Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Die entfernten Verwandten

Als Holdermann nach dem Essen eine Tasse Kaffee verlangte, brachte die freundliche Wirtin zwei Tassen.

»Eine«, sagte er.

»Nee, zweie. Die hier is fürn Organisten Wingen. Albrechts, was die Schwiegereltern vom Herrn Organisten sin, die machen 'n 287 Kaffee auf Thüring'sche Art. Aber Herr Wingen will lieber richtigen Kaffee. Un darum trinkt er 'n bei mir.« Sie zeigte nach dem Fenster. »Ich habe ihn nämlich kommen sehn. Da kommt er, sehn Sie? Un darum hab ich ihn gleich mitgebracht. 'n Kaffee mein ich. Herr Wingen macht nämlich seinen Urlaub hier bei uns in Besenrode durch. Noch acht Tage hat er. Dann is es vorbei. Da is er je auch.« Sie hätte sicher auch noch den Rest von Wingens Lebensgeschichte erzählt, wenn er jetzt nicht selber erschienen wäre.

»Ah!« – Holdermann stand auf und ging dem eintretenden Wingen entgegen – »ein Mensch!«

»Sie scheinen ja auch allerhand Leuten begegnet zu sein!« lachte Wingen.

»Und was für welchen! Denken Sie!« Der Maler erzählte seine Begegnung auf der Schottenstraße: »Die richtige Konstanze Schröter, versichre ich Ihnen! Unsre große Schauspielerin!«

Wingen schien die überraschende Anwesenheit Konstanzes nicht gleichermaßen zu erfreuen. Er zog die Stirn in Falten und begann zu schweigen.

Holdermann merkte nichts. Das werde reizende Stunden geben, meinte er. Wingen müsse die Schröter ja auch kennen. Von der Bühne her. Sie habe doch damals die Hauptrolle in seinem Stück gespielt. »Sagen Sie, Wingen, wie weit ist übrigens Ihr Gedicht?«

Wingen verzog das Gesicht.

»Es eilt«, versicherte Holdermann.

Wingen sah ihn fragend an.

»Den Richtfestspruch meine ich. Herr Kortüm freut sich schon auf Ihre Verse.«

»Die kommen nicht mehr zustande« – Wingen schüttelte den Kopf – »ich . . . Ja, sehn Sie . . . ich reise nämlich morgen ab.«

»Mann! Wo die Schröter gekommen ist?! Ich denke, Sie bleiben noch eine Woche?«

Wingen stellte klirrend seine Tasse hin. Der Maler ahnte nicht, daß Wingens Entschluß zur Abreise in dem Augenblick gefaßt worden war, als er Konstanzes Ankunft erfuhr, und redete ruhig weiter: »Vielleicht haben Sie Glück und die Schröter selber spricht Ihren Richtspruch.«

»Ich schreibe nichts mehr.«

»Was sagen Sie?« Holdermann sah Wingen aufmerksam an: war dieser erwachsene Mensch einfach trotzig? – »Was machen Sie denn sonst?«

»Musik.«

288 »Hm« – Holdermann legte begütigend die Hand auf Wingens Arm – »etwa wegen der Probe damals? Sie kennen doch die Bretter. Nothnagel hat das längst vergessen.«

»Der schon.«

»Na – und Sie?«

»Professor Holdermann, schreiben läßt sich alles. Aber gedichtet werden kann nur eins –«

Holdermann sah ihn an . . .

»Und – und jetzt mach ich Musik!« sagte Wingen und schlug mit der Hand auf den Tisch.

Der Maler schüttelte den Kopf. Schüttelte immer wieder den Kopf. Er verstand Wingen nicht, denn er wußte nicht, daß dieser Mann hatte dichten können einen flüchtigen warmen Sommertag lang: als er Konstanze liebte, als diese Frau lebendig in seinen Stücken stand. Dann war Lotte gekommen. Und die war nicht Spiel. Die bekam Kinder, kochte, hing Wäsche auf, flickte Kleider, sparte und sah so genau, was wirklich vorging um ihr Nest herum, daß Wingen eine Zeit ganz kleinlaut wurde: diese geborene Albrecht wußte nicht viel, und sie war doch wohl stärker als die ganze abgeguckt und ausgetüftelt gespielte Welt – diese gewendeten Kleider, dachte Wingen erschrocken . . . was bleibt? – »Wissen Sie, Holdermann, es gibt genug Leute«, begann er unvermittelt, »die erzählen, was schon erzählt ist – spielen, was längst zu Ende gespielt ist, und die ihre zweite Hälfte des Lebens benutzen, um aufzuschreiben, was sie in der ersten Hälfte erlebt haben – nein: dazu weiß ich zu genau, was eine Fuge ist von Johann Sebastian Bach.« Er schwieg eine Weile, dann fügte er in nahezu unverschämtem Ton hinzu: »Mein Lieber . . .« Und nun bewegte er seine wohlgeübten Finger gelenkig, als ob die schwarzweiß gewürfelte Tischdecke ein schwarzweißes Tastenfeld wäre. »Haha, ich reise ab.«

»Wohin denn?«

»Auf meine Orgelbank.«

Beide schreckten sie jäh aus ihren Gedanken. »Kann 'ch hier mal schnell telephonier'n?« fuhr Monich ins Gastzimmer. Er sah die beiden Kaffeetrinker gar nicht, drehte schon am Apparat.

»Nummer sechs!« – Pause – »Nee, sechse, Fräulein!« – Pause von Monich murmelnd ausgefüllt mit dem Wort: »Himmelbombenschockschwerenot.« – »Wer is da? Liese? Nee, du nich. Kortüm soll selber kommen. Ich bin's auch selber.« – Längere Pause – »Bist du's 289 jetzt endlich? Also horch drauf, Kortüm. Hörste's? 's kommt wieder ein Trupp!« – Pause – »Gäste? Nee, eben nich!« – Pause – »Na, so 'n Stücker sieben oder achte . . .«

Monich zog sein bunt bedrucktes Taschentuch hervor, wischte seine Stirn und erblickte endlich den Maler und den Organisten. Aber tapfer überwand er eine kleine Anwandlung von Schwäche und setzte sich nicht und nahm nicht eine Stärkung zu sich: »Ich muß gleich nauf aufs Schottenhaus.«

Holdermann lachte: »Bekommt Herr Kortüm Einquartierung?«

»Schlimmer. Einquartierung wird doch vergütet. Nee, Besuch kriegt er.«

Der Maler wurde neugierig. Die weibliche Stimme kam ihm in den Sinn, die ihn heute morgen von der Bockleiter vertrieben hatte. Er rückte einen Stuhl: »Setzen Sie sich doch.«

Monich seufzte, aber er nahm standhaft seinen Hut: »Nee. Ich muß. Sonst sin die eher oben als ich.«

Die abendliche Mahlzeit im Kaminsaal des Schottenhauses zeigte ein völlig verändertes Bild. Besuch war da. Entfernte Verwandte. Holdermann wurde an Langloffs Tisch untergebracht. Herr Kortüm bat Konstanze an den runden Tisch in der Mitte des Saales und setzte sich ihr gegenüber. Himbeergrütze wie im Besenröder Gasthof hatte der Maler jetzt nicht vor sich und mußte unfreundliche Bemerkungen über den Herrn des Hauses vorläufig in den Suppenteller murmeln. Langloff hörte nichts, da er die Menükarte abschrieb und gleich eine ungefähre Kostenrechnung für seinen Sohn, den Schiffsarzt, aufstellte. Holdermann verglich ungestört die Entfernung zwischen Konstanze und Kortüm und zwischen der schönen Frau und ihm selber. Konstanzes Koffer waren noch nicht angekommen. Sie trug heute abend nur ein einfaches Reisekleid und fiel denen nicht auf, die erst die Kleider und meistens auch dann noch nicht die Köpfe sehen. Mit dieser Art Mensch war der Kaminsaal gut besetzt, obgleich das Schottenhaus in der jetzigen Bauzeit auf zahlreichen Besuch eigentlich gar nicht eingerichtet war. Da saßen Frau und Herr Lautenschlager – Sidonie dehnte sich nach allen Seiten. Sie trug ein buntes Blumenkleid, das an den unwahrscheinlichsten Stellen mit Schleifchen benäht war. Ulrich saß in zurückhaltendem schwarzen Rock still vor seinem Teller. Am Tisch daneben speiste ein Ehepaar Tips mit Sohn. An dieser Familie war der Sohn das Bemerkenswerte, ein Gymnasiast mit Namen Willibald. Der Jüngling 290 bestellte sich ein ganzes echtes Pilsner. Als Liese das Bier brachte, kniff er sie heimlich in den Arm. Herr Kortüm aber sah es und sprach: »Zum Teufel.« Der verwunderten Konstanze erläuterte er seinen Grimm: »Diese Leute behaupten sämtlich, mit mir entfernt verwandt zu sein!« Wenn das richtig war, so hatte Herr Kortüm nicht nur eine große, sondern auch eine fröhliche Verwandtschaft. Nur Ulrich benahm sich gemessen, aber dessen Anteil Lebensfreude hatte seine Gattin Sidonie mit übernommen. Als Muster von Genußkraft fiel Herrn Kortüm ein Herr Wodtke auf: Junggeselle, gut bei Jahren, wohlbeleibt, reicherfahren und von eiserner Gesundheit. Die zarte gelbliche Dame ihm gegenüber hatte sich als Wodtkes ältere Schwester dem lieben Friedrich Joachim bekannt gemacht. Sie glaubten auch, wie die Lautenschlagers, über den Heydeloffschen Danielast mit dem Kortümstamm auf allerdings kaum noch kenntlicher Entfernung verwandt zu sein. Wodtkes hatten nichts davon geahnt und waren erst hergereist, als sie hörten, daß Lautenschlagers reisten: man kann nie wissen, hatte Wodtke gesagt. Aber Sidonie war mit ihren Koffern und ihrem Mann rasch in den Abendzug gestiegen und einen halben Tag vor den Familien Tips und Wodtke zur Stelle.

Durch den guten Neffen Willibald hatte nun wieder eine ältere Dame, eine verwitwete Frau Küppen aus Geestemünde, Nachricht erhalten sowohl über ihre entfernte Verwandtschaft mit Herrn Kortüm als auch über den Reisetag der Familie Tips. Vater Tips hatte darauf zum jüngeren Tips gesagt: »Am liebsten haute ich dir eine links und eine rechts hinter die Ohren!« »Aber Vater!« »Was heißt ›aber‹, wenn die Dicke eher kommt als wir!«

Überhaupt hatte die Kunde, im Thüringer Wald oben säße ein reicher verwitweter und kinderloser Verwandter, mancherlei Mißhelligkeiten unter Leute gebracht, die sich noch gar nicht richtig kannten. Eine Frau Lerche und eine Frau Mimi Schlick, beide Witwen, aber letztere noch in den allerbesten Jahren, lernten sich zum Beispiel erst hier auf dem Schottenhaus kennen. Sie aßen am gleichen Tisch, aber hatten wenig Freude aneinander. Gleich am ersten Abend stellte sich heraus, daß die Schlick mit der Gabel auf der Schüssel suchte, bis sie das vorteilhafte Stück aufspießte, welches die Lerche vor ihr bemerkt hatte. »Wie sie aussieht«, sagte nach Tisch Frau Lerche zu Frau Tips. »Das will ich Ihnen sagen«, flüsterte die Tips an ihrem Ohr, »einfach wie eine gewöhnliche Erbschleicherin sieht sie aus.« »Und wie sie sich anzieht. Hier, unter lauter anständigen Leuten. Sehn Sie mal, von hinten. 291 Wie das spannt.« Die Damen blickten weg. Die Witwe Schlick aber fuhr dem guten Friedrich Joachim über die Hand mit ihrem dicken weichen Händchen: »Nein – Alwin, wie er leibte und lebte. Alwin war mein Ideal« – sie seufzte – »ach ja, er fiel –« »Wo?« sagte Herr Kortüm erschrocken und trat etwas zurück. »Im Felde. Mein seliger Mann hat Alwin nie gemocht. Ach, Joachim, ich habe viel Schmerzliches erlebt . . .«

Die älteren Damen überwogen in dieser Gesellschaft, fanden sich denn auch, setzten sich zusammen, und ehe sie begannen, den Rest der kurzen Zeit, welche Gott dem Menschen in seiner Gnade verleiht, mit Hilfe von Kartenspiel totzuschlagen, wollten sie erst ein bißchen so dasitzen – es war alles so reichlich gewesen und hatte so gut geschmeckt. Sie besahen die anderen Leute und riefen einen Kellner heran – einen unerfahrenen jungen Menschen, den Herr Kortüm in der Eile eingestellt hatte: ob es denn nicht endlich Tee gäbe. Und Gebäck.

»Sofort«, sagte der Hilfskellner.

»Sie sind ein Esel«, sprach Herr Kortüm zu dem erschrockenen Mann.

Herr Kortüm war sehr schlechter Laune. Ehe er sich's versah, saß dieser Professor Holdermann, seine Autorität in Schönheitsfragen, mit Konstanze zusammen. Er mußte immer noch die Lebensschicksale der Schlick vor seinem geistigen Auge vorüberziehen lassen. »Von Alwin habe ich auch das Interesse fürs Gastwirtschaftwesen«, sagte die Schlick eben. Herr Kortüm trat von einem Bein aufs andre. Jetzt hörte er Konstanze laut auflachen. Er sah sich um. Der Kerl schenkte ihr Wein ein . . . »Einen Augenblick«, sagte Kortüm und ging kurzerhand aus dem Saal.

Herr Tips trank Wodtke zu. »Ah, jawohl«, antwortete Wodtke, »man ist so wundervoll gesättigt.«

Langloff lehnte am Türrahmen und zählte die Gesellschaft.

»Gutes Geschäft«, sagte er.

»Na, ich danke«, antwortete ein kleiner Mann, der neben ihm stand und stirnrunzelnd in den Saal guckte.

»Für diese Jahreszeit? Rechnen Sie durchschnittlich acht Mark Pension, das macht denn ja wohl, ohne Getränke, rund –«

»Rund nischt«, sprach der Mann, »und mein Name is Monich.«

»Langloff.« Der Kapitän verbeugte sich ein wenig.

»Sehr angenehm«, antwortete Monich, »aber keiner von denen da drinne bezahlt was.«

»Wie?!«

292 »Das is doch alles bloß Besuch, verdammig.«

Langloff kniff die Augen zu, bis nur noch ein ganz schmaler Schlitz blieb: »Hmm . . .«, brummte er. Der Apotheker in Esperstedt schien doch recht zu haben . . . Wie kann ein Mensch so viel Besuch haben? Der Mann war doch wohl nicht ganz . . . Ja, morgen mußte Langloff leider abreisen, aber er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit im Grundbuch zu blättern . . . hm.

Herr Kortüm stand im Flur und rückte an seinem Kragen. Was dachten sich diese Leute? Er baute. Das mußten sie doch sehen! Und dann wußten sie doch auch, daß ein Mann, der baut, jeden Groschen braucht! Statt dessen hatten sie ihn alle herzlich zu sich eingeladen. ›Revanchieren‹ nannten sie das. Aber gelänge es ihnen, sich zu revanchieren, würde er sich wieder revanchieren müssen, dann umgekehrt und wieder von vorn und nach der sechsten Revanche war er bankrott . . . Und morgen käme noch einer, hatte Liese gesagt.

Er winkte Monich heran: »Was soll daraus werden?«

»Je – Kortüm.« Bedrückt sahen sie sich an. Von drinnen schallte fröhliches Stimmengewirr heraus.

»Und so plötzlich, Monich. So viele auf einen Schlag.«

»Je, das is nich zu verwundern. In der verwandtschaftlichen Spekulation is sowas öfters dagewesen. Wenn da einer vom andern hört, daß er zu einem aussichtsreichen Onkel will, un wenn dann auch noch andere dahinter kommen, Kortüm, dann müssen sie doch alle auf einen Hümpel kommen, damit keiner eher kommt.« Er setzte Kortüm den Zeigefinger auf den Bauch und sagte leise und eindringlich: »Die spekulieren auf dich, Kortüm.«

»Auf meinen Tod etwa?«

»Das is nu gleich 'n bißchen viel gesagt. Mir kommt's so vor, als wenn du denen auch im lebendigen Zustand was wert wärst . . . das heißt . . . na ja . . . hm, vorderhand wenigstens . . .«

Das war der erste Abend.

Am zweiten Abend änderte sich das Gesamtbild des Kaminsaales wiederum wesentlich. Konstanzes Koffer waren angekommen. Man hatte schon Platz genommen. Auch Herr Kortüm saß und sah sich unruhig um – Konstanze fehlte noch. Die Löffel fingen an zu klappern. Das Plaudergetöse begann. Jetzt ging die Tür auf, eine Stille trat ein – Konstanze Schröter kam in den Saal. Ja, ihre Koffer waren da. Sie hatte sich hinreißend angezogen. Es wurde völlig still im Saal. Herr 293 Kortüm erhob sich, bot ihr den Arm, führte sie an ihren Platz – alles ein wenig altmodisch, aber es stand ihm. Die Verwandtschaft sah zu. Man tuschelte. Die Schlick suchte jetzt nicht mit der Gabel auf der Platte. Das erste beste Stück nahm sie. Frau Lerche zwinkerte mit den Augen: »Ach, Ihnen schmeckt's wohl heute nicht wie sonst? Jaja, auf Reisen holt man sich zu leicht was.«

Unter dem Tisch der Familie Tips suchte der mütterliche Schuh aus Krokodilleder die Stiefel Willibalds, und das Krokodil versetzte dem Kalbleder keinen kleinen Stoß – mit Recht: statt Suppe zu löffeln, ließ Willibald die Augen auf Konstanzes Rückenausschnitt ruhen.

Wodtke nahm einen mächtigen Zug aus seinem Glas.

»Du hast ja heute einen gesegneten Durst, Udo«, sagte die Schwester.

»Jawohl!« antwortete Udo, »Gott sei Dank, wunderbar!« und er nahm den Rest des Getränkes zu sich.

»Denke doch wenigstens an deinen Blutdruck, Udo«, sagte die Schwester gekränkt.

Überall zeigte sich eine deutliche Verstimmung. Sidonie war sogar gereizt. Auch ihrem Gatten hatte die Erscheinung Konstanzes eingeleuchtet. Er spielte mit dem Kompottlöffel und sah scheu zu ihr hin.

»Iß endlich, Ulrich!«

So harmonisch wie gestern ließ sich das heutige Abendessen nicht an. Und dabei war die Schönheit selbst lebendig mitten unter ihnen. Die verstimmte Verwandtschaft sah die Schönheit an, sah den lieben Friedrich Joachim an – der aber hob sein Glas daumenbreit hoch und sprach mit leiser Verneigung: »Sie spielen heute herrlich, liebe gnädige Frau.«

»Ich esse doch.«

Herr Kortüm nickte: »Sie brauchen nur eine Treppe hinabzugehen – das ist ein Schauspiel.«

»Wenn die Treppe breit ist.«

Herr Kortüm sah eine Sekunde die Gabel an, dann legte er sie weg und küßte Konstanze langsam die Hand.

Jetzt schwieg die Verwandtschaft gänzlich. Die Göttin der Ruhe ging durch diesen alten Kaminsaal. Einsilbig nahm der Besuch den Rest der Mahlzeit ein, sah sich an, stand auf . . . Konstanze ließ von Liese den Pelz holen. Sie wolle ein wenig die Abendluft genießen. Herr Kortüm entschuldigte sich bei ihr für kurze Zeit. Er mußte rasch einen Blick in die Wirtschaft werfen. Die Gäste waren unter sich. Sie tuschelten weiter. Holdermann saß in einer Sofaecke und sah sich durch den Rauch 294 seiner Zigarre die Herrschaften mit Maleraugen an. Dann blickte er zu dem Bild über dem Kamin hinauf. »Er hat recht gehabt«, murmelte der Professor. Der gemalte Kortüm stand großartig in seinem goldenen Rahmen da und blickte weit weg über all den lieben Besuch zu seinen Füßen. Hin und wieder zeigte jemand vorsichtig mit dem Finger hinauf zu ihm. Das Tuscheln wurde noch leiser. Unbewegt ragte der ewige Kortüm aus dem Geflüster. »Das macht, er hat nur gemalte Ohren!« Holdermann begann wieder einmal dem Geheimnis seiner Kunst nachzudenken.

Der leibliche Kortüm hatte richtige Ohren. Den ganzen Tag hatte er mit ihnen gehorcht und keinen Hauch vernehmen können von Kofferpacken, Kursbuch oder Abreise. Bei der Ankunft hatten doch alle gesagt, sie wollten bloß mal eingucken. Draußen lud der Hausknecht eben den Koffer des zuletzt gekommenen Gastes ab, der sich als ein Herr Specht aus Zittau vorstellte. Er sei ein entfernter Verwandter von Frau Schlick und habe sich deshalb erlaubt –

»Das Menü kann ich Ihnen nicht mehr servieren lassen«, sagte Herr Kortüm kurz zu diesem entferntesten Verwandten. Er sprach die reine Wahrheit. Die Platten waren wie blank gefegt. In ihrer schlechten Stimmung hatten die Gäste offenbar noch stärker zugelangt als gestern. Herr Kortüm wollte Liese fragen, welcher Tisch denn um Gottes willen die schlechteste Laune habe: »Liese!« rief er in den dunklen Seitenflur.

Ein Schatten bewegte sich, eine Gestalt verschwand. War das nicht dieser junge Tips? Kortüm drehte den Schaltknopf.

»Ja?« fragte Liese, »wollten Sie was, Herr Kortüm?«

Er sah Liese scharf an: »Was hat der junge Mensch hier gewollt?«

»Ach, er hat bloß gefragt, wo ich mir die Wasserwellen machen lasse.«

»So! Wasserwellen! Für eine Gans wie dich sind Wasserwellen allerdings . . .« Leider mußte er die Rede unterbrechen. Das Haus war eben voll Besuch. Jeder wollte etwas. Jetzt stand dieser Langloff da und winkte ihm, dieser . . . Kortüm seufzte tief: nein, auf den Kapitän durfte er nicht schimpfen. Der guckte nicht nur ein, der war der einzige Gast in diesem gut besuchten Hause, der bezahlte. »Bitte, Herr Kapitän?«

»Ich fahre mit dem Frühzug. Meine Rechnung, Herr Kortüm.«

Kortüm bat ihn auf sein Zimmer. Sie rechneten, der Kapitän bezahlte, gab ihm die Hand und sagte: »Na, denn lassen Sie sich's man recht gut gehen, Herr Kortüm.«

295 »Danke, Herr Kapitän. Auch Ihnen wünsche ich das Beste«, sagte Kortüm gemessen.

»Und wenn wir uns wiedersehn, ist hier woll allerlei anders, nöch?«

»Mein Haus ist dann fertig.«

»Und die Hochzeit denn ja woll auch.« Langloff faltete die Quittung sorgfältig und steckte sie ein.

»Bitte?« fragte Kortüm verständnislos.

»Allen Respekt«, sagte der Kapitän, er suchte in seiner Tasche: »Der Gepäckschein – ach so, hier ist er ja. Alle Hochachtung, Herr Kortüm. Hoffentlich paßt sie in den Betrieb hier. Das ist immer der Hauptpunkt.«

Kortüm stand langsam vom Schreibtisch auf.

»Also meine besten Wünsche, haha!«

Eine Weile war Stille im Zimmer. Nur Langloffs Geldstücke klimperten. Ohne es zu wissen, fuhr Kortüm mit den Fingern zwischen den Silbermünzen herum. Endlich sagte er: »Von wem sprechen Sie?«

Langloff lachte gemütlich: »Frau Tips sagt, sie heißt Schröter –«

Plötzlich schwieg der Kapitän. Kortüm sagte kein Wort, aber er sah grau im Gesicht aus, ließ achtlos einen Haufen Fünfmarkstücke auf die Tischplatte fallen und kam auf Langloff zu.

»Je, Herr Kortüm, wenn's Ihre Verwandten sagen, dachte ich, man dürfte schon darüber sprechen.«

Kortüm wandte sich und ging zum Fenster. Er sah hinaus, rührte sich nicht, hörte auch nicht, als Langloff sagte: »Na, denn alles Gute!«

Kortüm starrte in die Nacht. Er öffnete langsam das Fenster. Der Kolmberg deckte die Ferne zu, die Kortüm so liebte. Aber der Himmel gab dem Auge Raum. Hinter weißgeränderten Wolken stand der Mond. Eine stille Nacht. Kein Wind. Und dennoch sagte Herr Kortüm: »Wie ruhig war das in der Gruft unterm Marienchor. Nur ich und mein Vetter Torstenson – aber . . . der war ja tot.«

Dies war der zweite Abend.

 


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