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Edmond und Jules de Goncourt (1822-1896; 1830-1870). Die Brüder Goncourt waren ein großes Genie, das man nur mit dem Genie Flauberts vergleichen darf. Sie waren bedeutende Schriftsteller, wie kein einziger vor ihnen, wenn man Théophile Gautier ausnimmt. Schriftsteller in dem Sinn, daß sie fleißige und gewissenhafte Arbeiter auf dem Felde, das sie sich erwählt hatten, gewesen sind, die niemals eine Stunde der Verirrung in die Tiefebenen geschäftstüchtigen Literaturbetriebes gekannt haben. Sie bekannten ihre Eindrücke mit rücksichtsloser Aufrichtigkeit und – was vielleicht nicht geringer einzuschätzen ist – mit peinlicher Genauigkeit. Schon aus ihrem ursprünglichen Temperament heraus waren sie Feinde des rhetorischen Ergusses wie des vulgären Romans. Deshalb bemühten sie sich durch Jahre, einen Stil zu erfinden, der nur ihrem Empfinden, nur ihrer Art, die Dinge zu sehen, eigentümlich wäre. Und wenn es ihnen gelungen ist, einen rein persönlichen, unnachahmlichen Stil zu schreiben, so haben sie andererseits das historische Verdienst, eine oder zwei Generationen zur Selbständigkeit erzogen zu haben. Mit der Proklamation der Ecriture artiste (künstlerische Schreibweise) haben sie die Literatur vom Journalismus geschieden; die Grenzen haben sich seither nicht verwischt; wir wissen, welche ungeheure Evolution die französische Sprache in den letzten zwanzig Jahren vollbracht hat. Die Goncourt sind die ersten gewesen, die eine bewußte Kultur des Stils gepflegt haben. Zola hat sie für den Naturalismus in Anspruch genommen; das ist sowohl richtig als grundverkehrt. Nachdem die Goncourts die historische Methode des Auguste Thierry auf die Geschichte des 18. Jahrhunderts angewandt hatten, indem sie die Physiognomie der Zeit nach den Augen und dem Lächeln einer Königin, ihren Briefen und den vielen kostbaren Kleinigkeiten, den Bibelots, nach intimen Dokumenten, die doch die meiste Wahrhaftigkeit für sich haben, neu geschaffen hatten, gingen sie zum modernen Roman über. Sie wandten auch für ihre Zeit diese zuverlässigste aller historischen Methoden an. Sie ist die zuverlässigste, weil der Forscher auf die unbedachten Gesten lauert, die blitzartig eine Seele offenbaren, weil er aus dem intimen Leben schöpft, das den Charakter, das Temperament, die Talente und die Fehler eines Menschen am unmittelbarsten erkennen läßt. Aus dem Bild, das er sich so gemacht hat, wird der Künstler mit Leichtigkeit auf die Geschichte schließen können, die die Menschen, die er wie intime Freunde kennt, gemacht haben. Und dann ist diese Art die einzige, die menschlich, d. h. psychologisch und künstlerisch befriedigt. Als die Goncourts mit solchen Anschauungen an moderne Stoffe herantraten, bevorzugten sie, die so neugierig nach allen zweifelhaften und seltenen Geschehnissen waren, das Ungewöhnliche. Wie sie einen neuen Stil erfunden hatten, entdeckten sie Menschen und Orte, die man in der zeitgenössischen Literatur vergeblich gesucht hätte. So kam die »Soeur Philomène« zustande, so »Renée Mauperin« (1861 und 1864), »Germaine Lacerteux« (1864), »Henriette Maréchal« (1866), »Nanette Salomon« (1867), »Madame Gervaisais« (1869). – 1870 starb Jules. Um diese Zeit standen sie wie alle Neuerer im Ruf, »Pornographie« zu treiben. – Sie hatten die Welt des »Realismus« durchforscht, und, was sie gesehen und erlauscht, wahrhaftig und künstlerisch geschildert. Dabei waren ihre Bücher voll tiefsten Mitleids, sie waren im höchsten Maße dichterisch, ja romantisch – eine fast weiche Menschlichkeit klagte und litt, jubelte kurz auf; etwas, das die realistischen Nachfolger der Goncourt verloren haben. Die Romane, die Edmond nach dem Tod seines Bruders schrieb, sind anders als die Früchte gemeinsamer Arbeit. (»Les frères Zemganno« (1879), »Le Faustin« (1882). »Chérie« (1884).) Der erste (»La fille Elisa« 1877) ist den älteren noch ähnlich, aber schon lyrischer, die anderen sind ganz Edmond de Goncourt, der ein großes Herz hatte und die Tragödien dieser Welt nicht ohne Tränen in den Augen ansehen konnte. Jules scheint der systematische Arbeiter gewesen zu sein, der Ordner, der harte Theoretiker. Dazu kommt, daß dem Edmond der Tod des Bruders sehr nahe ging. Was die großen Neugierigen und Menschlichkeitsucher in ihren Romanen nicht verwerten konnten, haben sie fleißig Tag für Tag in ihr Journal geschrieben. Dieses ist das größte und bedeutendste Dokument einer Zeit, das je ein Schriftsteller hinterlassen hat. Die beiden hatten Falkenaugen und den Verstand eines Halbgottes. Sie waren eins, so sehr, daß der Tod des einen den andern um nichts verminderte.
R. S.