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Herr Kortüm hatte nicht nur die Krankheit überwunden, sondern auch die Folgen: das Testament, die Grabsteinanweisung und die Leichenrede waren vollendet. Er begann nun, die Verordnung des Arztes zu befolgen, um das Inkrafttreten seines letzten Willens nach Möglichkeit hinauszuschieben. Kortüm machte sich Bewegung. Frühmorgens zog er seinen alten Jagdanzug an, setzte das grüne Hütchen auf, ergriff den derben Rebenstock und stieg von seinem Berg hinab ins Flügelhausgelände und von diesem Schauplatz ehemaliger Taten ins Ilmtal hinunter. Kortüm erregte Aufsehen, als er in rüstigem Wanderschritt durch den Ort ging, das Ilmtal ein gutes Stück aufwärts und dann gegen Mittag die Hauptstraße Besenrodas in umgekehrter Richtung entlangwandelte – wohlig, gelenkig und erfrischt.
Dem alten Kapitän hatte gleich nichts Gutes geschwant, als er damals von der ärztlichen Verordnung seines Sohnes hörte. Ruhe hätte sein Sohn diesem Kortüm verordnen sollen. »Bewegt er sich erst, weiß niemand, wen und was er mitbewegt.«
Windhebel war abgereist, und Kortüm hatte sich heute ausgiebig bewegt. Auf dem Heimweg sah er vor dem Gasthof Fischer eine ansehnliche Menschenansammlung stehen, Männer und Frauen, die kleine Koffer in den Händen und große Rucksäcke auf den Rücken trugen. Ein Wanderverein, dachte Kortüm. Er kannte diese Vereine von früher. Sie wanderten immer vorbei am Schottenhof und ließen Kortüm nichts verdienen. Ein Mann mit einer Binde um den Arm las von 682 einem Zettel Namen vor: Vogel, Schwarz, Krause, Hofmann. Die Aufgerufenen gingen in den Gasthof.
»So«, sagte der Mann mit der Armbinde zu den Zurückgebliebenen, »wir gehn nu auf die Schottenhöhe.«
Kortüm trat an den Leiter heran: »Sie benutzen am besten den Goetheweg. Nächste Verbindung. Schattig. Keine Fahrzeuge.«
»Goetheweg«, murmelte der Mann und fuhr mit dem Finger auf seiner Landkarte herum, »Goetheweg . . . gibt's nich.«
»Auf Ihrer Karte nicht. Ich habe ihn erst kürzlich geschaffen. Kortüm«, sagte Kortüm und lüftete sein grünes Hütchen.
Der Fremde nannte seinen Namen: »Frieback.«
Der Reiseleiter Frieback schilderte Kortüm einige kleine Reisezufälle, welche die unvorhergesehene Unterbringung mehrerer Teilnehmer erforderlich machten. »Und nun wollen wir sehen, daß wir im Lohberghaus unterkommen.« »Ah!« rief Herr Kortüm, »das bin ich.« Die Reisegesellschaft hatte sich inzwischen im Kreise um Kortüm aufgestellt. Eine stattliche Zahl Besenröder bildete um diesen inneren Kreis von Zuhörern einen äußeren, der sich zusehends verstärkte. Mit Interesse vernahmen beide Kreise Kortüms Darlegung der Vorzüge des Lohberghauses. Der Wirt hob die augenblickliche Leere dieser Gaststätte hervor und lobte seine Küche, seine Betten, seine niedrigen Preise. Herr Frieback sprach: »Gemacht.«
Kortüm setzte sich an die Spitze des Zuges. Er führte ihn durch Besenroda, erläuterte die Sehenswürdigkeiten des Ortes: »In diesem Giebel sehen Sie noch eine Kanonenkugel aus den Befreiungskriegen. Das Rathaus dort ist in jenem heißen Sommer neunzehnhundertelf, dessen sich die älteren Herrschaften wohl noch erinnern werden, leider abgebrannt. Bitte beachten Sie die Wiederherstellung – Sie haben hier eins der abschreckendsten Beispiele der neueren Baukunst vor sich. Ansichtskarten davon bekommen Sie bei Frau Wolke. Gleich dort an der Ecke. In dieser Kirche gab der Dichter und Organist Friedrich Wingen sein letztes Orgelkonzert und verschied daselbst.« Kortüm leitete den Zug auf den anmutigsten Wegen zur Ilmbrücke, stellte sich in der Mitte der Brücke auf, hielt eine kleine Rede über die Bedeutung der Ilm: »Ilmwasser – meine Herrschaften, es bekommt nicht jedem, aber es ist was dran – ahh, Herr Apotheker! Bitte, meine Damen und Herren, wollen Sie etwas nach rechts treten, damit der Herr durch kann. So!« – und Herr Kortüm zog mit der Schar über die sonnigen blumengeschmückten Ilmwiesen, sprach im Gehen sehr lehrreich über 683 eine prähistorische Siedlung, welche hier gelegen haben sollte. Am Beginn des Goetheweges machte er abermals halt, zeigte auf die hohe Tanne oben rechts, unter der Goethe gesessen hatte, und gab eine kurze Darstellung der Entstehungsgeschichte des Goetheweges. »Ein herrlicher Bergpfad für Wanderer, den ich, wie schon vorhin bemerkt, voriges Jahr ins Leben gerufen habe.«
»Der redt wie 'n Buch«, sagte Frau Fischer.
»Das ham wir getroffen«, sagte Herr Becker.
Und Herr Vogel bemerkte: »Is eben 'n Einheimischer. Man hat da gleich 'n Bild.«
Während nun Kortüm den Fremden die Sehenswürdigkeiten von Besenroda und Umgebung zeigte, zog sich der übriggebliebene äußere Zuhörerkreis in der Besenröder Hauptstraße zusammen wie ein Gummiband, das sofort enger wird, wenn kein Widerstand es mehr dehnt. Mickewitz blieb stehen und hörte zu.
»Hat einer schon so was erlebt?« fragte jemand.
»Dazu rennt er 'n ganzen Tag in der Gegend rum? Der sammelt sich Gäste auf den Straßen auf?«
Der Apotheker nickte . . . Wie war das doch in dem alten Gleichnis von dem Gastgeber, der seine Gäste von der Straße holte, weil die Geladenen nicht kamen?
Kortüm aber zog an der Spitze seiner Gäste im Lohberghaus ein und rief: »Stannebein!«
In diesen Wochen des späteren Frühlings ließ sich der voraussichtliche Fremdenandrang der nahenden Saison an Hand der einlaufenden Anfragen bereits abschätzen. Das gesamte Schottengelände hatte Grund zur Sorge. Daß im Lohberghaus zunächst gar keine Anfragen einliefen, konnte nicht wundernehmen. Kortüms Werbearbeit war durch seine Krankheit und dann durch die Arbeit an seinem letzten Willen stark verzögert. Langloffs Büro brachte jedoch die Werbung rechtzeitig und planmäßig in Gang. Trotzdem verlangten nicht Erholungsbedürftige in ganzen Scharen, wie sie dieser Kortüm in der Gegend herumführte, den genaueren Kostenanschlag, sondern nur einzelne Neugierige. Schon im vorigen Geschäftsabschnitt mußte das Büro feststellen: »Es könnte besser sein.« In diesem Jahre drohte offensichtlich ein weiteres Nachlassen. Gab es nicht mehr soviel erholungsbedürftige Herrschaften wie früher? Irgend etwas schien sich verändert, umgeschichtet zu haben – nicht außen; tief drinnen im Geklüft des Geldgebirges mußten die 684 Wasser anders laufen. Sie liefen. Liefen kraftvoll. Aber offenbar flossen sie nicht auf das Sanatorium zu. Doktor Langloff grübelte nach dem Irrtum in seinen Berechnungen.
Der alte Kapitän grübelte nicht: »Sturm nimmt den Kapitän eines guten Segelschiffes nicht so mit wie Flaute. Windstille verbraucht die Nerven! Flaute, mein Junge. Also: Nerven.«
Er begab sich auf seinen Spaziergang. Der Alte trat fest auf. Ruhig schritt er gradeaus, denn er konnte sich ja jederzeit auf seinen Besitz setzen. »Nur Ruhe. An die Substanz geht mich das noch lange nicht.« Der Kapitän hatte lange Jahre, Jahrzehnte, an seinem Besitz gemauert und gemörtelt und war nun über dieser Mühe zu alt geworden, um sich von seinem Sohn, dem Arzt, dem Naturwissenschaftler, die Antwort geben zu lassen: »Substanz, Vater, scheint aber etwas Lebendiges zu sein . . . merkst du's nicht?« Ahnungsvoll schweifte das Auge des Doktors über neue geheimnisvolle Ebben und Fluten im Meer der Gästeschaft. Finanzielles und geistiges Kapital machen freilich hiebfest wie Lindwurmblut. Aber man weiß: sobald die Philosophen erst ihr geistiges Kapital in Systemen mündelsicher angelegt haben, bewegen sie sich innerhalb der Grenzen ihrer Systeme; Kapitalisten sind selten Hasardeure. An materiellem Kapital hatten die Langloffs nicht wenig in dieses Sanatorium gesteckt; sie bewegten sich nun eben auch innerhalb ihres Betriebes. Das Sanatorium war ein solides Unternehmen. Daß es vorläufig umständehalber nur auf einen Pachtvertrag hatte gebaut werden müssen, verschlug nicht viel. Wie es um Herrn Kortüm stand, wußte alle Welt: »Höher hinauf kann er nun nicht mehr.« Schottenhaus, Flügelhaus, Waage, Echostube – mit Kortüms fünfter Verwandlung war bald fertig zu werden. Was redete man schon hinter seinem Rücken: er läse die Gäste bereits auf der Straße auf, brächte sie zu billigem Preis in seine Herberge, treibe ja beinahe unlauteren Wettbewerb. So rechneten die Langloffs, so logen die Zuschauer; Kapital und Bewegung standen einander gegenüber wie Gold und Geld – anscheinend das eine das andre erwirkend, in Wahrheit ringend auf Tod und Leben.
Kortüm, der eben von einer Krankheit und einer Leichenrede genesene Kortüm, bewegte sich nach Anweisung seines Arztes Doktor Langloff mit anerkennenswerter Ausdauer weithin rundum im Freien. Monich sah mißtrauisch zu. Er kannte Kortüm genau. Stand es doch nicht so gut um seine Gesundheit, wie er immer sagte? Die Urlauber aber hatten einen wahren Schatz an dem solchermaßen beweglich gemachten 685 Kortüm gefunden. Er führte seine Gäste zu den schönsten Punkten der Umgebung und erzählte ihnen dabei unzählige Geschichten. Ja, eines Tages erkühnte sich Kortüm, das Flügelhausgelände an der Spitze seiner Schar zu betreten. Die Quelle zeigte er den Fremden, welche ja nun wieder aus einem Holzrohr floß vor der vermauerten Türe seiner ehemaligen Echostube. »Früher, meine Herrschaften, zu meiner Zeit, stand hier ein uraltes Götzenbild, der sogenannte Püsterich, dessen Besichtigung Sie oben auf dem Lohberghaus nicht versäumen wollen. Der Püsterich ist hohl. Ich benutzte ihn als Brunnenfigur. Das Quellwasser lief ihm zum Maul heraus. In grauer Vorzeit jedoch haben die Götzendiener Feuer in seinem Inneren angemacht. Er wurde unsichtbar von unten geheizt und die Flammen schlugen ihm zum Maul heraus – gewiß noch heute ein merkwürdiges Gleichnis auf den Menschen, meine Damen und Herren. Heute dient der Püsterich der Likörfabrikation. Er nähert sich also wieder seinem Urzweck. Das erzielte Destillat führt den Namen ›Püsterich‹ und hat sich seiner stärkenden Eigenschaften halber sehr aufgenommen. Der kleine Originaldestillierapparat genügt den Anforderungen nicht mehr. Wir verwenden deshalb eine moderne kupferne Doppelblase. Aber ich bin Alleinhersteller und bürge für stets gleichbleibende Qualität. Die Flasche stellt sich auf drei Mark fünfzig, der kleine Taschenflakon für Leidende, welche die stärkende Wirkung des ›Püsterich‹ auch unterwegs nicht entbehren wollen, auf eine Mark. Ich will Ihnen nun noch, meine Herrschaften, den eigentlichen Quellpunkt zeigen. Hier nebenbei, wo Sie die helle Stelle im Putz sehen, habe ich nämlich früher eine Tür besessen, welche in ein von mir bewirtschaftetes Lokal namens Echostube führte. Sie haben wohl schon von dieser Gaststätte gehört?«
Während der Lohbergwirt die weiteren Einzelheiten erzählte, führte er seine Gäste um den Westflügel des Sanatoriums herum und stellte sie in der Mitte des Schottenhofes auf.
Der Kapitän stand am Fenster des Speisesaales und sah sprachlos Kortüms Gäste an. Leise öffnete er das Fenster, um zu hören, was dieser Wirt so lange zu reden habe: »Alles das wirkt als Landschaft aus der Höhe betrachtet natürlich großzügiger. Man kann sich gar nicht oft und lange genug oben auf den Bergen aufhalten.« Kortüm reckte den Arm aus und wies in die Höhe. Der alte Langloff bückte sich, um der zeigenden Hand folgen zu können; genau dort oben lag das Lohberghaus.
»Kundenwerbung? Das ist Gästediebstahl.«
686 Diebstahl . . . wie war das doch in dem alten Gleichnis von dem Gastgeber, der allein saß am gedeckten Tisch?
Dieser Vortrag beschloß die Reihe der Kortümschen Führungen. Am folgenden Tage mußten die Urlauber abreisen. Den letzten Abend verlebte der Wirt im Kreise seiner Gäste.
»Das hat mir hier gefallen«, sagte Herr Becker zu Herrn Kortüm, und Frau Vogel fügte hinzu: »Was es allens gibt!«
»Ein Thüringer Gastwirt, meine Herrschaften, kann allerlei erzählen.«
»'n Berliner auch«, antwortete Herr Vogel so schlagend schnell, daß Vogels und Kortüms Satz wie einer klangen.
Nur Berliner saßen jetzt um Kortüm herum und bestätigten prostsagend mit der immer wachen, immer selbstbespöttelnden Sicherheit dieser Hauptstädter ihres Kameraden Lob aus Berlin.
Kortüm sah Vogel forschend an: »Sie sind in der Gaststättenbranche tätig?«
»Ich bin bei Schwarzkoppn. Former.«
»Haha. Prost, Herr Vogel. Former. Das sind wir alle.«
Der Mann von Schwarzkoppn schmunzelte: »Na? So acht Stündeken, auch mal zehne, un immer« – er machte mit den Fäusten die stampfende Bewegung des Sandeinformens – »immer wupp. Jawoll. Übermorgen um sieben is es wieder in Gang. Das staubt, Herr Kortüm, un macht 'n krummes Kreuze un is, was man ne Sache nennt.«
»Kreuzschmerzen. Ja. Und Staub. Ganz recht. Als ich vor zwanzig Jahren hier auf die Schottenhöhe kam, stand ein Wegweiser da. Sonst nichts. Was Sie sehen, habe ich geformt. Hat auch allerlei Staub aufgewirbelt, und man faßte sich gelegentlich ins Kreuz und sagte zuweilen – verzeihen Sie, meine Damen! – ›verflucht und gottverdammt‹.«
»Aber nu steht's da, un Sie sitzen mittenmang. Is ne feine Sache.«
»Da sagen Sie schon wieder ›Sache‹, Herr Vogel. Das ist es eben, was Ihnen und mir Staub in die Kehle bläst und einen am Ende kreuzlahm macht: wir formen nicht Sachen und stellen sie dann weg. Was einer formt, wird er nicht los; das lebt, das zeigt auf ihn und ruft vor allen Leuten ›Vater‹. Dagegen hilft kein Ohrenzuhalten. Ihnen stellt es da ein Bein oder dort, ich weiß es nicht. Andre Leute kriegt es zu fassen vorne oder hinten: mit Titeln, Orden, Preisen, Geld oder mit 687 eingeschriebenen Briefen, Zahlungsbefehlen, Steuerpfändungen, Wechseln, Hypotheken, Zustellungen – jaja, Zustellungen aller Art. Wenn man sich darauf eingelassen hat, etwas in die Welt zu setzen, erschwert man sich die Verständigung mit seinen Nachbarn auf Erden.«
»Is auch kein Spaß sowas«, nickte Frau Krause, deren versorgtem Gesicht anzusehen war, daß auch ihre Nachbarn manchmal anders wollten als sie.
»Geht Ihr Laden nich?« fragte Frieback auf kurz und gut berlinisch.
Kortüm rückte an der Halsbinde: »So so. Von Tag zu Tag.«
»Von einem zum andern – na ja: das sagen wir auch, wenn wir in die Lohntüte gucken.«
»Wir« – Kortüm hatte schon einmal ›Wir!‹ gesagt. Damals war eben die Sonne im Aufgehn gewesen und Doktor Windhebel hatte eine große Rede gehalten über Plasma und über Volk. »Wir«, sagte Kortüm und beschrieb heute wieder mit dem Finger einen Kreis um die Tafelrunde, in der er drin saß.
»Überall dasselbige«, meinte Hofmann.
»Unter uns bedeutet ›Wir‹ dasselbige«, antwortete Herr Kortüm.