weiß Gott auf die Idee, Kortüm macht Schnaps irgendwo.«
»Je, wenn er aber das Rezept mitgenommen hat«, sagte Bilmes.
733 »Das weiß doch Albrecht gar nich! Er denkt's doch bloß! Oder wissen Sie's?«
»Nu, wissen . . .«
Nichts wußte man. Nur dieses eine: Kortüm war lebendiger denn je im Schottengelände! Kortüm ging um.
»Der Pastor Arcularius hat schon recht gehabt«, brummte Monich, »wir haben keine Ruhe, ehe Kortüm wieder da is.«
»Suchen«, sagte Bilmes und blickte nach der im Nachtdunkel verdämmernden Schottenhöhe hinauf.
»Aber wo?«
»Vielleicht 'nmal in der Kranichstedter Gegend?«
»Da kennen ihn doch alle.«
»Oder – je . . .«
»Die Welt is so groß . . .«