Kurt Kluge
Der Herr Kortüm
Kurt Kluge

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Der große Dominantakkord

Alte Linden verbergen die Besenröder Kirche bis an den Dachfirst. Nur der Turm ragt über die Wipfel. Auf dem breiten Prellstein der Ilmbrücke, die von den Kirchenlinden noch zur Hälfte überschattet ist, saß Wingen, atmete die durchsonnte Luft ein, blickte in das grüne Dach und sagte: »Ein paar Wochen – dann blühen sie wieder.«

Geruhsam schritten Leute mit Gesangbüchern in den Händen den Uferpfad entlang. Nach dem Wetter brauchten sie nicht zu sehen: der Himmel erglänzte in wolkenlosem Blau. Im Wasser watete ein Junge und trieb die Gänse vor sich her. Auf der Fahrstraße rollte ein hochrädriger Korbwagen – Frau und Kinder in buntem Staat, der Bauer hatte den Sonntagsrock mit dem obersten Knopf zugespannt, hielt eine Zigarre in den Zähnen und ließ die Peitsche ein wenig knallen. Der dicke Ackergaul nahm diesen Wink nicht an, ging ruhig Schritt für Schritt weiter. Der Fuhrmann war's zufrieden. Er sah wohl die Straße gar nicht, sein Pferd ging alleine. Er hatte die Augen im Licht halbgekniffen und blickte einem weißen Taubenschwarm nach. Der Friede dieser Stunde ergriff auch Wingen. Alle hatten Zeit. Er hatte auch Zeit. Aber da kam doch jemand, den irgendeine sonntagswidrige Kraft in Trab setzte. Wingen beugte sich lächelnd vor, um ihn zu sehen. Der Postbote. Früher hatte Wingen auch Stöße von Briefen bekommen. Jetzt wollte keiner mehr was von ihm. Ist auch gut. Er hatte Zeit. Der Bote kam näher. Er winkte mit einem Brief. Meint er mich? Wingen sah sich um. Niemand stand hinter ihm. Der Brief ist wirklich für mich . . .

»Einschreiben nämlich«, sagte der Postbote. »Und Ihre Frau sagte, Sie gingen hier grade 'n bißchen in der Sonne rum, und ich dachte, trag ihn hin, da bist du ihn los.«

Wingen nahm den Brief, unterschrieb, riß den Umschlag auf und las.

»Guten Morgen auch«, sagte ein vorübergehender Kirchgänger.

Wingen las.

Die Leute sahen ihn an und gingen weiter. »Guten Morgen« hätte er schon antworten können. Die erste Glocke begann zu läuten. Die zweite. Das volle Geläut wogte über dem Lindendach. Die Glocken schwangen aus. Die Kirchbesucher gingen rascher. Die erste Glocke schwieg. Die zweite. Noch ein einzelner Schlag, noch einer. Dann war es still. Die letzten verspäteten Kirchgänger hatten keine Muße mehr, auf den Briefleser zu achten. Wingen saß auf dem Prellstein. Er war fertig 447 mit Lesen. Er saß an den Brückenpfeiler gelehnt. Der Kopf hing ihm tief auf die Brust. In der Kirche erhob sich Choralgesang. Wenn die Tür aufging, klang es lauter, dann wieder gedämpft. Jetzt schwieg die Musik. Eine Goldammer setzte sich auf den Brückenpfosten und sang ihre kleine Melodie. Immer dieselben paar feinen Töne. Niemand störte sie. Das Dorf lag in der Ruhe der Kirchenstunde. Wingens Hand, die den Brief hielt, glitt von seinem Knie, schlug hart auf die Steinkante. Wingen schrak auf. In schlankem Bogen flog die Goldammer fort über die Ilm. Jetzt war gar kein Ton mehr zu hören.

»Warum spielt der nicht?« murmelte Wingen. Er stand auf – rasch mußte er nach dem Pfosten fassen . . . die Erde hatte sich wogend gehoben . . . Nein, sie stand fest. Wingen auch. Und die Orgel drin rührte sich auch nicht.

»Sie muß doch spielen.«

In der Rechten hielt Wingen den Umschlag mit den bunten Marken, Stempeln und Vermerken, in der Linken das Briefblatt. Er hatte die Papiere in seinen Händen vergessen. Lauschend neigte er den Kopf, ging einen Schritt, noch einen. Er stand vor der Kirchentür . . .

»Darf der auch nicht mehr Orgel spielen?«

Oh, ihm gehorchte die Hundertstimmige, wenn er wollte. Wollte er? Wingen lächelte. Mit dem Knie drückte er die schwere Holztür auf, die Hände hatte er ja nicht frei. Die Kirche voll von Menschen. Der Pfarrer las aus einem Buch. Wingen nickte. So war es. So ging der Gottesdienst vor sich. Durch die Fensterrose hinter ihm über der Eingangstür brach der Sonnenschein, von den Lindenblättern grün durchwebt traf er die Orgel. Das Kirchenschiff lag im Dunkeln. Alles versunken in Schatten; schwarze Röcke, erdroter Fußboden – nur die zinnernen Pfeifen leuchteten, ein grünschimmernder stummer Wald: »Er schläft noch. Ich will ihn wecken.«

Wingen ging durch den Mittelweg. Er stieg die Wendeltreppe zur Empore hinauf. Der alte Kantor stand eben aus seinem Lehnstuhl auf, gab der Brille auf seiner Stirn einen Stoß, sie fiel ihm auf die Nase. Er wandte sich zur Orgelbank. Da sah er Wingen zur Bank gehen. Der Alte starrte seinen Kollegen an: »Aber?« – der Kantor verstummte. Wingen ging zur Bank. So sieht doch kein Lebender aus, dachte der Kantor. Aber Wingen lebte doch. Er stand schon an der Bank, setzte sich. Wingen hatte manchmal dem Kantor die Arbeit abgenommen. Spielen will er –? Der Alte stellte das aufgeschlagene Choralbuch 448 auf den Notenhalter. Wingen sah die Noten an, nickte. Er stellte das Briefblatt auf den Notenhalter.

»Sieh da, eine eigne Komposition«, flüsterte der Kantor dem Vorsänger zu. Pause. Er gab Wingen einen kleinen Stoß. Pause.

»Jetzt«, mahnte der Alte leise. Pause. In der Kirche war es still. »Los jetzt.« Wingen fingerte unruhig hin und her. Ach so: der Umschlag. Seine Linke hielt noch den Umschlag. Er öffnete die Hand. Der Wisch fiel auf die Pedale. Nun waren Wingens zehn Finger frei. Er begann.

»Zu leise.« Der Kantor zog ein, zwei Register.

Ah ja – so klang der Choral. Wingen spielte. C-Dur. Die Melodie hatte er immer geliebt. Von wem war sie eigentlich? Rechts oben über den Noten stand es. Wingen sah unterm Spielen hin. 1525. Amt? Stand da Straßburger Schulamt? Wingen spielte entschieden zu langsam. Der Kantor zögerte, ihn irre zu machen. »Allegro«, mahnte er nur leise. Amt?? Kann ein Amt C-Dur schreiben? Gott sei Dank, dachte der Kantor, das war der letzte Vers, der Mann ist nicht bei der Sache. Die Gemeinde stellte die Gesangbücher auf die Pultbretter. »Allmächtiger – halt!« Wingen begann den vierten Vers, der gar nicht auf der Tafel stand. Unsicher setzten die Leute ein. »Na, nu muß er'n zu Ende spielen.«

Ein Amt? Ja, da stand es gedruckt. Wie hieß der Komponist? Über den Noten stand kein Name. Aber da, auf dem Blatt – Wingen war doch so, als ob da ein Amt und ein Name gestanden hätten – ach ja. Lobedanz. Ein lebender Autor. Gar nicht fünfzehnhundertfünfundzwanzig. Aber Lobedanz sollte nicht in C-Dur komponieren. Oh weh. Lächelnd lag Wingens Auge auf den Schreibmaschinenbuchstaben des Briefes. Eine schlechte Melodie, Lobedanz. Du bist ja ein musikalischer Schweinehund, Lobedanz. Weißt du, wie C-Dur klingt? Du weißt's nicht. Wingen lachte still in sich hinein. Noch die drei Schlußakkorde. Dann paß auf, Lobedanz. Knöpf dir die Hosen doppelt an, Lobedanz. Jetzt! Den Rock zu, Lobedanz, sonst schlägt dir mein C-Dur die Herzwand ein. Hast du denn eine? Wingen hob die Hände – links rechts links flogen die Register heraus, ehe der entsetzte Kantor es hindern konnte, brach aus dem silbergrün schimmernden Säulenwald ein strahlend klares C-Dur . . . Fremd und fern ertönt die kalte Luft. Die Erzengel zu Füßen des Herrn stehn auf, heben die Posaunen. Der Grundakkord blättert auseinander, entfaltet sich, eine Melodie tastet in dem Tonsturm, hie und da schon Klarheit im ganz fernen Raum 449 draußen, das warme Gewölk vorm Herrn und seinen Engeln wälzt sich, bläht auf, zerstiebt, und die Himmelsglocke steht silbern in zitterndem Grün. Der Orgeltonhimmel tönt sich selber aus. Wie kaltes Metall schmettert der Klang in die verstörte Gemeinde. Ein Kind weint. Das schütternde Kirchgemäuer zergeht wie Rauch, steht offen als eine Tür. Gott der Herr lächelt vor sich hin. Stiebendes Rauschen, über der Erde fliegen die Adler tiefer. Da – vier Engel, acht, hundert Engel – Engelheere! wachsen aus der grün flammenden Glocke. Die Melodie vom Ende der Tage. Der Herr erhebt sich, winkt – es ist gut. Die Adler plustern ihr Gefieder, das Getier duckt sich, starrt scheu hinter sich. Die Gemeinde dreht sich um, sieht zur Empore hinauf, der Pfarrer öffnet erschrocken die Sakristeitür. Der Klang erhebt sich, sammelt sich, ein Marsch, ein Schrittedröhnen Ungezählter. Die Melodie dreht nicht mehr im Kreise, die Welt wohl auch nicht – sie schießt vorwärts, durch die grüne Luft hindurch, das silberne Zittern wird grau. Näher ans Nichts, dunkler. Noch dunkler. Da ist sie endlich, die herrliche schwarze Nacht. Nur der furchtbare Ton wächst noch. Die Menschen legen die Hände an die Ohren. Aber das ist nicht mehr Musik, die Allmacht tönt, dringt durch und durch. Und endlich mündet der Ton in den Dominantakkord . . . Jetzt . . . Jetzt . . . noch nicht. Die verdammte Dominante! Hinaus doch. Einen halben Ton hinaus. Nur den halben Ton noch. Hört dieser Akkord jetzt auf, oder hört er nicht auf –?

Plötzlich zuckt der Dominantakkord, reißt noch einmal an. Dann gellen zwei, drei Diskantschreie auf, die Musik verknäuelt sich – zwei feindliche Gewitter packen sich! – Jähe Stille. – Ein paar irre Pedaldissonanzen poltern – Totenstille. Schritte tappen. Jemand sagt etwas auf der Empore. Ein Notenpult fällt um.

Die Gemeinde hat sich erhoben. Der Pastor mit der Bibel in den Fäusten steht im Mittelgang. Die Leute drängen sich aneinander.

»Tot«, hört die Gemeinde den Kantor auf der Orgelempore sagen.

 


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