Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Die Taufe der Gestirne

Mächtig stieg der Sommer aus den Tälern bergan. Unbewegt stand die heiße Luft unter den schwarzgrünen Tannenzweigen. Schatten im Freien erquickte nicht mehr. Jetzt wurde die Echostube ein Zufluchtsort der Gäste im Schottengelände, die ohne Rock und Weste mit aufgeknöpftem Hemdkragen mehrere Stunden gesundheitshalber herumlaufen mußten, bis sie mit allen Anzeichen beginnender Auflösung wieder anlangten und nach Erfrischung lechzten. Kortüm lobte seine Nordlage, besprühte den Rasenplatz vor der Tür mit dem kühlen Wasser des Püsterichbrunnens und schenkte ein treffliches eisgekühltes Gemisch dieses Quellwassers mit zartem Moselwein aus. In den beschlagenen dünnen Gläsern perlte der Trunk, und es war ein Genuß, vor dem ersten Schluck die Bläschen auf der zitternden Oberfläche leise sprühend zerspringen zu sehen.

Die beiden Wirte des Schottengeländes hatten rechtzeitig die Werbetrommel gerührt, um die Blicke der erholungsbedürftigen Mitwelt auf ihre Anstalten zu lenken. Freilich reichten Kortüms Mittel bei weitem nicht zu der Propaganda aus, die das Sanatorium entfaltete. Kortüm mußte feststellen, daß Doktor Langloffs Sanatorium gut besetzt war. Ebensowenig vermochte aber Langloff zu übersehen, daß die Sanatoriumsgäste Kortüms Echostube für ein vortreffliches Lokal hielten. Der Raum hätte noch einmal so groß sein können. Wer einen guten Platz haben wollte, mußte beizeiten kommen. Späte Gäste, die nur noch 577 in Restlücken nahe den Wänden Unterkommen fanden, beschmierten sich dann leicht die Ärmel mit Kreide, und ein körperlich etwas ungewandter Gast wie der gestern im Sanatorium eingetroffene und heute bereits in der Echostube nur mal zwischendurch einen kleinen Imbiß nehmende Superintendent Arcularius trug auf dem Rücken eine ganze Annonce fort. Aber Herr Kortüm eilte ihm mit der Kleiderbürste in der Hand nach. Persönlich bürstete der Echowirt die Anzeige von des verehrten Gastes Rücken. Ein Arcularius sollte über nichts zu klagen haben! Der erholungsbedürftige Superintendent hatte im »Kranichstedter Anzeiger« wiederholt Artikel über die Schönheit des Schottengeländes und die hervorragende Leitung des Sanatoriums gelesen. Er war mit seinem Freund Lichtermark in eine Besprechung unter vier Augen eingetreten. Eines Tages erfuhren die Gattinnen der beiden, daß es für den Pastor und den Professor höchste Zeit sei, endlich einmal auch etwas für sich zu tun. Die Freunde weilten nun ohne weibliche Fürsorge und Aufsicht im Flügelhaus, und es konnte nicht fehlen, daß sie mittags bei Diät im Sanatorium darbten und sich abends bei Kortüm wieder herstellten.

»Hören Sie mal, Verehrter«, sagte Arcularius zu Kortüm, der Strich für Strich sachgemäß die Bürste über des Superintendenten Rücken führte, »ist es nicht wunderbar, wie gewisse Ereignisse als der Persönlichkeit beigeordnet und anhänglich betrachtet werden müssen und die periodale Wiederkehr jener Vorkommnisse fast ein natürlicher und unabwendbarer Lebensprozeß zu sein scheint? Sie zum Beispiel, Herr Kortüm, waren immer fürs Abfärben.«

»Die Sonne, Herr Kortüm! Die Sonne!« rief Lichtermark. »Wissen Sie noch? Als Sie nach dem Brand im Sarkophag aus der Gruft von Sankt Marien heraufstiegen?«

»Wie man abfärbt, habe ich erst vor ein paar Tagen in Erfurt gemerkt«, murmelte Kortüm und bürstete stärker.

»Ist Ihnen dort Ähnliches zugestoßen? Hm. Nun, wie ich sage. Was uns im Leben begegnet, kommt nicht von außen: wir tragen unsere Erlebnisse in uns. Das reichhaltige Leben veranlaßt nur durch seine listenvollen Wendungen, daß wir die Erlebnisse zur Welt bringen. Ach ja, Herr Kortüm, Sie sollten uns doch bald mal wieder die Freude Ihres Besuches machen. Wer weiß. Es braucht ja nicht wieder Sankt Marien zu sein; Sie könnten vielleicht im Amtsgericht ein Geschäft haben oder in der Molkerei.«

»Wo es auch sei«, fügte Lichtermark hinzu, »Sie sind uns stets willkommen. Wir reden noch oft von Ihnen im ›Lamm‹. Die 578 Geflügelpastete übrigens vorhin – wundervoll. So leicht, so zart, so mild sättigend. Und Ihr Bordeaux, oh. Haben Sie meinen Namen auf das Flaschenschild geschrieben?«

»Ja, verehrtester Echowirt, man kann kaum erwarten, bis man den ersten Imbiß verdaut hat, damit der zweite eingenommen werden kann.«

Doktor Langloff ging in Mimis blitzblanker Küche auf und ab: »Ich mühe mich, die Gäste gesund zu machen, und dieser Kortüm in der vermaledeiten Echostube drüben vergiftet sie wieder. Immer umschichtig: Kortüm – Langloff – Kortüm – Langloff. Jeder von uns beiden hat sie zwölf Stunden in Behandlung, aber – es ist zum Verzweifeln: bei mir sind sie nachts, und von den zwölf verschlafen sie mindestens acht ohne irgendwelchen Konsum.«

Seit Müllers Sprengschuß das Kortümsche Selbstgefühl wieder freigemacht und seine Tatenfreude geweckt hatte, war die Lage im Schottengelände von Grund aus geändert. Den Gebäuden war äußerlich nichts anzusehen. Auch die Gäste befanden sich ausgezeichnet. Aber wirkliche Kenner der Verhältnisse wie Bilmes guckten hinter die Dinge und die Gäste und die Speisekarten und konnten von Kriegszustand reden. Vertraglich waren ja die Gemarkungen der beiden Wirte scharf abgesteckt – leider so genau, daß weder Kortüm diesem Langloff, noch Langloff diesem Kortüm an den Kragen konnte.

»Sieh dir den Echowirt an!« rief Langloff, »was wir mit Unkosten säen, erntet dieser Kerl mit Reingewinn!«

Herr Kortüm aber rief: »Sieh dir den Langloff an! Was ich auferbaut habe mit Geist und Phantasie, saugt dieser Kerl aus.« Er klatschte mit der flachen Hand an die Wand: »Flügelhausmauer! Jawohl! Und nicht einmal schlafen dürfen meine Gäste in meinen vier Wänden laut Vertrag!«

Monich stellte diese schroffe Ansicht richtig. Gewiß durften im Echobezirk keine Gastzimmer vermietet werden, aber in den inzwischen umgebauten Stuben des Lohberghauses wohnten Sommergäste. Ihr Schlaf wurde da oben nicht vom Vertrag berührt. Der Doktor Windhebel schlief schon vier Nächte dort und war durchaus zufrieden. Auch der Ingenieur Müller klagte nicht, und der letzt zugereiste Gast, der Metallbildhauer Schwartenmacher, gab seiner Genugtuung über das schöne Bett und die angenehme Aussicht bei jeder Gelegenheit Ausdruck. Die beiden letzteren Gäste, Müller und Schwartenmacher, weilten 579 allerdings nicht zu ihrem Vergnügen im Schottengelände. Müller baute die Brücke, und Schwartenmacher stellte in emsiger Arbeit das Kortümmuseum in den Fluren, Fremden- und Gastzimmern des Lohberghauses auf. Es ging dem Meister wirtschaftlich immer noch nicht zum besten. Er war bei Kortüm schlicht um schlicht zu Gaste, arbeitete ohne Honorar und aß, trank und schlief ohne Berechnung. Seine Tätigkeit war jetzt freilich wesentlich schwieriger als seinerzeit in den goldenen Tagen der »Silbernen Windfahne«, als Herr Kortüm uneingeschränkter Herrscher in seiner Behausung war. Jetzt mußte der Meister mit einer Wirtschafterin rechnen, mit Lotte Wingen, die wenig Empfinden für die Bedürfnisse der bildenden Künste besaß, namentlich wenn man sie ihr in Gestalt von unkenntlichen Bruchstücken anbot. Gleich in den ersten Tagen kam es zu einem heftigen Zusammenstoß. Bekanntlich leiden alle Museumsmänner an Platzmangel. Noch nie hat man von einem Museum gehört, das zu groß gewesen wäre. Auch Schwartenmacher ging mit tiefen Falten in der Stirn und einem Zollstock in der Hand im ganzen Lohberghaus herum. Aufstellen mußte er die Sammlungsstücke: das hatte Herr Kortüm zur Bedingung gemacht, und Kortüms Verpflegung war vorzüglich.

»Also wird aufgestellt«, sprach Schwartenmacher, ging in die glücklicherweise gerade unbewachte Küche, räumte die Aluminiumtöpfe von den Regalen und stellte seine Fundstücke auf: prähistorische Schüsseln und Krüge. Sprachlos vor Ärger fand Lotte am Nachmittag auf ihren Borden lauter unbrauchbare Töpfe. Die Gäste saßen schon draußen. Rasch räumte sie auf, warf die Scherben auf den Müllhaufen hinter dem Haus und kam mit den ersten zehn Portionen Kaffee gerade noch zurecht – die Gäste wollten schon aufstehen.

Schwartenmacher sträubte sich das Haar, als ihm das Aufwaschmädchen diesen Roheitsakt schilderte. Stundenlang kniete er nun vor dem Abfall und suchte mühsam heraus, was sich als nicht zeitgenössisch wenigstens noch einigermaßen sicher feststellen ließ. Er stellte die Schätze auf einem Tisch in eine Reihe, holte Herrn Kortüm und sagte: »Bitte, das – das! hat sie in den Müll geworfen!«

Kortüm schüttelte traurig den Kopf, sprach von weiblicher Ignoranz und Anmaßlichkeit. Er schwieg; eben kam Frau Wingen vorbei und trug in ihren Händen ein Kuchenblech. Sie hatte es eilig, der schützende weiße Papierbogen wehte ein wenig hoch, und ein Apfelkuchen wurde sichtbar, nur einen Augenblick lang, aber man sah es: ein Apfelkuchen, drei Zentimeter hoch, leuchtend gelb und golden braun, unten eine 580 Idee Teig und oben drauf Sulf. Lotte war mit dem Kuchen verschwunden. Die beiden Männer sahen sich an. Kortüm kaute mit den Zähnen, wie das seine Gewohnheit war und sagte nichts. Schwartenmacher blähte ein wenig die Nasenflügel: noch schwebte ein Ruch von Kuchenduft um sie.

»Meister«, begann Herr Kortüm, »wir schaffen diese Museumsgegenstände einstweilen in das Zimmer des Doktor Windhebel. Er ist ein Gelehrter und wird sie nicht beschädigen.«

»Bloß wegen einer Frau, die keine Ahnung hat von Kunst und Altertum?!«

»Haben Sie den Apfelkuchen gesehen? Spüren Sie seinen Duft noch? Dagegen kommen wir nicht auf mit Prähistorik. Der Apfelkuchen ist da, und diese zerbrochenen Gegenstände, soviel sie uns bedeuten, waren einmal da. Frauen, die solche Apfelkuchen backen können, haben diese Erkenntnis im Gefühl, denn sie selber sind ja derart da und gegenwärtig auf Erden, daß unsereiner alle Mühe hat, neben ihnen vorhanden zu bleiben, Meister.«

Murrend gehorchte Schwartenmacher. Kritisch begutachtete er von jetzt an Lotte Wingens Taten und Erzeugnisse. Einmal war der Kaffee zu dünn, die Linsensuppe zu dick, die Milch nicht rahmartig genug.

Die Kritik half ihm nicht. Lotte ärgerte sich nicht, sondern lächelte nur: ein Metallkünstler verstehe etwas von Blech, was aber einen Kaffee, eine Linsensuppe und eine Rahmmilch genießenswürdig mache, das wisse sie, Lotte Wingen. Herr Kortüm mußte mehrfach am Tage aus der vollbesetzten Echostube auf den Lohberg eilen, um Meinungsverschiedenheiten zu schlichten, denn Lotte gab nicht nach, hatte außerdem Schwartenmachers Tätigkeit mehrfach für dummes Zeug erklärt, und wenn der Meister sich an seinem künstlerischen Gewissen gepackt fühlte, hörte man seine zornige Stimme über das ganze Schottengelände schallen. Trotz solcher und anderer Ruhestörungen schienen sich die Gäste beider Wirte äußerst wohl zu fühlen.

Kortüms engere Tafelrunde auf dem Lohberg rückte an milden Abenden ihren Tisch ins Freie. Es saß sich gut auf dieser Höhe. Repshagen freilich klagte über den steilen Aufstieg. Er wohnte in der »Forelle« in Esperstedt. Das Auto konnte ihn nur bis zu der Stelle bringen, wo der schmale Lohbergpfad begann.

Pustend kam er oben an. Der Ingenieur Müller schüttelte den Kopf: »Setzen Sie sich, Herr Repshagen. So. Nicht reden. Erst das Herz wieder beruhigen. Hier gehört ein Aufzug her, Herr Kortüm.«

581 »Wäre eine Sänfte nicht wesentlich billiger und sachgemäßer in diesem Terrain?« fragte Windhebel.

»Im Rathausschuppen in Ilmenau unten steht je noch so 'n Ding«, meinte Monich. »Frag doch, was es kostet, Kortüm.«

Zweckdienlichen und fortschrittlichen Neuerungen war Herr Kortüm nie abgeneigt: »Sänfte, hm. Man hat sie nicht mehr. Aber hier wäre sie praktisch und billig. Dazu distinguiert.« Er versprach, die nötigen Schritte zu tun.

»Aber gleich morgen früh. Der Berg is bannig steil«, ächzte Repshagen.

Müller sah die Herren der Reihe nach an in der Erwartung, daß sie nun allzusammen in ein Gelächter ausbrechen würden. Nein, sie lachten nicht.

»Erlauben Sie«, begann er, »wer trägt denn heutzutage eine Sänfte mit Herrn Repshagen drin?«

»Vorne Bilmes«, sagte Monich, »un hinten Kersch. Großartig. Kostet so gut wie nischt, un nich drei Minuten, un Herr Repshagen is oben.«

Arcularius war diesen Reden aufmerksam gefolgt: »Man sieht, meine Verehrten, es gibt bleibende Werte. Wir leben in der Epoche der Blitzbahnen, Autos, Flugzeuge und elektrischen Aufzüge. Aber in gewissen Formationen und unter gewissen Bedingungen entsprechen die Unkosten solcher Apparate nicht ihren Leistungen. Wer hätte gedacht, daß die alte ehrwürdige Sänfte es ist, welche in Hinsicht des schmalen steilen Lohbergpfades und unseres lieben, etwas korpulenten Mitgastes Repshagen alle Errungenschaften der Neuzeit weit hinter sich läßt. Mit Büchern ist es nicht anders. Lesen Sie die älteren Philosophen oder Dichter, meine Herrn: Sie glauben in einer Sänfte zu sitzen, und Sie kommen in gewissen Lagen eher an, reisen sicherer und haben weniger Spesen als bei Benutzung neuerer philosophischer oder dichterischer Verkehrsmittel.« Arcularius verbreitete sich mit unendlichem Genuß über dieses Thema und schloß: »Zudem, meine Lieben, kommt ja Herr Repshagen nur abends. Dann ist es dunkel, und man sieht die Sänfte gar nicht.«

»Hoffentlich is sie nich wurmstichig«, meinte Monich, »daß Herr Repshagen keinen Unfall hat un etwan unten durchfällt.«

»Da sehen Sie, wie recht ich mit meinem Vergleich hatte!« Arcularius war sehr erfreut, seine Darlegungen ergänzen zu können: »Ein Unfall mit einem neueren Verkehrsmittel ist eine Katastrophe: was aber hat ein Unfall bei dem gemäßigten Tempo eines älteren Vehikels 582 zu bedeuten? Nichts! Denn das alte Fahrzeug hat sein Maß genommen an der menschlichen Natur, nicht an der Wolke oder dem vom Sturme verwehten Staubkorn. Gewiß bringen wir es weit, aber, Verehrteste – weit von uns weg. Lassen Sie wirklich unseren lieben Repshagen durch den Boden der Sänfte fallen –«

»Na, hören Sie mal –«

Herr Kortüm schnitt diese unfruchtbare Erörterung kurz ab: »Man prüft das Vehikel vorher auf seine Verkehrssicherheit. Wir haben ja die Freude, einen Fachmann in unserem Kreise zu wissen, einen berühmten Ingenieur. Nicht wahr, Herr Müller, Sie würden die Sänfte einer Durchsicht unterziehen?«

Müller hatte das deutliche Gefühl, in einem Kreise von Irren zu sitzen, die entsetzlicherweise infolge besonders gelagerter Verhältnisse recht hatten. Freilich war diese lächerliche Sänfte für diesen sparsamen Wirt mit seinen großartigen Gebärden und für diesen dicken Repshagen mit seinem kurzen Atem auf diesem schlecht angelegten steilen Bergpfad das billigste und beste. Und der Ingenieur fragte sich, ob es seinem Ruf nicht schaden könne, wenn er in diesem Kreise weiter verkehre und gesehen würde. Aber der Kreis war doch merkwürdig reichhaltig; drei Gästeklassen wären zu unterscheiden, sagte Kortüm eben, die Echogäste, die Langloffgäste und drittens die Diätgäste, welche im Sanatorium wohnten und sich in der Echostube nur restaurierten.

In der früheren Zeit war Herr Kortüm die mächtige Klammer gewesen, welche das Flügelhausganze umfaßte und zusammenhielt. Heute saßen im Flügelhausbezirk zwei Wirte: der eine hatte Geld, der andere besaß nur sich. Aber man sah es: Kortümsein ist auch ein Wert. Er hatte keine Orden, keine Titel, kein Kapital – aber er war etwas, auch in ausgefransten Hosen. Der Herr des Flügelhauses entfaltete in dem ihm verbliebenen Arbeitswinkel eine Wirtskunst und eine Wirtsgüte, die der Sanatoriumsleitung vom Doktor bis zur Tante Elvira angst und bange machte, da sie nun auch das Lohberghaus, die bisher nicht ernst genommene »Unterkunft«, zu einer gutgehenden Wirtschaft sich entwickeln sahen. Schon hatte man erfahren, daß Frau Wingen, die Wirtschafterin, ganz aufs Lohberghaus ziehen werde. Auch dieser Kortümbetrieb verlangte und lohnte also bereits eine dauernde Beaufsichtigung. Kortüms Leistung als Wirt hielt die Gästegruppen dauernd in Fluß. Gestern sahen die Gäste im Sanatorium ein, daß es gut ist, halb zehn zu Bett zu gehen. Heute waren sie morgens halb zehn noch nicht beim Frühstück, weil sie am Abend vorher unter der silbernen 583 Windfahne, am Püsterichbrunnen oder zu Füßen der steinernen Nadel einen ungemein anregenden Abend verbracht hatten. Kortüm führte Tabellen, von denen die jeweilige Hinneigung der ambulanten Gästegruppe auf einen Blick ablesbar war wie die Temperaturkurve auf den Tabellen in Krankenhäusern.

Windhebel unterzog Kortüms Tabellenwerk einer kritischen Durchsicht: »Die Namen der Gäste. Ganz gut. Aber hier stehen Zahlen. Was bedeuten sie?«

»Auch Gäste. Und zwar solche Herrschaften, die man leicht verwechselt. Früher benannte ich solche Herrschaften nach Zimmernummern. Die weiß ich jetzt nicht, da mein Flügelhaus zur Zeit ja von einem Pächter geführt wird. Deshalb gebe ich dieser Art Gast eine laufende Nummer. Der Reihe nach, wie sie ankommen, verstehen Sie?«

»Er tauft sie einfach um«, murmelte der Doktor.

»Ein Wiedertäufer«, sagte Lichtermark. »Was meinst du dazu, Arcularius?«

»Oh, Leberecht, so läßt sich der Mensch nicht umtaufen. Die Ziffer erreicht die Seele nicht.«

Mißtrauisch sah Müller den Superintendenten an, der bei seinen Worten eine gewaltige Tabakswolke über den Tisch geblasen hatte, um schon wieder neuen Qualm aus dem veralteten Porzellankopf seiner Pfeife zu saugen.

Auch Windhebel betrachtete den rauchenden Pastor, aber mehr nachdenklich: »Ja«, nickte er, »dieses Taufen. Es macht auch unsereinem zuweilen Not.«

»Ich glaubte in Ihnen einem Astronomen begegnet zu sein?«

Windhebel zuckte mit den Schultern: »Unsre verewigten Kollegen sind ja ursprünglich von einer Fakultät gewesen, Herr Pastor. Erst als die Sache komplizierter wurde, beschränkte sich der eine auf die Kanzel und der andere auf das Observatorium. Jedenfalls tauften unsre gemeinsamen heidnischen Vorfahren die Gestirne auf die Namen ihrer Götter: Jupiter, Mars, Neptun. Aber es gab viele Sterne: die Göttinnen kamen dran, Venus zuerst.«

»Wie höflich Heiden sind«, warf Lichtermark ein.

»Leberecht!«

»Mehr Sterne erschienen«, fuhr Windhebel fort, »die Halbgötter, die Halbgöttinnen mußten ihre Namen hergeben. Immer bessere Gläser errechneten die Optiker. Die berühmten Frauen der Geschichte sprangen ein. Die Refraktoren wurden aber noch gewaltiger.«

584 Einen seltsamen Anblick bot die Tafelrunde: Windhebel sah sinnend in sein Weinglas, aber alle anderen hatten die Köpfe weit in die Nacken gelegt und starrten hinauf in den sternbesäten Weltraum.

»Zu Hunderten tauchten die Asteroiden im Raume auf. Seltsame Namen wurden ausgesucht. Zuletzt sagte man sich: wir müssen sie auf Zahlen taufen.« Windhebel seufzte: »Ach ja, meine Herren, Zahlen sind gut, aber es gibt nicht nur bejahrte gesetzte Astronomen. Nein. Es gibt auch junge. Und was tut so ein Kerl auf der Sternwarte in Straßburg, der eben einen neuen Planetoiden im Andromedanebel entdeckt hat?«

Die Zuhörer senkten langsam ihre Köpfe in die normale Lage und blickten erwartungsvoll den Gelehrten an.

»Ja, was tut der? Seine Braut versetzt er unter die Sterne: Friederike nennt dieser Mensch den neuen Stern.«

»Darf er denn das?« fragte Herr Kortüm erschrocken.

»Wer entdeckt, benennt das Neue. Ein unbestreitbares Grundrecht. Aber die Folgen! Die Sache hatte nämlich einen Haken. Ein anderer, auch noch nicht vom abgeklärteren Jahrgang, einer von der Licksternwarte, wollte denselben Planetoiden einen Tag eher gesehen haben und hatte ihn nach seiner Geliebten getauft: Hannchen.«

»Oh!« sagte die Tafelrunde mitleidig, und der gute Leberecht fügte hinzu: »Konnten sie sich nicht auf Hannerieke einigen?«

Windhebel schüttelte den Kopf: »Prioritätsprobleme und Liebesangelegenheiten sind nie auf eine mittlere Linie zu bringen. Aus eins und zwei ist schnell Gamma gemacht, aber aus Friederike und Hannchen im Leben keine Hannerieke. Ersparen Sie mir die eingehende Schilderung dessen, was nun unausweichlich kam. Jahrelang boten die Dissertationen einen erbarmungswürdigen Anblick – ich bitte Sie, wenn man lesen muß: ›Riekchens Atmosphäre‹ oder ›Hannchens Umdrehung um sich selbst‹.«

»Lieber Gott.«

Kortüm war es, der wieder den Kern der Frage traf: »Und die beiden lebenden jungen Damen?«

»Riekchen hat einen Theologen geheiratet und Hannchen einen Gastwirt.«

»Ah! Dann hat der Mann auf der Licksternwarte recht gesehn!« entschied Herr Kortüm. »Lebt dieses Hannchen, das einen Gastwirt zum Manne nahm, noch? Geht es dem Ehepaar gut? Floriert ihr Geschäft?«

585 Windhebel lächelte: »Sie lebt noch. Der Mann ist tot. Aber sie ist inzwischen ein Stern im Baedeker geworden: das Savoy in Port Said bewirtschaftet sie.«

»Ha!« rief Kortüm. »Und die Straße?!«

»Quai François-Joseph.«

»Meine Herren«, Kortüm hob das Glas, »die Wirtin von Port Said!« Er suchte nach einem Blatt Papier: »Wir schicken ihr als späte Genugtuung einen Gruß! Ein Gastwirt, ein Superintendent, ein Astronom, Leinwandhändler, Gutsbesitzer, Musikant und Ingenieur – wie heißt doch gleich das lateinische Sprichwort: Per aspera – Herr Doktor?«

»Hm«, murmelte Windhebel, »ad astra. Schreiben Sie deutsch: Durch Sternennebel zur guten Wirtschaft.«

So schrieben sie in dieser Julinacht an Hannchen Savoy, den ehemaligen Planetoiden im Andromedanebel, zur Zeit Port Said, Quai François-Joseph.

 


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