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Bilmes verrührte knurrend zwei Teile Zement und fünf Teile Sand mit Wasser in einer hölzernen Mulde und sagte: »Eine kostspielige Mischung. Die Hälfte Beton wäre für so 'ne Arbeit auch genug. Jeja, der Herr Kortüm!« Bilmes rührte die Mischung kräftig durch und brachte dabei stoßweise hervor: »Einer baut – der nächste braucht Steine – oder auch bloß Platz braucht er – un schmeißt den Dreck wieder ein – immer umschichtig.«
Gegen Ende dieser Rede rührte Bilmes immer langsamer, kratzte sich mit dem Kellenstiel in seinem struppigen weißen Bart und hörte schließlich ganz auf. Er setzte sich auf die bereits geschaffene Steinschicht und sah sich nachdenklich um. Daß der Evangeliste predigen konnte, wußte das Schottengelände. Daß er rechnen konnte, war nicht einmal ihm persönlich bekannt. Aber Bilmes hatte bei allem Philosophentum genau soviel Pfiffigkeit in sich wie alle Bedürftigen, denen die Natur selber das Leben sichert. Voll Schadenfreude sagte er zu den Berufsrechnern bei jeder Gelegenheit, sie könnten zählen, wie sie wollten, der Teufel holte sie, wann er wollte, und er ärgerte mit dieser Behauptung das Schottengelände nicht wenig, denn man rechnete hier bekanntlich gut und mit Liebe. Wenn Bilmes aber jemanden traf, der 440 erst schaffte und dann zu rechnen versuchte – »wenn« ist falsch gesagt: er war überhaupt nur einem dieser Art begegnet, und dieser Mann war Kortüm – wenn Bilmes Herrn Kortüm ansah, hätte er sich seiner gern erbarmt und wäre ihm mit Rechnen beigesprungen. Da Herr Kortüm ein reicher Mann war (wenn er oft auch kein Geld besaß), und da Bilmes ein armer Mann war (wenn auch sein Sparkassenbuch ein Gewichtchen hatte), so rechnete Bilmes viel pfiffiger als Kortüm, der nicht unter dem Schutz der Natur stand. Der Lohberggipfel bot einen trefflichen Rechenblick: da unten lag das Flügelhaus mit seinen alten und neuen Dächern, seiner Windfahne und seinem Portal. Bilmes sah den Hausdiener einen Koffer die schlechte Straße hinabkarren. Geht er links oder rechts? »Wieder rechts, verdammig«, murmelte Bilmes: links lag der Bahnhof, rechts lag die Pension Hackemann. Dem Kalender nach war heute der sechsundzwanzigste Juni. Die Hochsaison begann. Statt ankommender Gäste sah Bilmes seit zwei Tagen abziehende. Und Herr Kortüm? Der baute ein Denkzeichen angesichts dieser Ereignisse und nannte es die steinerne Nadel. Bilmes sah überlegsam in die Ferne. Der Blick in die Weite Thüringens war freilich wunderbar. Hinter den letzten blauen Hügelwellen rundum am Horizont ließen sich immer fernere Wellen ahnen. Für diese Art von Endlichkeit fehlte Bilmes der Sinn. Er hob mißtrauisch eine Prise aus der Holzdose und behielt das Flügelhaus im Auge. Seine Philosophie gedieh auf verläßlichem Grund: »Da sitzt er drinne. Da kocht er. Und da dienert er. Un da sagen de Gäste: adjehs auch, Herr Kortüm . . .« Bilmes hatte die Prise an ihren Ort gebracht, mit dem Daumen nachgerieben und geschnuppt. Jetzt aber sah er scharf auf die blanke weiße Flügelhauswand unten, bewegte noch einmal den Daumen zur Nase, jedoch ohne Tabak, rieb und schnuppte abermals und sagte: »Nu gucke mal.« Auf dem Lohberggipfel saß Bilmes, schräg hinter Bilmes am Himmel stand die Sonne, und auf der weißen fensterlosen Ostwand des Flügelhauses saß des Bilmes Schattenbild, hob den Daumen, rieb und schnuppte. Herr Kortüm war auf seinem Inspektionsmorgengang auch auf den Lohberggipfel gekommen, stand eben jetzt hinter Bilmes und sah mißbilligend seines Arbeiters Muße und Schnuppsucht an, denn Bilmes wiederholte das interessante optische Experiment zum drittenmal. Kortüm dachte zornig: aha. Aber Bilmes sagte: »Hä, Sie denken wohl, ich sehe Sie nich? Da stehn Sie un nicken.«
»Ich sehe, daß nichts als eine einzige Steinschicht auf der Erde ist.«
441 »Nee, dort! Dortn!!« rief Bilmes und zeigte auf die Flügelhauswand. »Sehn Sie uns alle beide?«
Kortüm sah hin und konnte nicht leugnen: da stand er, unverkennbar. Kortüms ansehnlicher Schatten stand an der Wand des Flügelhauses. Er vergaß über seinem Anblick den säumigen Arbeiter und sah lange hin. Sein Hut reichte bis an die Dachrinne, sein Bauch berührte eben die Hausecke. Aber die Sonne bewegt sich. Und siehe, da ist von seinem Bauch ein Segment abgeschnitten. Gebannt betrachtete Kortüm dieses Schauspiel. Wieder ein Scheibchen. Herr Kortüm wurde immer magerer. Schon stand er schlank und rank da und gleich würde er ganz um die Ecke sein . . . wohin?
»Bilmes – das ist eine Sonnenuhr!«
»Un Herr Kortüm is der Zeiger.«
Der Herr des Flügelhauses war sehr erfreut: »Man malt Stundenziffern an die Wand, und die steinerne Nadel zeigt die Zeit an. Oder ich selbst, wenn ich hier oben bin.« Kortüm verstand, wie man sieht, doch nicht sehr viel von Astronomie und verwandten Wissenschaften. Zum Glück war aber Doktor Windhebel Gast seines Hauses und dachte nicht daran, die vielbesprochene neue Pension Hackemann zu erproben. Der Gelehrte wird wohl Herrn Kortüm von seiner schiefen Auffassung des Sonnenuhrproblems ebenso überzeugen wie von der völligen Nichteignung Kortüms als Stundenzeiger. –
Dem guten Klaus Schart stand kein Erdbebenforscher zur Seite. Und er hätte jetzt so dringend eines solchen Ratgebers bedurft! Schart stand vor Lobedanz. Keiner, dem die Physik des sogenannten gesunden Menschenverstandes vertraut war, flüsterte dem vor Erregung zitternden Schulmeister die Worte ins Ohr, die in einem Lobedanz dort ankommen, wo Nichtphysiker die Seele vermuten – welche als ein Pflichtteil der menschlichen Natur sämtliche Scharts ja leider bis an ihr seliges Ende vorauszusetzen pflegen.
»Nicht von Herrn Wingen ist hier die Rede.« Lobedanz wehrte erschrocken mit beiden Händen ab. »Um Gottes willen! So wenig, als meine Person in Frage kommt! Oder Ihre, Herr Schart! Personelles scheidet überhaupt aus. Ich erlaube mir doch nicht Kritik zu üben an einem bekannten und mir übrigens durchaus sympathischen Künstler wie Wingen! Um die Sache geht es. Um nichts als die Sache, Herr Schart. Verstehen wir uns jetzt?«
Klaus war bis in die Lippen blaß: nehmen wir jetzt an, dieser 442 Mensch ist eine Sache, und ich nehme eine Axt und spalte diese Sache in zwei Sachen . . .
»Wo käme die Welt hin, Herr Schart, wenn es safety first hieße! Sehn Sie. Da sind wir gleich einig. Haha. Stellen Sie sich eine verantwortliche Abrechnung vor« – Lobedanz wies auf einen Stoß von Papieren, die mit lauter Linien und Zahlen bedeckt waren – »in der es heißt: das ist der Organist A. Zur Zeit spielt A jedoch nicht bei uns, sondern anderswo Orgel. Wir stellen dieserhalb den Organisten B ein. Und da B, sagen wir gesundheitshalber, auch nicht bei uns, sondern wieder wo anders die Orgel spielt – und so weiter: habe ich recht? Sie sind Lehrer? Also. Da brauche ich Ihnen nicht zu erklären, wann ein Fall zum Präzedenzfall wird. Dazu kommt das Spielen selbst. Manche Organisten glauben, sie müßten Konzerte geben, wenn sie orgeln. Selbstverständlich: das sind die besten Künstler. Aber« – so ging es weiter.
Klaus war ein schlechter Advokat. Er wurde grob. In Holdermanns Atelier hatte er gut plädieren können. Dort hatte er Menschen vor sich, deren Wesenswurzeln so tief im Erlebten gebettet lagen, daß sie sogar Präzedenzfälle für einen Luftzug nahmen, der mit dem Winde wechselt. Aber ein Lobedanz erlebte überhaupt nicht, der mußte sich mit Leben begnügen und fragte hier rechtens, was aus einer Welt werden solle, die sich um das Menschliche drehe. Und Klaus als ein gelernter Schulmeister antwortete rechtens, daß Gott angeblich den Menschen ihm zum Bilde geschaffen habe – aber war hier in Lobedanz' Amtsstube Gottesdienst? Es war Sonnabend. Es war zehn Uhr. Kirche ist morgen. Morgen früh elf Uhr: Ordnung, Herr Schart. Nicht alles durcheinanderbringen, Klaus Schart. Aber Klaus wurde, wie gesagt, grob, als er in dem Drahtverhau der Richtigkeit und Ordnung festsaß. Den Lobedanz jedoch trug ein zu ernstes Verantwortungsbewußtsein, um den flegelhaften fremden jungen Mann nunmehr endlich hinauszuwerfen. Er bedauerte die Begriffsverwirrung mindestens ebensosehr wie Wingens Krankheit, wenngleich letztere offenbar den Organisten an der Ausübung seines Berufes nicht so hinderte wie diesen Herrn Schart an dem Ton, dessen sich die Jugend vor dem Alter zu befleißigen hat. »Aber auch Krankheit ist vorgesehen. Wir leben nicht in der Wildnis, Herr Schart. Nur ist sie Sache einer anderen Abteilung.« Lobedanz nannte dem groben jungen Mann höflich eine Reihe von Namen und Stellen, die hier in Frage kommen. Lobedanz schrieb sie ihm sogar eigenhändig auf einen Zettel, und Klaus konnte nichts anderes als »Danke« sagen, als er den Zettel einsteckte.
443 Erschüttert stieg er die gewendelte Holztreppe hinab. Er blieb in der Haustür stehen, schöpfte tief Luft. Die kleine Gasse war leer. Nur die graue Kirchenmauer stand vor ihm, ein bruchsteinerner Bau. »Der ist eine Sache . . . ich bin eine Sache, Wingen ist eine, und Lotte – ist Lotte auch eine Sache?« Klaus tat einen schweren Fluch. Da schien sich in dem uralten Quadergemäuer die kleine Holztür zu bewegen. Klaus trat erschrocken in den Hausflur zurück – der Zorn hatte ihn fiebrig gemacht, er war im Traum: in dem gotischen Steinrahmen stand ein alter Mann – ja, da drüben stand sein Vater. Der war doch tot. Tot lange Jahre: ›Klaus, tu's nicht. Mache dein Examen. Dann hast du deine Sicherheit. Ein Amt und festes Brot. Jeden Ersten holst du dir dein Lehrergehalt. Ich bin bloß Kirchner. Ein kleines Amt. Aber niemand kann mir den Boden untern Füßen nehmen. Ein Recht, Klaus! Ich habe viele Menschen untergehn sehen. Kaiser, Könige, die halbe Welt hab' ich sich umkrempeln sehen. Was hoch stand, fiel. Mein bißchen Kirchnergeld haben sie mir immer ausgezahlt. Glaube mir, Klaus: es ist nicht wahr, es gibt keine Stufen, die da sind und die einer hinaufgehen kann. Es gibt keine Stufen, Klaus! In der Luft mußt du hoch. Vielleicht gelingt dir's. Aber wenn du oben bist, hast du wieder nur die Luft unter dir. Kannst du die Gestürzten in deinen Geschichtsbüchern zusammenzählen?‹ – Jetzt streckte der alte Mann den Kopf vor, ob einer käme. Von links? Von rechts? Nein, es war alles still, der Wind wehte dem Alten den Bart und das weiße Haar auf dem Kopf. Klaus klammerte sich an Lobedanz' messingene Türklinke. ›Die mit Macht und Pracht in die Luft hinauf sind, haben einen Namen in den Büchern‹, sagte der Vater leise durch die hohle Hand, ›hinter denen sind Heere hergewesen, Klaus. Heere! Wenn eine Herrlichkeit der Welt hinfällt, klirrt die Erde, und ihr Sturz ist noch glorreich. Du hast bloß einen Federhalter, Klaus. Wenn der Geist hinfällt, fliegt kein Sperling weg, und nur die Barmherzigkeit schafft seinen Rest beiseite. Die Sicherheit, Klaus. Die Sicherheit.‹ Klaus atmete nicht, sah den Toten in der Kirchenpforte stehen. Der Alte nickte, lächelte: ›Habe ich dir's nicht gesagt?‹
Der Schulmeister packte die Klinke fester. Die Türglocke läutete über ihm. Klaus fuhr übers Gesicht mit der Hand. Die angelehnte Kirchenpforte drüben drehte sich im Winde ein wenig hin und her, jetzt ging sie ganz auf, blieb offen – es stand ja gar niemand drin . . . Die Türglocke über Klaus läutete immer noch. Er erschrak. Ja, hinter ihm regierte Lobedanz die Sachen. Mit einem Krach flog die Pforte drüben 444 ins Schloß und blieb zu. Die elende, die gottverdammte Lebensangst hatte Klaus zum ersten Male an der Kehle, schüttelte, würgte ihn. »Und der Mensch, der lebende Mensch?!«
Der lebende Mensch, Herr Kortüm, ist ein wenig brauchbarer Uhrzeiger«, sagte Doktor Windhebel. »Aber auch die steinerne Nadel da oben ist nicht geeignet. Eine Sonnenuhr muß ganz anders konstruiert sein.«
»Aber diese Uhr würde –«
»– die Leute irreführen!«
»Ich mache sie doch für mich!«
»Wenn Sie eine Uhr öffentlich gehen lassen, haben die Leute ein Recht auf richtige Zeitangabe. Oder, hm . . . Sie errichten eine Kortümuhr, Herr Kortüm. Ein paar Punkte an der Wand, die der Schatten der steinernen Nadel jedes Jahr zur bestimmten Stunde zeigt, will ich Ihnen ausrechnen. Aber das ist gar nicht so einfach, und ich bin hier im Urlaub. Also sagen wir: vier Stunden im Jahr. Welche zuerst? Ihr Geburtstag?«
»Nein. Danke, Herr Doktor. Ich habe in meinem Leben viel mit mir zu tun gehabt. Mein Geburtstag gibt mir noch keinen Anlaß zu einer befriedigenden Zeitmarke. Aber . . . Ja, da wäre der siebente Mai, mittags zwei Uhr. In dieser Stunde wurde hier der erste Spatenstich am Schottenhaus getan.«
Windhebel schrieb das Datum auf: »Sie müssen den Punkt, den ich Ihnen an der Wand bezeichnen werde, dauerhaft markieren. Hier lassen Sie vielleicht einen Spaten hinmalen.«
»Ich würde sagen: ein Zelt.«
»Also Zelt. Weiter.«
»Nun käme der zwölfte März abends neun Uhr.«
»Nein. Zu der Stunde kann ich Ihnen keine Sonne mehr beschaffen.«
»Vielleicht Mondlicht?«
»Wissenschaftlich unbrauchbar«, bedauerte Windhebel.
»So. Ach. Aber diese Stunde muß angezeigt werden, denn in ihr war ich eines schönen Jahres ruiniert. Ja. Und da kam eine Frau, eine Dame, Konstanze Schröter, die Schauspielerin, meine Freundin. Sie speiste mit mir zu Abend. Eigentlich hatte sie einen anderen Herrn eingeladen, einen gewissen Schart. Aber der war abgehalten. Die Rede kam auf meine Schwierigkeiten, sie mietete mir für die Dauer Zimmer ab, empfahl mich ihren Bekannten, es nahm sich wieder auf, ich baute um – nein, diese Stunde ist unentbehrlich.«
445 Windhebel war ein großer Mathematiker. Aber diese Sonnenuhrstunde blieb unerrechenbar. Der Gelehrte mußte Kortüm in die Schranken der Naturgesetze zurückweisen. Kortüm war beleidigt, und Windhebel sagte nach einer Weile: »Vielleicht ging an dem Tage noch was vor, aber bei Sonnenlicht?«
»Ja«, begann der Herr des Flügelhauses zögernd, »aber es paßt nur ungefähr. Ich habe beobachtet, daß die Dame an jenem Tage beinahe ertrunken wäre. In meinem Teich. Damals war da noch ein Teich. Aber Herr Schart rettete sie. Er trug sie jedenfalls an Land. Man dürfte sagen, daß mir nicht hätte geholfen werden können, wenn der junge Mensch sie nicht ans Ufer gebracht hätte.«
»Wann geschah das Malheur?«
»Um vier Uhr widerfuhr das Glück dem jungen Mann. Mir dagegen kam es erst nach Einbruch der Dunkelheit.«
»Vier Uhr geht noch.« Windhebel schrieb und meinte: »An die Stelle passen ein paar blaue Wellen.«
»Und ein Anker.«
»Weiter.«
»Der dritte Punkt muß noch offen bleiben«, sprach Herr Kortüm mit einer entschiedenen Handbewegung.
»Und der vierte?«
»Mein Todestag, Herr Doktor.«
Jetzt machte Windhebel die entschiedene Handbewegung: »Herr Kortüm, wenn ich auch in Urlaub bin, ich bleibe in jeder Lage ein Vertreter der exakten Naturwissenschaft. Wegen der Berechnung Ihrer Todesstunde müssen Sie sich an den Heilkundigen wenden, der bei Ihnen wohnt.«
»Nein. An den nicht. Aber ich werde an mein Testament eine Klausel hängen – zu meinem Testamentsvollstrecker habe ich den Hauptmann der freiwilligen Feuerwehr Monich bestimmt – eine Klausel, auf Grund welcher Herr Doktor Windhebel nach meinem Ableben die Güte hat, den Punkt vier auszurechnen, und Monich diesen Punkt auf der –«
»– Kortümuhr –«
»– der Flügeluhr zu vermerken hat mit –«
»– mit einem Kreuz, Herr Kortüm –«
^ – mit einem Flügelpaar, Herr Doktor.« 446