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Da scheint ein Weg zu gehen«, sagte Klaus Schart. Er wollte nach Besenroda hinunter.
Klaus sah prüfend die Geröllgasse hinab, die sich zwischen den Tannenstämmen und Fingerhutstauden durchwand: Nein! Wieder nur ein ausgetrocknetes Wasserbett. Ich muß doch endlich einmal abbiegen! Dort ist der Turm des Kolmberges. Genau unter dem soll Besenroda liegen. Ratlos sah er um sich. Nirgends ein Wegweiser.
Aber da hinten kommt jemand. Gott sei Dank, ein lebendiger Mensch in dieser Waldwildnis . . . merkwürdig, dachte Klaus. Langsam kam der Mensch auf ihn zu: ein älterer wohlbeleibter Mann mit einer Papiertüte in der Hand, in schwarzem städtischem Rock, in gestreiften Bügelhosen – mitten im Hochwald . . .
»Verzeihung«, sagte er, »wo geht die Straße da hin?«
Der dicke Herr im schwarzen Rock schnaufte und sah eine Weile prüfend auf Klaus hinunter. Dann legte er den Kopf schief, kratzte sich langsam in den weißen Bartstoppeln und sprach mit einem Blick aus den Augenwinkeln: »Nach Taschkent, mein Herr.«
»Nach – wie? Nach – ich meinte nämlich, Entschuldigung: wo der Weg herkommt?«
»Von da her« – er zeigte über eine einzelne hohe Tanne in die Ferne – »von der Biskaya, wissen Sie? Ja.« Der alte Herr hob die Augenbrauen hoch und sah weit über Klaus Scharts Kopf und den Kolmberg hinweg in den unbewölkten Oktoberhimmel. Dann beschrieb er mit der Papiertüte einen großen Halbkreis in der Luft und nickte: »Via alta. Jawohl. Die Hohe Straße« und schritt seinen Weg weiter.
Klaus stand da und sah betreten den glatten, aber unten etwas ausgefransten Hosen nach: Ob die große Perle in seinem Halstuch echt war . . . Allmächtiger, wer war denn das?
Schritt für Schritt ging der Mann dahin, als ob er mit seiner Perle und mit seinem schwarzen Rock hierher gehörte – mitten zwischen die Farnkräuter und Tannenzapfen.
8 »Das geht gut los«, murmelte Klaus und wanderte aufs Geratewohl weiter.
Da kam wieder jemand. Nun, der hatte eine Axt auf der Schulter und eine kienglänzige Jacke an. »Tag! Wie komme ich von hier nach Besenroda?«
»Hä« – der kleine struppige Kerl stellte die Axt auf die Erde, wischte sich mit dem Ärmel über die Nase und freute sich: »Da haben Sie sich aber schön verlaufen. Grade umgekehrt. Nee, dorten lang. Ich will je auch hin. Da wohn' ich nämlich.«
»Wer soll sich auch auf den Wegen zurechtfinden! Stundenweit habt ihr nicht einen Wegweiser hier oben.«
»Nee. Die haben wir umgehackt dieses Frühjahr.«
»Ihr seid wohl nicht bei Troste?«
»Je, sehn Sie, das sagen Sie so. Wir wissen die Wege. Un wer fremd hierher kommt – aber's kommt je keiner – aber wenn einer kommt, nu, der kann doch 's Maul aufmachen un fragen.«
»Wenn er jemanden trifft!«
»Jeja. Da haben Sie nu wieder recht. Wenn. Hähä.«
»Ich traf eben einen, und der hat gesagt, die Straße hier ginge nach Taschkent.«
»Wohin?«
»Na, ungefähr nach China, hat er gesagt.«
»Das war wohl der Schottenwirt?«
»Wer ist das?«
»Nu, der Herr Kortüm.«
»Kortüm? Kurzum? Ja, so sah er aus – vorne eine Perle und so dick und denn kort üm.«
»Da haben Sie'n. Der war's. Je, gucken Sie: wegen dem haben wir die Wegweiser umgehackt.«
»Will der denn keine?«
»Der schon. Aber wir nich.«
»Nein, das versteh ich nicht.«
»Nu, was der Herr Kortüm is, der will überall, aber auch an jeder Kaninchenspur einen Wegweiser hin haben. Wegen seiner Gastwirtschaft, verstehn Sie? Aber was wir sind, in der Gemeinde unten, nich wahr, wir haben ihm was gepfiffen. Hähä.«
Das geht ja wirklich hübsch los auf dem Walde hier oben, dachte Klaus Schart wieder. Laut sprach er: »Der alte Herr mit seiner Papiertüte ging seinen Weg aber so sicher entlang, als ob er wirklich keine Wegweiser nötig hätte.«
9 »Wenn er mit seiner Tüte geht, weiß er'n Weg auch ganz genau.«
»Wo geht er denn dann hin?«
»Auf seinen Privatfriedhof doch.«
»Auf –?«
Klaus Schart blieb stehn, das Männlein mit Axt und Kienjacke auch: »Wo geht Herr Kortüm hin?«
»Na, ja, Sie sind fremd. Also das is so: iche, ich bin der Holzhacker Kersch, un ich habe schon in Besenroda unten gewohnt, als dem Herrn Kortüm seine Frau noch lebte. Also da sind Sie bei mir an den Rechten gekommen. Ich weiß Bescheid. Passen Sie auf: die Frau starb. Aber wir kleinen Leute unten auf dem richtigen Friedhof, wir sind für den großen Herrn aus Hamburg nich gut genug, nee, neben unsereinen legt sich keine verstorbene Frau Kortüm nich. Da hat denn der am Leben gebliebne Herr Kortüm in seinem Walde ein Plätzchen freigemacht –«
»In seinem Walde?«
»Freilich. Der Wald hierum gehört ihm samt dem Lohberg da un dem Hachelstein dort. Das heißt, ob ihm noch 'n einziger Tannenzapfen zu eigen is, weißche nu nich. Schulden hat er so viel wie Tannenzapfen im Walde hängen. Jeja, der ganze Wald hier oben is pleite. Hähä. Na, also ein Plätzchen macht er reine un da begräbt er sie denne. Un nu geht er jeden Mittag mit einer Tüte voll Krümel hin un füttert die Vögel dort.«
Klaus blieb still. Das waren allerhand Nachrichten bei seinem Einzug in dieses Gelände: ein schwarzberockter Herr geht eine Straße entlang, die er für den Weg nach Taschkent ausgibt, um die Finken und Drosseln auf seinem Privatfriedhof zu füttern – mitten im braven Thüringer Walde oben . . .
»Da gucken Sie, was?« sagte Kersch nach einer Weile. »Wer sind Sie denne eigentlich?«
»Ich bin der neue Lehrer von Besenroda.«
»Na, das laß ich mir aber gefallen. Sehn Sie mal! Un grade ich habe Ihnen 'n Weg gezeigt. Sie werden Ihre Freude an uns haben! Das kann ich Ihnen sagen, Herr Lehrer – wie war's gleich?«
»Schart, Klaus Schart heiße ich.«
»Herr Lehrer Schart. Na da solln Sie mal sehn! Da werden Sie was erleben. Unsere Kinder sin eigentlich alle begabt. Fleißig sin sie auch. Un wenn sie trotzdem nischt lernen, liegt das nich an den Kindern, das liegt –«
10 Der Lehrer sah dem Holzhacker scharf ins Auge, aber der fuhr gemütlich fort:
»Das liegt bloß an der verdammten Arbeit.«
»Hören Sie mal, Herr Kersch, an der Arbeit?«
»Freilich. Das werden Sie auch bald weg haben. Die Kinder müssen Geld verdienen. Bei uns is alles Heimarbeit. Die Kinder arbeiten zuhause. Masken machen wir in Besenroda. Hauptsächlich. Aber auch Fahnen un Thermometer. 's geht jetzt 'n bißchen besser. Fahnen werden Gott sei Dank ordentlich gebraucht. Thermometer noch nich so sehr. Na ja, wenn's einem dreckig geht, is es je schnuppe, ob er weiß, bei wieviel Grad er nischt im Magen hat. Un mitn Masken is gleich gar nischt. Das is 'n Jammer. Die Leute gehn heute lieber nack'g im Gesichte.«
»Wie denn – nackend?«
»Im Gesichte! Ich meine, sie machen keine Umstände mehr un zeigen einem 's Gesichte wie sie's wirklich haben. Auch wenn sie lustig sind. Das is nu nich vorteilhaft für die Maskenmacher. Früher, wenn's einem so recht sauwohl war, band er sich 'ne Maske vor die Visasche.«
»Da muß man eben was tun für die Maskenmacher. Volksfeste veranstalten. Umzüge –«
»Sehn Sie! Hähä. Sie fassen die Sache gleich forsch an. So is es gut! Richtig, Herr Lehrer! Umzüge! Veranstalten Sie mal einen. 's muß nur einer anfangen un Leben in die Bande bringen. Wissen Sie, Herr Lehrer, wenn der Mensch so richt'g aus dem Vollen zu leben anfängt, da läßt er sich nich gerne dabei sehn, nee, da bindet er sich lieber vorher 'ne Maske um. Da sieht ihn niemand dahinter.«