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Henrik Ibsen. Den unbestritten stärksten Einfluß auf das moderne Deutschland, voran die Dichter des Naturalismus, hat der Norweger Henrik Ibsen gehabt. Ibsen ist geboren im Jahre 1828 zu Skien als Sohn eines wohlhabenden Kaufmannes. Ein plötzlicher Umschlag in den Verhältnissen des elterlichen Hauses wirkte bestimmend auf seine Entwicklung. Mit fünfzehn Jahren verließ er seine Heimat, um in Grünstad als Apothekerlehrling einzutreten. In diese Zeit fällt sein erster poetischer Versuch, das historische Drama »Catilina«, das noch ganz von den Tendenzen der Überlieferung beherrscht ist und später (1875) in einer Neuauflage mit unwesentlichen Änderungen erschien. Nicht lange duldete es ihn in dem anfangs gewählten Beruf; 1850 begab er sich nach Christiania, um an der dortigen Universität Medizin zu studieren. Es gelang ihm in der Tat, einen Teil der Examina abzulegen. Seine Mittel waren jedoch bald erschöpft, und er sah sich gezwungen, die medizinischen Studien aufzugeben, um sich ganz der Literatur zu widmen. Er übernahm die Redaktion einer politisch-satirischen Wochenschrift (»Mauden«. später »Andhrimmer« genannt). Aber auch hier blieb ihm das Schicksal nicht hold: der Bankerott des Blattes erfolgte schon nach einigen Monaten. Der bekannte Violinvirtuose Ole Bull war der erste, der das Talent des jungen Dichters erkannte. Er veranlaßte dessen Berufung an das Theater nach Bergen in der Eigenschaft eines Regisseurs und Theaterdichters. Hier entstanden seine frühesten Werke, von denen »Frau Inger auf Östrot« später eine Umarbeitung erfuhr. Die übrigen waren Gelegenheitsstücke, die keine Bedeutung erlangten und bald vom Repertoire verschwanden. Im Jahre 1851 wurde Ibsen an das Theater nach Christiania als Schauspieldirektor berufen. »Nordische Heerfahrt«, »Die Kronprätendenten«, »Die Komödie der Liebe« bezeichnen die zweite Periode seiner literarischen Entwicklung. Schon die »Nordische Heerfahrt« und »Die Kronprätendenten«, die beide einen nationalen Stoff behandelten, bewiesen seinen sicheren Blick für dramatische Entwicklung und behaupteten sich nicht nur auf heimischen Bühnen, sie eroberten sich dauernd auch das Ausland. Die »Komödie der Liebe«, ein satirisches Lustspiel, zeigt den Dichter zum erstenmal auf seinem eigentlichen Gebiete, das er später nur selten verließ. In Ibsen lag wie in Tolstoi und Zola ein Gutteil Reformator. Was Zola für die untersten Volksschichten, für den fünften Stand ist, das ist Ibsen, den sozialen Verhältnissen seiner Heimat entsprechend, für die »Gesellschaft«. Er war und blieb ein sozialer Reformator, bewußt und unbewußt. In der »Komödie der Liebe« finden sich im Keime alle jene Elemente, die sich heute, nachdem das Lebenswerk des größten der Moderne abgeschlossen vor uns liegt, als Hauptcharakteristika seiner Kunst ergeben. Man erkannte das teilweise auch; im allgemeinen erregte das Stück großen Widerspruch und schuf ihm viele Gegner. Dazu kam noch, daß das Theater in Konkurs geriet und politische Mißhelligkeiten den Dichter verstimmten und ihn bewogen, seinen Aufenthalt nach Rom zu verlegen. Es ist wohl die bedeutendste Periode seines Lebens, diese italienische. In ihr entstanden die Versdramen »Brand« 1867 und »Peer Gynt« 1868, wohl die tiefsten und größten Zeugnisse des nordischen Geistes. All die philosophische Gewalt, jenes mystische Ineinanderleben von Seele und Körperlichkeit, wie sie der Kunst des Nordens überhaupt eigen ist, vereinigt sich hier zu einer gigantischen Vollwirkung.
In »Kaiser und Galiläer« treffen wir Ibsen auf historischem Boden. Das Stück bedeutet gewissermaßen eine Übergangsstufe zu jenen Elementen der Ibsenschen Muse, die den eingangs erwähnten entscheidenden Einfluß auf die dramatische Produktion in Deutschland ausübten, zu jenen von einem anarchistischen Individualismus getragenen Problemdichtungen, die sich von Werk zu Werk meisterhafter und vollendeter gestalten, die, wie bei keinem anderen Dichter der Weltliteratur, eine stete Steigerung des Wertes erkennen ließen. Schon in »Kaiser und Galiläer« drängte sich das Tendenziöse der Weltanschauungsform entscheidend in den Vordergrund; schon hier machte sich das moralisierende Element breit, das in den späteren Stücken ein integrierender Bestandteil geworden ist und den Gegnern des großen Dramatikers eine willkommene Waffe schmiedete. Man begann in dem Logiker Ibsen, der die Mystik als Restbestand des Unlösbaren bewußt in seiner Technik verwertet, einen raffinierten Kalkulator zu sehen, dem das technische Mittel zu viel, das Jonglieren mit psychologischem Effekt alles bedeutete. Die Kritik begann zu sezieren und hatte mit der strengen Gedankenfolge leichtes Spiel. Man fand, was man entdecken wollte, Kausalität und Tendenz; man übersah, was man übersehen wollte: den Dichter.
Und dennoch bewies sich der Gewaltige Schritt für Schritt. Im innersten Wesen Symbolist, gerriet er doch nicht, wie seine Nachahmer, unter die Herrschaft eines symbolistischen Genres. Er verwies die Symbole in das Bereich des Gedanklichen, des Ideellen. In allen Werken der folgenden Periode, die zugleich den Höhepunkt seines Schaffens bedeutet, wird er von einem einheitlichen künstlerischen Programm geführt, das fast kein Erschlaffen der poetischen Gestaltungskraft, keine Ermüdung, auch nicht hinsichtlich des Wechsels der Probleme, aufweist. Es folgen: »Fest auf Solhaug«, »Die Frau vom Meere«, »Stützen der Gesellschaft«, »Volksfeind«, »Gespenster«, »Nora«, »Wildente«, »Rosmersholm«, »Hedda Gabler«, »Baumeister Solneß« als die bedeutendsten Schöpfungen dieser glücklichsten Schaffensperiode. Über fast alle Stücke dieser stattlichen Reihe bringt fast jeder Tag der Theatersaison interessante, richtige und unrichtige Detailurteile. Es würde den Rahmen dieser Skizze überschreiten, wollte man jedem einzelnen dieser populären Bühnenwerke Worte der Empfehlung und Anerkennung spenden; wir verweisen daher auf die Worte, mit denen ein großer Ibsenkenner, der Däne Georg Brandes, dies Monument der Weltliteratur begleitet.
Die letzte Periode Ibsens, seine Altersdichtung, bringt drei Stücke: »Klein-Eyolf«, »John Gabriel Borkman« und »Wenn wir Toten erwachen« einen dramatischen Epilog. Hier versammelt er noch einmal alles von Tiefe und Reichtum, was ihm während seiner ganzen Wirksamkeit so reichlich zugeflossen war. Er selbst setzt den Punkt hinter sein Lebenswerk, auf das er als ein abgeschlossenes Ganzes zurückblickt.
V. H.