Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Das lebende Bild

Ausgezeichnet«, sagte der Ingenieur Müller zu Herrn Kortüm, legte das Mundtuch neben den Teller und lehnte sich zurück. Kortüms Bewirtung wurde jeden Tag besser. Er übertraf sich selbst in diesen Wochen. Und doch hätte der Ingenieur, Messer und Gabel hinlegend, sagen sollen: Müller, das hast du gut gemacht. Aber selbst in dem durchdringenden Verstand des Ingenieurs dämmerte keine Ahnung, daß diese Höhe Kortümschen Wirttums keinem anderen als ihm, dem tüchtigen Müller, zu verdanken war. Der Langloffsche Stoß, dem im vorigen Winter Kortüms Flügelhausherrschaft erlegen war, hatte auch Kortüm selbst getroffen. Jene Tage, in denen er seinen weißhaarigen Kopf in den eisernen Rahmen des Dachfensters zwängte und Umschau zu halten versuchte, waren Kortüms gefährliche Zeit gewesen. Er war nahe daran, seine Fähigkeiten in Torheiten zu vergeuden, von denen er schließlich nicht mehr leben konnte. Es ist ja nicht so, daß ein Kortüm, der rings um sich Bewegung schaffen und das Leben in Gang halten 566 muß, um selbst zu leben, etwa eines Tages aus Mangel an Aufgaben erstickt oder zwei Helle mehr trinkt und abends Stammtischreden über die Zukunft Arabiens führt und also umgekrempelt fortlebt; der Motor in ihm dreht weiter, von der unbekannten Gewalt getrieben, immer weiter, und wenn der Kortüm an nichts Bewegenswürdiges mehr stößt, das sich in Gang bringen läßt, treibt er eben den Irrtum, ja den Unsinn um sich selber um. »Wunderbar verflochten ist das Leben derer, die Gott lieb hat«, mit diesen Worten pflegte Herr Kortüm Reden über günstige Schicksalswendungen einzuleiten; er sollte den Ingenieur Müller nur recht gut füttern und tränken – der Mann hatte es um ihn verdient. Dieser Müller, ein Techniker, war es, ganz ohne seine Absicht freilich, der Herrn Kortüm eine große Aufgabe wahrnehmbar gemacht hatte: die Ökonomie der gestauten Kräfte. Im seitenverkehrenden Spiegel der Maschinenmechanik hatte Kortüm sich plötzlich wieder richtig zu sehen bekommen, war wieder zum Bewußtsein seiner selbst gebracht. Nun fühlte er mit seiner Existenz auch seinen Beruf wieder. Herr Kortüm verbreitete Wohlbehagen in weitem Kreis um sich herum wie kaum in seinen besten Tagen.

Man aß vorzüglich in der Echostube. Ein paarmal hatte Müller auch im Sanatorium das Mittagsmahl eingenommen, und er mußte zugeben, Elvira, die Wirtschafterin des Doktor Langloff, kochte gut; Mimi Langloff reichte auf Wunsch eine bemerkenswert bekömmliche Diätkost. Aber Lotte kochte besser. Und Kortüm konnte kleinere Preise nehmen, denn seine Unkosten lagen ja erheblich niedriger. Was ihm an Liegehalle und Konversationsraum abging, ersetzte er durch jene breite ruhevolle Art des unauffällig noblen Auftischens, das er in den großen Hotels der englischen Kolonien erlebt hatte. Immer mehr Gäste des Sanatoriums nahmen »wenigstens eine Mahlzeit« in der Echostube, und daß die männlichen Gäste ihren Abendwein in Kortüms Gaststube tranken, braucht nicht erst gesagt zu werden. Zu fast allen Stunden des Tages aber kamen dazu die Einwohner des Schottengeländes, welche nach den neusten Anzeigen auf den Inschriftenwänden Ausschau halten wollten – sämtlich Leute mit ansehenswerten Köpfen und so anhörenswerten Meinungen, wie man sie in Konversationsdielen nicht vernimmt. Eine eigene Art von Gästen sammelte sich in der Echostube, Leute mit Gesicht, die ihresgleichen nach sich zogen. Nie hatte sich die silberne Windfahne unter dem freien Himmel über einem so befriedigten und zusammengehörigen Kollegium gedreht wie jetzt unter dem sonnenlosen Gewölbe dieser Gaststube.

567 In dem alten Kapitän befestigte sich von einem Besuch bei seinem Sohn zum anderen stärker die Ansicht, daß die Echostube verdammt gut sei. »Mein Junge, die Echostube müssen wir je eher je lieber dicht machen. Laß man. Der macht schon mal wieder eine Kapitaldummheit – dann aber zugreifen.« Der Kapitän sah sich in dem eleganten Speisesaal um und schüttelte den Kopf: »Das hier ist man alles 'n bißchen frostig. Zuweilen auch notwendig. Aber an seinem Ort. So'n großartiger Stil hat leicht so was Kleinleutehaftes, weißt du? Das ist wie beim Schiffbau. Sieh dir heute so'n Luxusdampfer an – alles hochfein, daß es gar kein Schiff mehr ist. So vor zweihundert Jahren, da haben sie Kajüten bauen können. Massiv Mahagoni, silberne Öllampen, Balkendecke, schräge Wände: wunderbar.« Er wies auf die Wände des Saales: »Wer das entworfen hat, versteht weder was vom Essen noch vom Trinken. Reißbrett. Alles fürn Photographen. Nicht für die Gäste. Und nun sieh dir mal die Echostube an.«

Den Langloffs machte die Echostube Beschwerden, aber Kortüm stak längst in anderen Sorgen. Immer öfter stand er auf dem Lohberggipfel und sah prüfend das Lohberghaus von allen Seiten an, dieses Unterkunftshaus, nach Südost gerichtet, schwer in Holz gezimmert auf einem Granitsockel, mit Schindeln gedeckt. Durch die Eingangstür betrat man den Flur, von dem es nach links in die Gaststube, rechts in den Speiseraum – beide aus gescheuertem Holz gezimmert – und hinten in die Küche ging. Den Oberstock hatte Kortüm für die nächtigenden Wanderer in kleine Kammern geteilt.

Kortüm nahm ein Blatt Papier und begann zu zeichnen. Rings um das Haus müßte eine breite Veranda laufen, deren Dach die Balkons für den Oberstock gab. Nahm nun Kortüm im Obergeschoß zwischen je zwei Kammern eine Wand heraus, so gewann er ordentliche Schlafzimmer. Die Unterkunftsräume konnten im Dach eingebaut werden. Er stieg in den Oberstock, öffnete ein Fenster und sah ins Land hinaus, dessen wälderbewachsene Hügelwellen weit draußen am Horizont verschwammen. »Warum wohne ich eigentlich nicht hier?« Ach ja, in dem grimmigen Wunsch, nicht von den Mauern seines Flügelhauses zu weichen, hatte er die Möglichkeit schöner zu wohnen, gar nicht erwogen. Hier oben auf dem Lohberg hätte er nicht eingemauert gesessen, aber von seines Pächters Taten würde Kortüm erst recht nichts gesehen haben. Vielleicht mit Hilfe eines Fernrohres. »Ich werde den Doktor Windhebel noch einmal daran erinnern. Er wollte sich umtun nach einem solchen Glas für mich.«

568 Kortüm nahm einen größeren Bogen, zeichnete das Lohberghaus mit ungelenken Strichen und setzte die Veranden und Balkons daran. Er war sehr zufrieden mit der Wirkung. In den nächsten Tagen verschönerte er den Entwurf immer mehr. Zuletzt stand ein säulenumgebener Tempel auf dem Papier. Auf das Holz kam es Kortüm nicht an. Das besaß er. Nur die Arbeitslöhne; besorgt sah er Meister Lorenz die Brille aufsetzen und rechnen. Lorenz rechnete, dann knurrte er eine Weile und schließlich griff auch er zum Zeichenstift und begann in Kortüms Linien hineinzuzeichnen. Kortüm sah ihm über die Schulter und rief: »Halt!« Aber Lorenz zeichnete weiter. Der Säulentraum verwandelte sich unter des kundigen Meisters harter Hand in Reihen von ungehobelten gebeizten Rohbalken, die das Verandendach trugen, die Säulenkapitäle – Kortüm hatte die ionische Ordnung gewählt – verschwanden ganz, sogar das über die Kapitäle vorkragende Gebälkprofil radierte der Meister weg. Nichts blieb übrig als ein Berghaus, um welches eine breite Veranda lief, deren Dach mit einem schlichten Balkongitter umgeben war.

»Nein«, sagte Herr Kortüm.

»Ja«, sprach Lorenz und setzte hinzu: »Viertausend Mark runder Summe, und es steht da.«

Das war nun freilich ein Wort, welchem nicht leichtherzig ein Nein entgegenzusetzen war. Wenn der Umbau für viertausend Mark hinzustellen ging, konnte Kortüm ohne weiteres anfangen. Die Echostube brachte Geld. Dazu kam Langloffs Pacht. »Meister, fangen Sie an.«

Der Auftrag war gegeben, aber noch war Herrn Kortüm nicht ganz frei ums Herz. Was würde Frau Wingen sagen?

Kortüm kostete den Streuselkuchen, den sie eben aus dem Ofen brachte. Er lobte ihn über die Maßen. Er schlürfte den Kaffee und fragte, ob sie etwa die Bohnen frisch geröstet habe. »Solchen Kaffee habe ich lange nicht getrunken!«

Dann zog er ein Bündel Papiere aus der Tasche, legte sie auf den Tisch, sprach: »Was ich eben noch sagen wollte«, und bat Frau Wingen, doch Platz zu nehmen und den Kaffee mit ihm zu trinken.

Lotte band die Schürze ab, setzte sich, trank, biß von dem Kuchen ab, und Herr Kortüm begann zunächst zu sprechen von dem Grundbedürfnis eines jeden Menschen, in die Ferne zu schauen. Er sprach sehr gewählt und allgemein und kam Satz für Satz von des Meisters Lorenz Anschlag weiter weg. Aber die Zeichnungen waren auf Pauspapier kopiert, Lotte sah wie durch einen leichten Schleier, jedoch 569 hinreichend klar die stattliche Zahlenkolonne und deren Endsumme, welche zweimal mit Lineal unterstrichen war, und während Kortüm noch verweilte bei der Ursehnsucht aller menschlichen Gäste, möglichst hoch zu sitzen beim Erholen, wußte sie längst, worauf die lange Rede hinauslief. An der Unterlippe nagend, überlegte sie. Kortüms einleitende allgemeine philosophische Betrachtung über Weitblick und Hochsitz hörte sie gar nicht, sah angespannt vor sich hin, aber der Echowirt freute sich von Herzen über die aufmerksame Zuhörerin. Wenn sie noch eine halbe Stunde so sitzen blieb, wollte er die Sache schon kriegen. Wie beiläufig blätterte er eine der Zeichnungen auf, kam auf die alten Ritterburgen zu sprechen, die auch nicht ohne Grund so hoch auf Gipfeln gelegen und ihren Inhabern eben wegen des Weitblicks über die Straßen der Kaufleute einen nicht zu verachtenden Gewinn eingebracht hätten. »Sehen Sie, Frau Wingen, genau wie jene hochsituierten Raubritter müßte eigentlich auch ich –«

»Es kommt drauf an, was die Bauerei alles eingerechnet kostet«, sagte da plötzlich diese Frau zu Herrn Kortüms nicht geringer Überraschung.

»Oh!« Kortüm bediente sie sogleich mit Zahlen, von denen eine niedriger war als die andre, und schloß: »Das Balkongitter könnte man ja selber streichen.«

»Wenn Sie es bar bezahlen können, macht sich's gewiß bezahlt. Zur Kaffeezeit ist da oben kein freier Stuhl zu finden. Die Gäste vom Sanatorium kommen alle.«

»Frau Wingen«, Kortüm strich seine Pläne ein, »Sie haben bei Ihrer Tätigkeit in meinen Betrieben bereits einen Blick bekommen – nein nein, allen Respekt: Sie unterscheiden das Wesentliche schon vom Unbedeutenden, zum Beispiel von den wenig bedeutenden Unkosten, die in diesem Falle erwachsen.«

So. Nun wäre noch Monichs Zustimmung erwünscht. Dieser Monich setzte seit dem Einholen der silbernen Windfahne allen Neuerungen Kortüms eine unausstehliche Dickfelligkeit entgegen. Kortüm hielt auch im Falle Monich die zart diplomatische Behandlung für die aussichtsreichste. Als er den Feuerhauptmann abendschoppenfreudig ums Tanneneck biegen sah, befahl er, das kleine Gebinde Münchner anzustechen, begrüßte den Freund nach guter Wirtssitte schon unter der Tür und setzte sich mit ihm in eine stille Ecke.

»Also, Kortüm, da is 'ne eigne Sache. Horche mal –«

»Dies nachher, Monich. Die Sache ist die –« Kortüm begann. 570 Diesen Mann, dem der Sinn für Hochsitz und dergleichen gänzlich abging, mußte Kortüm von einer anderen Seite nehmen. Er beschwor die Erinnerung goldener Stunden: »Weißt du noch, mein Museum?«

»Natürlich, Kortüm. Das weiß ich noch.« Er griff nach der Tasche. »Denke mal, da krieg ich heute –«

»Nachher, Monich. Wie wir es aufstellten? Es war im Winter. Schmeckt dir das Bier? Sehr gut, wie? Ja, da war doch der Metallkünstler, dieser Schwartenmacher –«

»Hä, wo steckt'n eigentlich der Kerl jetzt?«

»Er wird bald wieder unter uns weilen.«

»Wann kommt er denne? Mit dem ließ sich's sitzen.«

»Bald kommt er, Monich. Eher, als du denkst. Meine Sammlungen, in Kisten verpackt, auf dem Boden; ist das nicht erbärmlich?«

»Je, hier is kein Platz.«

Kortüm erinnerte an den prähistorischen Punschtopf, an die vielen durchtrunkenen und durchrauchten Stunden der Numerierung und Beschriftung von Kortüms zerbrochenen Gegenständen. Monich wurde weich: »Verdammig, das war 'ne gute Zeit dazumals.«

»Eine schöne Zeit. Wir beleben sie neu. Wir rufen sie zurück! Wir stellen die Museumsschätze wieder aus!«

»Wohin denn?«

»Ins Lohberghaus, Monich.«

»Da is doch erst recht kein Platz.«

»Und der andere Museumsgegenstand, Holdermanns Porträt von mir! Auch dieses –«

»Donnerwetter, Kortüm – du hast mich ganz abgebracht. Verflucht, da hätte ich je beinahe die Hauptsache vergessen. Aber mit deinem Bild hast du mich wieder drauf gebracht.« Er wühlte in den Taschen: »Da hab ich's.«

Er brachte ein etwas zerknittertes Blatt aus einer illustrierten Zeitschrift zutage: »Hähä, nu gucke mal. Wer is'n das?«

Nur einen Blick warf Kortüm auf das Papier: »Monich!«

»Siehst du. So kam mir's auch gleich vor.«

»Wie kam es dir vor?«

»Nu, daß du das bist!«

»Ich habe mich ja aber gar nicht photographieren lassen.«

»Das is es je! Das bist du gar nich!«

»Wie ich leibe und lebe, Monich!«

»Nee. Du nich. Dein Ebenbild bloß.«

571 »Ich bin nur einmal da!«

»Von heute an zweimal, Kortüm.«

»Einmal! Jeden Menschen gibt's nur einmal!«

»Kortüm, was ich sage: dein Ebenbild. Un damit gut. Gucke doch erstmal hin, was drunter steht.«

Kortüm las: »Wilhelm Lerp in der Rolle des Andermann – zur Erstaufführung des Worldfilms ›Andermann‹ in Erfurt.«

Ratlos blickte Kortüm auf, sah Monich an, sah Lerp – nein, sah Andermann – nein, sich sah er an.

»Siehst du. Aber ich habe dir's gleich gesagt, laß dich nich mit dem Film ein. Du weißt nich, was dir da passieren kann. Nu gehst du zweimal rum, Kortüm: einmal im Schottengelände und zu gleicher Zeit in Erfurt. Un wer weiß wo noch.«

Eine Weile lag tiefes Schweigen über dem Tisch. Immer wieder nahm Kortüm das Bild und sah es an.

»Je«, meinte Monich.

»Findest du nicht, man hat mich gut wiedergegeben? Ich gleiche mir.«

»Wie ein Ei 'm andern.«

»Andermann. Hm, glaubst du, Monich, daß ich eine gute Rolle spiele?«

»Da werden wir gleich dahinter gekommen sein. Daß wir jetzt alle beide nach Erfurt fahren, is doch klar, Kortüm.«

»Ins Bioskop, Monich? Ich soll dasitzen und mich sehen?«

»Du guckst doch auch dein Ölbild an.«

»Das ist Malerei!«

»Un das in Erfurt is lebendig.«

»Lebendig? Ja, man kann's nicht anders nennen. Ob man will oder nicht. Eine gefährliche Zeit, Monich. Sie vervielfältigt die lebendigen Menschen – mich vervielfältigt sie! Ja ja! Wenn sie einen brauchen, den sie zeigen können, dann nehmen sie unsereinen. Monich, wir fahren nach Erfurt. Ich werde mich ansehen.«

Herr Kortüm traf mit Monich fahrplanmäßig in Erfurt ein. Sie gingen die Bahnhofstraße entlang, bogen in den Anger ein und blieben hier erschrocken vor der Plakatsäule stehen, welche die Straße schräg vor dem Regierungsgebäude schmückt. Da war Kortüm abgebildet, groß, aufrecht, im schwarzen Rock, die Perle im Halstuch.

»Komm, Kortüm. Schnell. Wenn dich die Menschen sehn, wie du dich da anguckst.«

572 In der Tat konnte jeder Schuljunge an Hand dieses Bildes an der Plakatsäule Herrn Kortüm als Andermann rekognoszieren, obgleich Erfurt eine große Stadt ist, in der die Menschen längst darauf verzichtet haben, den anderen zu kennen. Die Vereinigung vieler Lebewesen, die einander fremd sind, ist eine Wurzel vieler Übel, aber jetzt war das Fremdsein Kortüms Glück. Er verschwand unerkannt in einem Kaffeehaus.

»Monich – es ist ja erhebend, sich so als ein Vorbild verwendet zu sehen. Aber wiederum ist es auch lästig. Noch immer ist es sehr hell draußen.«

»Je, Kortüm, du fällst eben auf.«

Dies ging Herrn Kortüm gut ein. »Warum falle ich auf? Sieh mal, diesen Anzug habe ich mir vor sechs Jahren machen lassen. Müller, der Ingenieur Müller, sieht immer wie neu aus; aber hängt man den in bunten Farben an Plakatsäulen auf? Man tut es nicht. Man müßte es eigentlich, denn er kann Eisenbahnen im Irak bauen, und ich vermag nur ein genießbares Steak auf dem Rost zu braten und anständig aufzutischen. Aber so ist es: die wahre Werbekraft hat man in sich.«

Kortüm füllte die Zeit bis zum Beginn des Kinos mit Briefschreiben aus. Er wundere sich zwar, schrieb er an Utzenstorff, daß man ihn auf seine Vorführung nicht vorbereitet habe, freue sich jedoch, einen solchen Eindruck auf die World gemacht zu haben.

Rechtzeitig standen sie an der Kasse. Kortüm wählte Logensessel. Er kannte diese Plätze vom Theater her. In Logen saß man etwas verborgen; je teurer die Karten, desto zurückgezogener saß man. Auch ließen ich kleine rote Vorhänge vorziehen. Beim Betreten des Kinos mußte Herr Kortüm jedoch bemerken, daß er einen Platz belegt hatte, den man im richtigen Theater Mitte Mittelbalkon erste Reihe nennen würde. Im Kino sind solche Plätze weniger beliebt. Man geht nicht ins Kino, um gesehen zu werden. Kortüm und Monich saßen denn auch völlig einsam auf ihrem prachtvollen Balkon. An der Decke vor ihnen strahlte der Kronleuchter, links und rechts hinter ihnen schimmerten zwei Wandleuchter.

»Ich gehe wieder, Monich.«

In diesem Augenblick wurde es dunkel im Saal.

»Siehst du, Kortüm. Immer Ruhe. Deshalb gehn je die Leute ins Kino, weil's schummerig is.«

Zunächst gab es bunte Reklamebilder zu sehen. Dazu machte ein Apparat scharfe Musik.

573 »Wie in Sankt Pauli, Monich.«

Kortüm war sehr erleichtert, daß der Kronleuchter, eine Pause andeutend, nur kurze Zeit aufleuchtete und in der wohltätigen Dunkelheit nun die Werbebilder für den Andermannfilm abrollten. Ein Ozeandampfer – Andermann im Liegestuhl die Times lesend.

»Wie findest du mich, Monich?«

»Alles, was sein kann.« Monich lachte so laut, daß ihm Kortüm einen Stoß gab. »Gucke mal, wie du da 'n Dampf aus der Zigarre bläst. Genau so, wie du's machst, hähä.«

Die Leute sahen sich nach dem fröhlichen und offenbar bereits jetzt schon befriedigten Zuschauer um. Kortüm stieß ihn noch einmal an. Aber schon erschien auf der Wand der elegante Liebhaber. Eine reizende junge Dame zeigte sich im nassen Badeanzug. Dann frühstückten die jungen Herrschaften in einem herrlichen Hotel. Ein sogenannter Seebär trat auf und spuckte über die Reling. Die übrigen Darsteller wurden kürzer vorgeführt. Nun blitzte das Licht im Saal wieder auf, und der größere Teil des Parketts drehte sich noch einmal herum, um die zwei Herren auf dem Mittellogenbalkon richtig anzusehen. Man tuschelte, man drehte sich mit dem ganzen Oberkörper herum. Herr Kortüm fühlte zum zweiten Male in seinem Leben, was es heißt, wenn einem eine große Menschenansammlung genau in die Augen zu sehen versucht. Damals, auf dem Marktplatz in Jena aber, hatte Kortüm handeln können, da war beinahe Revolution ausgebrochen; aus Mimis Augen rollten Tränen, und Kortüm hatte einen gewaltigen Zorn im Leibe gehabt. Jetzt saß er einsam und wehrlos mit Monich auf dem leeren Logenbalkon, konnte gar nichts tun, nur sich ein wenig zurücklehnen und scheinbar gelassen auf einen angenommenen Punkt blicken. Gerade diese Haltung jedoch glich so völlig dem Times lesenden Andermann, daß die Besucher einig waren: »Er is es.« Der Lichtspielhausdirektor kam in seine Nähe, um eine Verbeugung anzubringen und das Programm zu überreichen. Kortüm starrte unbeweglich auf die imaginierte Times. Der Direktor mußte sich begnügen, das Programm Monich einzuhändigen. »Das is er ganz bestimmt«, sagte das Publikum und bewunderte die großartige Haltung des Herrn Kortüm, der seinerseits das Tuscheln in der Tiefe nur zu gut hörte. Die Lage wurde ihm unerträglich. Ohne sich sonst zu rühren, machte er eine kleine Handbewegung zum Direktor hin:

»Bitte weiter.«

Der Mann eilte fort. Da Kortüm aber noch nicht seine weißen 574 Wildlederhandschuhe ausgezogen hatte und einen schwarzen Sommermantel trug, machte gerade dieser weiße Handschuhwink vor dem Rot und Gold des Hintergrundes einen überwältigenden Eindruck. »Da habt ihr's, er is es.«

Die Aufführung in Erfurt begann für den Direktor unter glückverheißenden Vorzeichen. Das Publikum war aufs höchste gespannt. Die Handlung enttäuschte auch nicht. Sie enthielt alles, was im Leben vorkommen kann: reicher junger Mann und reiches junges Mädchen lieben sich und kriegen sich nur deshalb nicht gleich in der ersten Szene, weil eine Bande hocheleganter Mädchenhändler furchtbare Pläne schmiedet, welche Andermann, der eine leise Altersneigung für das Mädchen spürt, mit starker Hand im Hafen von Karatschi, wo gerade ein Erdbeben stattfindet, zerreißt. In den Trümmern der Kapelle des dortigen Grandhotels legt er das Mädchen in die Arme des Jünglings.

Eine dankbare Rolle für Andermann. Er bot alles, was man vom Greisenalter zu verlangen berechtigt ist: Entsagung, Gelassenheit, Weisheit, unergründliche Menschenkenntnis, die schlechthin alles voraussieht, dazu Todesverachtung, tiefes Verständnis für die Seele des Vierundzwanzigjährigen, feinstes Gefühl für ein zwanzigjähriges Mädchenherz, ja, und beliebig viel Geld natürlich, das er jederzeit für edle Zwecke zu opfern bereit ist. Ende.

Herr Kortüm erhob sich, zog die weißen Handschuhe straff und schritt, gefolgt von Monich, die läuferbelegte Treppe hinab, auf deren unterster Stufe der Lichtspielhausdirektor stand und eine Verbeugung machte. Der Vorraum stand voll Menschen. Kein lauter Zuruf wie in Jena wurde hörbar. Dazu waren die Leute noch zu ergriffen. Aus großen Augen sahen die jungen Fräulein Herrn Kortüm an: ob er auch mich retten würde? Die Jünglinge betrachteten Herrn Andermann von der Seite: so einer könnte mir helfen. Andre dachten: wo er sie doch auch geliebt hat. Alle aber grüßten Herrn Kortüm achtungsvoll, der langsam durch die Menge schritt.

Auf der Straße atmete er die frische Nachtluft ein.

»Dunkles oder Helles, Kortüm? Da drüben, im Augustiner: Kortüm, das zischt, wenn's auf die Zunge kommt.«

Herr Kortüm hörte nicht. Er schritt den Anger entlang. Kleine Gassen durchwanderte er, über Brücken ging Kortüm, unter denen Mühlwasser rauschten. Jetzt standen sie auf dem Riesenplatz vor dem Dom. Verdrossen war Monich seinem Freunde gefolgt.

»Ja, Monich – das Kino hat sich doch sehr verändert. Wenn ich 575 da an die Bude in Sankt Pauli denke –«, er ging auf die Domtreppe zu.

»Willst du etwa auch da noch nauf?«

»Es ist ja eigentlich Unsinn, Monich. So sieht es gar nicht aus in Karatschi. Ich kenne den Hafen. Und die englischen Soldaten schießen auch zu gut für so ein Vorkommnis wie da am Quai. Überhaupt Zivilisten bei Erdbeben . . .«

»Kortüm, weiter geh ich nu nich.«

Herr Kortüm setzte sich auf die Rampe am ersten Treppenabsatz: »Nein. Weiter nicht. Nur ein wenig Luft noch. Damit man's wieder los wird.«

»Da drüben, wo die Lampe brennt, siehst du's? Da weiß ich auch 'n ganz passabeln Ausschank.«

»Ich habe sehr viel Gutes getan in dem Stück. Alles in zwei Stunden, immer hinternanderweg.« Kortüm dachte an alle die Szenen, in denen er im letzten Augenblick noch das Verhängnis aufhielt. »Merkwürdig, die Leute haben es geglaubt. Hast du es auch geglaubt, Monich?«

»Nu, 's war je mannichmal 'n bißchen bunt, aber 's hat einen doch mächtig aufgeregt.«

»Aufgeregt? Warum kann man eigentlich nicht die wirklich gute Tat, die unsichtbare Tat, im Theater sichtbar machen? Sieh mal – Frau Wingen, wenn die ein Loch im Strumpfe stopft und sich und zwei Kinder, ohne ein Wort zu verlieren, durchs Leben schlägt, ist mehr als Karatschi, Andermann und Erdbebentrauung.«

»Je, was wir wirklich tun, das sieht eben niemand.«

»Da hast du's, Monich. Es ist doch bloß ein Bioskop.« Kortüm wollte die Erinnerung an das Schwindelspiel los werden, sah am Domturm hoch. Er zeigte hinauf. »Man kann sie nicht erkennen.«

»Die Glocke?«

»Die Gloriosa.«

»Wie sie die damals bloß da 'nauf gebracht haben!«

»Einfach, Monich. Mit dreihundert Zentner Steinen als Gegengewicht.«

»Na, un die Steine?«

»Die hat ein Delinquent hinaufgeschleppt. Die Erfurter haben ihm dafür das Leben geschenkt. Stein für Stein warf er in der leeren Glockenstube in einen riesigen Kasten, bis so viel Steingewicht oben war, wie die Gloriosa wog. Dann hatten sie leicht hinaufziehen.«

576 »Hm. Steine un Glocke: dasselbe Gewicht.«

Das Mondlicht beschien Turm und Dom strahlend weiß. Kortüm stand im Schatten der Severikirche. Nur seine weißen Handschuhe waren zu erkennen, die sich geisterhaft im Dunkeln auf und ab bewegten und den Gang der Lasten zeigten, die hier vor vierhundert Jahren an den Turmflanken schwebten. »Steine – Glocke, haha: die World – die Welt, Monich. Wie da zur Linken und zur Rechten des Turmes die beiden Riesengewichte schwebten und einander auslöschten – wie die eine Gewalt, sich senkend, die andere hob, doch keine mehr etwas selber wog – Steine, Glocke –«

»Eins wiegt so viel wie's andere.«

»Aber was läutet, Freund – das ist die Glocke

 


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