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Richard Dehmel

Richard Dehmel. Auch auf die Lyrik blieben die Tendenzen des Naturalismus nicht ohne Einfluß, wenn sich hier auch die Auflösung der bisherigen Form nicht in dieser Kraßheit vollzog. Richard Dehmel (geb. 1863 in Wendisch-Hermsdorf im Spreewald, lebt in Blankenese bei Hamburg) zeigte in seinen Anfängen, wie beispielsweise in dem erotischen Venuszyklus seiner ersten Sammlung, deutliche Spuren der naturalistischen Revolution. Ein spekulatives Talent, das bei aller anscheinenden Willkür der Empfindung streng und vorbedacht mit den Elementen seiner Eigenart zu rechnen verstand, konnte er allerdings als »Suchender« nicht lange innerlich befriedigt bleiben. Rasch fand er einen Weg, der es ihm gestattete, den ganzen Ballast seiner neugewonnenen subjektiven Formwerte bequem zu handhaben. Man darf mit Recht von einem Ballast sprechen, denn alles, was es in Frankreich und Deutschland an Seltsamkeit und Seitensprüngen zu lernen gab, nahm diese Dichterseele in sich auf, um es ihrer Souveränität dienstbar zu machen. Und doch kann man bei Dehmel gerade für diese seine Werdezeit eigentlich nicht von direkten Einflüssen sprechen. Die Art, in der er das Brauchbare und Entwicklungsfähige für sich gewann, war weder ein unbewußtes Sichhingeben noch ein Mangel an Selbständigkeit. Bewußt, und mit feinem Instinkt für innere Abgeschlossenheit, meißelte er sich den mystisch-brünstigen, phantastischen Schwärmer zurecht, als den er sich uns heute darstellt. Er ist vielleicht ein wenig zu klug! Dehmel ist ein Stück von dem, was man mit dem Ausdruck »dekadent« zu bezeichnen pflegt; seine oft krankhaft outrierte Art, Empfindungen und Eindrücke zum Bewußtsein des Hörers zu bringen, ließ ihn oft auf Abwege geraten, die den Künstler nicht mehr erkennen lassen und lediglich ein Spielen mit Raffinement und Persönlichkeit bedeuten. Wenn man Dehmels gesamte Produktion überblickt, namentlich seine früheren Sammlungen, ergibt sich deutlich eine Grenze zwischen den Ergüssen eines reinen, spontanen Künstlerempfindens und jenen aus seiner Erziehung zu bestimmten Tendenzen der Form hervorgegangenen Arbeiten. So gelingen ihm Töne, wie die Gedichte »Aus banger Brust« und »Ideale Landschaft« sie aufweisen, neben dem stark verzeichneten, hypersensitiven Stimmungsgemälde »Bastard«. Seine erste Sammlung waren die »Erlösungen« 1891, der 1893 »Aber die Liebe«, 1895 »Lebensblätter« folgten. Schon in den »Erlösungen« kündigten sich die eben erwähnten Kontraste entscheidend an. Neben dem hysterischen Nervenrausch der Pubertät das intellektuelle Grüblertum der Überreife. Auch die Ziele des künstlerischen Programms sind im wesentlichen bereits fixiert; die Weltanschauung hat bereits ihr idealistisches Gepräge. In »Aber die Liebe« geht er einen Schritt weiter. Das noch unklare Drängen und Gären der Formtendenzen beginnt zu stagnieren. Die typischen Linien beginnen sich scharf und deutlich, oft sogar schon aufdringlich abzuheben. In seiner Vorrede zu den »Lebensblättern« hat sich Dehmel selbst über seine künstlerischen Intentionen geäußert, und man kann diesen Gedichtband als eine Beglaubigung seiner Theorien auffassen. Ein erschöpfendes Bild seines Innenlebens eröffnet uns der Dichter hier, ein Auf- und Niederwogen von Gefühlen und Reflexionen, die seine Seele erfüllen, zeigt er uns und reicht uns seine Seligkeiten und Räusche, damit auch wir davon trinken mögen. Auch dramatisch versuchte sich Dehmel. Seine Tragikomödie »Der Mitmensch« 1895 und das Drama »Luzifer« 1899 sind Arbeiten eines geistreichen, feinsinnigen Dichters, aber keine Schauspiele. Den Höhepunkt seines bisherigen Schaffens erreicht er in der lyrischen Sammlung »Weib und Welt«, Gedichte und Märchen, und dem Epos »Zwei Menschen« 1903, einer Art Roman in Versen. Es erübrigt, die formelle Eigenart Dehmels, die sich besonders in den beiden letztgenannten Büchern ausspricht, übersichtlich zu charakterisieren. Was seine Anhänger oft verleitet hat, in dem Dichter den »Propheten« einer neuen lyrischen Form zu erblicken, ist die Deutlichkeit, mit der gerade bei ihm der neue Standpunkt sich Geltung verschafft – das musikalische Prinzip der lyrischen Form, oder, wie es manche mit einem nicht ganz klaren Schlagwort nennen wollten, der »innere Rhythmus«. Die leisesten Schwankungen des Stimmungsgehaltes in der Färbung des Rhythmus wiederzugeben, eine äußerste Differenziertheit in der Wertung von Wortklang und Silbendauer zu erreichen, die detaillierteste Nuancierung der Sprache wurde leitendes Prinzip. Man ist leicht geneigt, von diesem Prinzip anders geartete Resultate, wie sie etwa bei anderen Formkünstlern unserer Tage in Erscheinung treten, zu erwarten. Die Anstrengung, das Raffinement der Deklamation, an die Dehmelsche Poesien appellieren, lassen äußerlich eher Willkür und Lässigkeit verraten, während doch strengste, ja pedantische Berechnung und Selbstsucht vorhanden sind. Die Erklärung für diesen Umstand ist ähnlich wie etwa bei Holz mit dem Hinweis auf den Charakter der deutschen Sprache gegeben, die dort, wo der geeignete Prüfstein an sie angelegt wird, an Dissonanzen reicher ist, als unser vielgetäuschtes Ohr vermutet. Und man muß Dehmel zugestehen, daß er das Wesen dieser Sprache im Tiefsten erfaßt hat, daß er die Wissenschaft der deutschen Metrik mehr bereichert hat als zehn Theoretiker! Zur Vervollständigung seines Dichterportraits sei endlich noch Dehmels Tätigkeit auf einem Gebiete erwähnt, das sich erst in ganz jüngster Zeit auf ein höheres, sagen wir literarisches Niveau zu heben beginnt. Ich meine die Jugendliteratur. Auch hier hat er ganz neue Töne, man kann fast sagen entdeckt. Seine reiche Seele fand sich leicht in dem Chaos der Kinderempfindungen zurecht; er verstand es, das Lallen der Kleinsten wie den Übermut der Größeren in künstlerische Formen zu gießen, ohne dadurch den Zusammenhang mit der spezifischen Welt des Kindes zu verlieren, d. h. seine Ansprüche auf Willkür und Ungereimtheit ganz unberücksichtigt zu lassen. So gelang ihm die vorzügliche mit Paula Dehmel zusammen veröffentlichte Sammlung »Fitzebutze« und viele andere in Zeitschriften und in der Anthologie »Buntscheck« (1904) erschienene kleine Lieder und gereimte Spässe, die seinen Namen auch für dieses Genre klangvoll machten.

V. H.


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