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Am anderen Tage sah Langloff seinen Auftritt als Publikum etwas anders an: »Teufel, ich hätte nicht hingehn sollen.« Er hatte nicht alle Schwierigkeiten vorausbedacht, die dieser Freundschaftsdienst an seinem Mieter möglicherweise mit sich bringen konnte. In seinem Kapitänsleben war Langloff nur auf Frachtschiffen um den Erdball gefahren und hatte seine Kameraden auf den Passagierdampfern nicht beneidet. Tägliche Dinners mit Herrschaften durchmachen müssen, die alle zum Verwechseln ähnlich zu sein schienen und offenbar nur von der Seekrankheit abgehalten wurden, auch noch stets dasselbe zu reden – nein: was in den Hafenplätzen an Menschheit zu erleben war, wenn man mit ihr als gelernter Frachtschiffer rechnend und schlichtend zusammengeriet, dünkte Herrn Langloff eher ein Gewinn.
Nun war der Kapitän a. D. an seinem Lebensabend in einer schwachen Stunde plötzlich auf die Seite des Passagierpublikums geraten: »aus reiner Gutmütigkeit.« Gestern noch hatte er sich für den einzigen Sehenden unter lauter mit Blindheit Geschlagenen gehalten, die ihn nichts angingen. Heute merkte Langloff, daß ihn die Sache ungemein nahe anging. Sein Mieter Wingen war gegen Mittag fast ohne Gruß an ihm vorbeigeeilt. Die Wingensche Wohnung aber vermietete sich schlecht. Die Öfen rauchten, die Türen klapperten, und die Fensterrahmen sperrten. Wer solche Mängel für nicht geringes Geld nur deshalb in Kauf nahm, weil die Haustür einen alten gotischen Rahmen aus feingemeißeltem Sandstein und weil die Treppe ein seltsames schmiedeeisernes Geländer besaß, an dem man immer mit den Kleidern hängen blieb, der mußte schon ein Liebhaber sein. Wingen war ein solcher Kunstfreund, der zudem nicht einmal neue Tapeten verlangte, um seine vielen Bücher nicht umräumen zu müssen – trotz der dringenden Vorstellungen seiner Frau. Wo fände Herr Langloff einen zweiten solchen Mieter! Wenn er sich diesen Wingen nicht hätte warmhalten wollen, wäre er doch nie in die verdammte Theaterprobe gegangen! Nun war das genaue Gegenteil erreicht. »Ich habe leider keine Zeit«, hatte Wingen kurz gesagt und war an Herrn Langloff einfach vorbeigeeilt. Womöglich, um neue Wohnungen zu besichtigen . . . Die Sache mußte beigelegt werden. Jener Professor, der Maler, schien unter allen diesen aufgeregten Leuten noch das vernünftigste Wesen zu sein. Langloff machte sich auf den Weg in die Akademie. Neue Ofen, Türen ausbessern, Tapezieren, Streichen, Doppelfenster – fünfhundert Mark 223 konnte ihn der Auszug der Familie Wingen kosten. »Das hat man von seiner Gutmütigkeit«, murmelte Langloff, als er rechnend durch die kleine Schlechtwettertür in die Halle der Akademie trat. Leider war der Pförtner zufällig einen Augenblick abwesend, und Langloff hatte Mühe, Holdermanns Tür zu finden. Er klopfte. Nichts rührte sich. Mehrmaliges Klopfen half auch nicht – nur um das letzte nicht unversucht zu lassen, drückte er die Klinke nieder. Die Tür gab nach, ging auf. Langloff trat in den Vorraum: Bilder an den Wänden, nur Bilder. Stille. Kein Ton zu hören. Da war ein Vorhang. Der Kapitän steckte vorsichtig den Kopf durch die Falten. Lauter Bilder, Staffeleien. Wie hoch so ein Atelier ist . . . Ah, da stand ja zwischen den Holzstangen und Leinwänden der Professor. Er hatte eine bunte Palette in der Hand und malte gerade an dem Bild eines Herrn in schwarzem Rock. Er malte und schien nichts zu sehen und zu hören.
»Guten Morgen«, sagte Langloff.
Ohne aufzublicken, ja ohne den Mund zu öffnen, antwortete der Professor mit einem nicht näher bestimmbaren, aber einladenden Laut.
»Darf man eintreten?«
Holdermann drückte eben ein leuchtendes Blau aus der Tube, mischte, hielt den Kopf schief, und während er sein Blau mit strengen Augen prüfte, wies er mit dem Pinselstiel flüchtig auf einen erhöht stehenden geschnitzten Sessel. Dabei murmelte er ein Wort, das man für »Bitte« halten konnte.
Bei Künstlern muß man sich denn wohl über so was nicht wundern . . . Langloff nickte und dachte an die gestrige Theaterprobe. Er ging leise zu dem Podium hin und setzte sich in den ihm angewiesenen geschnitzten Sessel.
Holdermann malte. Langloff besah sich die Bilder. Seestücke waren nicht darunter. Er begann sich zu langweilen, zog eine Zigarre aus der Tasche. Anbrennen konnte er sie nicht. Bedauerlicherweise hatte er zwar gestern im Theater Streichhölzer bei sich gehabt, aber heute suchte er vergebens in seinen Taschen. Holdermann stand mit dem Rücken zu ihm vor dem Bild des Herrn im schwarzen Rock und malte. Langloff wagte nicht, ihn um Feuer zu bitten und steckte die kalte Zigarre in den Mund. Wenn nicht das Eichhörnchen in seinem Käfig gekratzt und getappt hätte, wäre Totenstille in dem stark überheizten Raum gewesen. Der Kapitän hatte den Wintermantel nicht abgelegt. Er ließ den Kopf hängen, wurde müde, nickte ein.
Draußen ging die Tür. Langloff hörte es schon halb im Traum.
224 Schritte klappten, Herr Kortüm trat ein, winkte mit der Rechten zu Holdermann hin: »Meister, guten Morgen!« Der Maler wies, ohne aufzublicken, mit dem Pinselstiel flüchtig auf den geschnitzten Sessel und brachte einen Laut hervor, den Herr Kortüm für »Bitte« halten konnte. Herr Kortüm wendete sich zu dem Podium – – da sah er in seinem Sessel einen fremden schlafenden Herrn sitzen. Kortüm drehte sich erschrocken nach seinem Porträt um: wahrhaftig – der Professor malte am Kortümbild, und auf dem Kortümstuhl saß –
»Herr!« sprach Herr Kortüm mit starker Stimme.
Langloff fuhr hoch, der Maler schreckte auf – Holdermann blickte ebenso ratlos die beiden an, wie diese beiden sich gegenseitig.
»Haben Sie vielleicht das Gesicht dieses Herrn versehentlich benutzt, Meister?«
»Na, Sie haben mir denn ja wohl diesen Stuhl angeboten«, sagte Langloff zu dem Professor, erhob sich und verbeugte sich knapp gegen Kortüm: »Langloff.«
»Sie sind's . . .«, sagte der aus seiner Arbeit gerissene Maler, »also: Herr Kortüm vom Schottenhaus. Herr Langloff – Kapitän, wenn ich recht verstand?«
»A. D.«, sagte Langloff.
»Nicht a. D.«, erwiderte Herr Kortüm für seine Person diese Vorstellung, blickte zu seinem Porträt und fügte hinzu: »Meister, ich glaube –«
»Ja, Herr Langloff«, bedauerte Holdermann, »ich freue mich über Ihren Besuch, aber Sie sehen: ich muß jetzt arbeiten.«
»Jawohl«, sprach Herr Kortüm und griff zu der Papierrolle.
»Vielleicht paßt es morgen nachmittag?« fragte Langloff. »Ich wollte mich nur mal eben über meine Theatersache mit Ihnen unterhalten.«
»Ach so«, lachte der Maler.
Herr Kortüm aber horchte auf, legte die Rolle weg: »Sie sind vom Theater?«
»Bewahre« – Langloff schüttelte den Kopf – »ich habe nur eben eine kleine Unannehmlichkeit mit dem Theater.« Kortüm spitzte erwartungsvoll den Mund, der Kapitän fuhr fort: »In einer Probe übrigens nur – –«
»Aha«, sprach Herr Kortüm.
»– ein Mißverständnis –«
»Das kenne ich«, unterbrach ihn Kortüm.
225 Langloff wendete sich mehr an Holdermann: »Sie wissen ja, dieser Herr Wingen –«
»Den kenne ich«, sprach Herr Kortüm abermals.
»– der hat« – Langloffs Stimme klang jetzt etwas schärfer – »der hat mir das ja wohl nun übelgenommen –«
»Bei meinen Theateraufführungen nahm er auch alles übel«, sprach Herr Kortüm.
Jetzt sah ihn der Kapitän groß an. »Ach so – Sie sind vom Theater . . .«, sagte er in entschuldigendem Ton.
»Bewahre.« Herr Kortüm machte eine abwehrende Handbewegung.
»Ich verstand doch aber eben –«
Holdermann ließ sie reden. Er machte nach den beiden in ihr Gespräch vertieften Männern heimlich eine Skizze: Kortüm und Langloff nebeneinander, beide sich mißtrauisch messend – die Zeichnung war vielversprechend, und der Maler hätte sie gerne vollendet. »Kommen Sie morgen wieder, Herr Langloff. Es wird mir eine Freude sein.«
Der Pförtner stemmte die Stiefelsohlen gegen den Heizkörper. Eine sanfte Wärme stieg in seinen Hosenbeinen hoch. Es war heute auch so schön still in der Akademie. Nichts hatte er einzuwenden gegen die Welt und ihren Schöpfer. Selten kam und ging einer.
Jetzt schallten ferne Schritte auf den Steinplatten der großen Halle. Der Pförtner horchte: »Nanu, is das nich . . .« Er versuchte sich umzudrehen, ohne die Sohlen vom Wärmequell zu lösen. Eine gewichtige Gestalt schritt durch die Halle, näherte sich dem Portal.
»Da kommt je heute der Herr Kortüm schon.«
Verwundert zog er die Schublade des Tisches auf, bis hart an seinen Bauch. Er kam so schnell nicht hoch. Der Pförtner kramte hastig nach dem Schlüssel. Schon flog die Windfangtür auf. Herr Langloff erschien, schritt eilig am Pförtner vorüber und verließ das Gebäude durch die kleine Wintertür.
Offnen Mundes sah der Pförtner der Gestalt nach. Dann zwängte er sich aus der Klemme zwischen Stuhl und Schublade heraus, eilte zur Tür, quetschte die Nase ans Glas und versuchte die Erscheinung wenigstens von hinten zu fassen: »Dunnerwetter – das war er je gar nich. Oder hab ich mich verguckt un war er's doch?« 226