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Das Jahr 1889 wird in jeder Literaturgeschichte eine große Rolle spielen, ist es doch das Geburtsjahr des deutschen Naturalismus, der die moderne Literaturbewegung einleitet. Es erschienen in diesem Jahre Gerhart Hauptmanns »Vor Sonnenaufgang«, Hermann Conradis »Adam Mensch« und der »Papa Hamlet« sowie die »Familie Selike« von Holz-Schlaf, also vier sehr bemerkenswerte Erzeugnisse, die von den bisher begangenen Pfaden durchaus abwichen, und deren Einfluß in kurzer Frist mit der bis dahin herrschenden Geschmacksrichtung gründlich aufräumte. Es wehte ein frischer Wind im Lande und pfiff dem auf dem deutschen Parnaß thronenden schwächlichen Epigonentum kräftig um die Ohren. Nur wenige Jahre vergingen, da waren die bis dahin allmächtigen Literaturgrößen, die Wildenbruch, Wilbrandt, die Julius Wolf, Dahn, Ebers, Baumbach und wie sie alle hießen, wenigstens für das aufgeklärte Publikum völlig entthront. Und das mit Recht, denn die dem Jahre 1889 vorhergehende Zeitepoche war gerade kein Ruhmesblatt in der deutschen Dichtkunst. Freilich gab es auch in dieser Zeit Dichter, deren Namen ihren guten Klang immer behalten werden, wie die Schweizer Gottfried Keller und C. F. Meyer, wie Fontane, Raabe, Wilhelm Busch und manche andere. Aber alle diese waren Einsame. Sie gaben ihrer Zeit nicht ein Gepräge; diese stand vielmehr ganz unter dem Einflusse des schwächlichen Epigonentums, der Nachahmung eines mißverstandenen Klassizismus.
Den Gegenschlag brachte eben das Jahr 1889. Eine Reihe jüngerer Schriftsteller erkannte, daß unsere Dichtkunst in der Schablone und dem Klischee einer sklavischen Nachahmung der klassischen Periode zu ersticken drohe, und empörte sich dagegen. Man verlachte die bewährte »Technik des Dramas« von Gustav Freytag, mit der alle Oberlehrer die Bühnen erobern zu können glaubten, und warf kühn das über den Haufen, was bisher stolz auf hohem Kothurn einherschritt. Wie bei jeder Revolution, auf welchem Gebiete es auch sei, so geschah es auch hier; ganz ähnlich wie hundert Jahre vorher, in der sogenannten Sturm- und Drangperiode, ging auch die moderne Geistesrevolution vor: Die literarischen Empörer zerschlugen zuerst die hergebrachte Technik, die noch immer auf die alten aristotelischen Prinzipien im Lessingschen Gewande schwor. Prinzipien, die zu ihrer Zeit vielleicht Wahrheiten waren, für uns aber längst zu drückendem, unerträglichen Ballast geworden waren. Beeinflußt war diese Revolution durch das Ausland: Zola, Ibsen sowie Tolstoi (in seinen früheren Romanen) hatten ihre Schatten vorausgeworfen. Trotzdem hat die deutsche Bewegung durchaus ihre Eigenart zu bewahren gewußt, sie ist in ihren Konsequenzen vielleicht am weitesten gegangen.
Die Jungen zerbrachen die alte Form und glaubten, ohne etwas an ihre Stelle zu setzen, eine neue Kunst schaffen zu können. Sie verfolgten instinktiv Rousseaus Gedanken: »Zurück zur nackten Natur!« Während aber der französische Rationalist nur an eine gesunde, kräftige Natur dachte, beschäftigten die jungen Naturalisten sich mit Vorliebe mit ihren kranken, entarteten Auswüchsen. Sie gaben das Leben, wie sie es sahen, aber sie sahen ein trübes, düsteres Nebelbild. Dieser innere Schaden, den die neue Richtung mit in die Welt brachte, mußte ihr gar bald eine Lebensgrenze setzen. Ihre begeistertsten Anhänger sogar sahen in kürzester Zeit, wie das kampfesmutige Genie allmählich in einen Don Quichotismus schlimmster Art verwandelt wurde, und ihre Erbfeindin, die Reaktion, jubelte. Kaum zehn Jahre der Blüte waren das gewesen. Aber die Reaktion jubelte ohne Grund. Für sie war das Feld nicht geräumt. Schon zu seinen Lebzeiten hatte der Naturalismus für Nachkommen gesorgt, ganz entartete Nachkommen freilich, die aber trotz aller Wesensverschiedenheit ihm allein ihre Existenz verdankten. Die toten Epigonen, die über den ungeschlachten, polternden Bengel lachten, und eine Wiederkunft für sich witterten, mußten neuerdings in ihre Särge zurückkehren. Um so kräftiger und hoffnungsvoller schossen aus dem durchwühlten Boden die jungen Gewächse des Symbolismus, des Mystizismus, der Renaissanceromantik, des Neuklassizismus, und wie sie sonst literaturhistorisch getauft sein mögen. Es war also ein Abdanken des Naturalismus zugunsten selbstgewählter Erben!
Wiewohl der Naturalismus seinem ganzen Wesen nach dazu angelegt war, alles zu egalisieren, entwickelte er noch auch innerhalb seiner engsten Grenzen starke, in sich abgeschlossene Individualitäten. Für das feinere Auge des Kritikers waren die Nuancen, die Grade der Selbständigkeit, bereits sichtbar. Nur die schwächeren, die begrenzteren Talente blieben auf den ursprünglich eingeschlagenen Wegen, Hauptmann, Holz, Max Halbe, Helene Böhlau u. a. dagegen fanden das gelobte Land ihrer spezifischen Eigenart, oder doch fruchtbare Seitenstraßen, ohne jedoch ihre Abkunft späterhin undankbar zu verleugnen. Sie hatten vom konsequenten Naturalismus ein Doppeltes gelernt. In formeller Hinsicht das Verzichten auf die Hilfe eines starren, den freien Fluß des schaffenden Gedanken hemmenden Dammes, wie er sich als jene bereits erwähnte philiströse Verballhornung klassischer Prinzipien darstellt, in gedanklicher Beziehung eine dem romantischen Genius verwandte Großzügigkeit und Freiheit der Weltanschauung.
Fast alle diese hatten, sofern es Dramatiker waren, ihre Hochburg in der bekannten, von Brahm, Schlenther, von Harden, den Brüdern Hart und anderen gleichfalls im Jahre 1889 in Berlin gegründeten »Freien Bühne«. Sie war dazu bestimmt, das Seebecken zu werden, von dem aus der breite Strom des neuen Geistes sich über fruchtbares Ackerland ergießen sollte. Hier sammelten sich die verwandten Strömungen aus den nordischen Bergen sowohl wie aus den Ebenen Frankreichs und Rußlands: Ibsen und Björnson, Zola und Tolstoi. Eine kleine Gemeinde, die der literarischen Welt Deutschlands ihr Zukunftsprogramm diktierte, junge, oft unreife, aber von einem kühnen Eifer beseelte Künstlernaturen, die den Herren des modernen Auslandes die Türen der gastlichen Heimat öffnen halfen. Die »Gespenster« Ibsens feierten Triumphe, Zolas »Totschläger«, Tolstois »Macht der Finsternis« erregten bald Stürme der Begeisterung, bald furchtbare Entrüstung. Man begann über das Wesen der Tragik nachdenklich zu werden, und das Geleitwort jeder modernen Bestrebung überhaupt, das παντα ρει des Geistes, »Alles ist relativ«, fand auch auf den Begriff der dramatischen Kunst Anwendung. Man warf die Moral aus der Kunst hinaus und setzte das subjektive ethische Empfinden dafür ein.
So im Drama. Im Romane vollzog sich die Revolution weniger kraß. Hier war sie von äußeren Momenten nicht so deutlich bestimmt. Auch stand die Bewegung hier unter weniger günstigen Sternen. Das sexuelle Problem drängte sich in den Vordergrund und füllte mit seinen Deutlichkeiten die Lücken, die die Phantasie übrig ließ. Der Markt, der die Gattung des Romans vor allen anderen immer am meisten begünstigte, wies die Dichter nur allzu sehr auf die Fruchtbarkeit solcher sexueller Motive hin. Die Folge war zunächst ein Verflachen, ein unverschleiertes Sichhingeben an unlautere Tendenzen. Was Zola, der große Apostel, mit heiliger Überzeugungstreue in die Welt hinauspredigte, wurde gar bald als Spekulation aufgefaßt und aufgenommen. Eine Flut von pornographischer Schundliteratur hat dieser strenge Sittenprediger, der im Grunde seines Wesens eher ein Philister als ein Verführer gewesen ist, entfesselt; man überbot sich gegenseitig in der Darstellung obszöner und geschmackloser Äußerlichkeiten und gab sie für Kunst aus. Nur die Allervornehmsten sahen in den schlechtübersetzten, von unwürdigen Verlagsanstalten vertriebenen Büchern des großen Franzosen die Breviere einer neuen Prosakunst. So entstand neben dem alten Zuckerwasserklischee ein anderes, scharf kontrastierendes, das, halb Familienskandal, halb Krankenhausatmosphäre, mit frivoler Nachlässigkeit gearbeitet, denkfaulen Verfassern ein lüsternes, minderwertiges Publikum erzog. Erst nach und nach setzten die wild wuchernden Zweige edlere Triebe an. Nicht zum geringsten Teile ist das das Verdienst des besseren Teils der Kritik, der auf die Schäden aufmerksam machte. Neben den ursprünglichen Fahnenträgern der naturalistischen Prosa, Schlaf, Heinz Tovote, Schnitzler, erhoben sich Talente wie Heinrich und Thomas Mann, Clara Viebig und der erst später bekannt gewordene Hermann Stehr. Auch Sudermann, dessen Realismus bereits ein kräftiges Sichaufbäumen gegen die epigonische Konvention bedeutet, hat in seinen reifsten Prosawerken auch dem Naturalismus seine Opfer gezollt. Sein schmiegsames Talent ließ ihn allerdings nicht lange und nicht tief in den Fußstapfen der Reformatoren wandeln. Er nahm sich, was er brauchte, um später aus Ehrgeiz oder Bedürfnis mit anderen literarischen Bannerträgern zu wetteifern. Trotzdem aber hat sein »Katzensteg« mit der neuen Richtung mehr als das Geburtsjahr gemeinsam. Im übrigen sind seine Lehrmeister unter den geistigen Führern früherer Epochen zu suchen. Vor allem waren es die Franzosen Viktor Hugo und Dumas fils. Im Gegensatze zu den bisher Genannten, die, ebenfalls sämtlich vom Auslande bestimmt, dem Naturalismus ein deutsches Gewand verliehen, ist Sudermann Nachahmer längst abgetaner Franzosen geblieben, im Drama noch mehr als im Roman. –
Wir haben schon erwähnt, wie sich bei allem Egalisierungsbestreben die individuellen Talente des Naturalismus für den Kenner im Keime schon nach ihren ureigensten Qualitäten sondern ließen. Es wäre müßig, jedem einzelnen der gescheiterten Vertreter des Naturalismus nachzugehen, zu untersuchen, an welchem Bazillus er zugrunde gegangen ist. Vielleicht gibt es für kleine und kleinste Talente eben nur die eine Krankheit: die unzureichende künstlerische Kraft. Dagegen interessiert es natürlich um so mehr, jene Brücken zu entdecken, auf denen die stärkeren in ihre neuen Länder hinübergelangten.
Schon 1891 hatte der überschnelle Prophet, der Wiener Essayist Hermann Bahr, eine Broschüre veröffentlicht, »Die Überwindung des Naturalismus«, der eine Anzahl beistimmender Zurufe in der Presse auf dem Fuße folgten. Zu rasch begann man sich in seiner Nacktheit zu langweilen. Zu den alten Gewändern zurückzugreifen, das ging nicht; war man sich doch völlig bewußt geworden, wie lächerlich im Schnitt, wie verstaubt sie waren. Da hieß es nunmehr neue Gewandstudien betreiben. Aber wo? Vielleicht gibt es doch Lehren, die ewig jung bleiben, sagte man sich, und hielt unter den großen Kunstpädagogen des Jahrhunderts Umschau. Und man täuschte sich nicht. So schnell brauchte man mit den Koryphäen nicht aufzuräumen!
1895 erschien Ibsens »Baumeister Solneß« und gab dem Symbolismus, der sich mit Hauptmanns »Hannele« bereits angekündigt hatte, die welthistorische Weihe. Er bildet die erste Stufe der Reaktion auf den Naturalismus. Wie der Naturalismus das Gewand verleugnet hatte, so brachte der Symbolismus mit seiner bis ins feinste differenzierten Kultur den säuberlichen Faltenwurf wieder zu Ehren. Er konnte sich nicht genug tun an satten Farben, an Überfülle und Rätseln. Immer kräftiger und bewußter erhoben die Tendenzen dieser Kunstrichtung ihre Stimme, und der Zeitgeschmack mit seinen mystischen Liebhabereien, mit seiner dekadenten, senilen Religiosität kam ihnen zu Hilfe. Man begann sich mit den früheren Evangelien auseinanderzusetzen; man wollte nicht gerade aufräumen mit ihnen, dazu waren sie noch zu heilig, nur ein günstiges Verhältnis zu ihnen wollte man entdecken. Das gelang denn auch mit Ibsen und Tolstoi ganz vorzüglich. Ein Fatalist in des Wortes vornehmerem Sinne der eine, ein moderner Christus der andere – – wie bequem konnten sie auch diesmal als Herolde funktionieren! – »Hannele« – das dürfte wohl ein Ausgangspunkt sein. Allen künftigen Literaturhistorikern wird dieses Werk ein interessantes Phänomen bleiben! Denn nicht nur innerhalb der Produktion eines Dichters, sogar innerhalb eines einzigen Werkes kämpfen hier zwei Kunstbestrebungen um den Kranz. Und wie friedlich leben sie hier nebeneinander! Man könnte fast sagen: »Was liegt an einer künstlerischen Überzeugung? Die Hauptsache ist der Dichter, der so charakterlos sein darf, wie er will, wenn er nur genial genug ist! Milieudrama und christliche Symbolik! Peschke – – und Gottwald-Christus!! Aber wenn wir uns die Klänge dieses einzigschönen Gedichtes wieder in die Seele zurückrufen, so finden wir, daß doch jene Stellen, in denen das Symbol zum vollen und reifen Ausklang kommt, das Bleibende für unser Gefühl geworden sind, während wir die gut gearbeiteten Eingangsszenen nur halb aus Pietät gegen den zweiten Teil so liebevoll aufgenommen haben. Wir verzeihen die kleine Dissonanz aus Dankbarkeit gegen den Dichter, dem wir mit neuen Erwartungen gegenübertraten! Hat er sie gehalten? Hat Hauptmann auch dem Symbolismus zum Siege verholfen?! – – »Die versunkene Glocke« läutete vielleicht doch zu lange! Sie war so recht für alle blinden Anbeter des großen Dichters geschrieben. Allerdings, der Gipfel des Symbolismus war damit erstiegen, ein Gipfel, von dem es wieder einmal rasch abwärts ging. Fulda, Sudermann, Hirschfeld, sie halfen den Symbolismus begraben. Es blieb wieder bei einigen Erkenntnissen, die sich die Besten zunutze machten. Noch einmal drängte sich der Symbolismus unverhüllt in die literarischen Schranken in »Michael Kramer«, diesmal nur episodisch, als christlicher Idealismus – – um ein dramatisch sonst gut gebautes Stück für das Theater unmöglich zu machen. Alles, was in seinem Genre sonst noch folgte, war »Schule«.
Die engsten Berührungspunkte mit dem Symbolismus dürfte wohl der Mystizismus aufweisen, den uns der Belgier Maurice Maeterlinck vermittelt hat. Die Reaktion wollte ein immer breiteres Gebiet, man wollte wieder träumen dürfen, wie einst in den Tagen der blauen Blume, aber noch schleierhafter, noch nebliger! Und wie damals zur Zeit der Schlegel und Tieck sah man auch diesmal das Heil in der vierten Dimension. Die ganze Zeitströmung war günstig. Ja, selbst die Wissenschaft in ihrem Übereifer, neue Wege zu entdecken, schien bereitwillig die innere Berechtigung des Übersinnlichen unterschreiben zu wollen. Neue Kräfte waren von der Wissenschaft entdeckt; warum sollte die Kunst, ihre vornehmste Schwester, nicht auch durch solche fruchtbar werden? Schnell griffen die Jüngsten nach dem Programm des Belgiers. Was die Theaterdirektoren versäumten, das holten die begeisterten Jünger des Dichters nach. Die schwarzdrapierten Bühnen und die andächtigen, dilettantischen Akteure mit dem Transparent in Rede und Gebärde sollten dem neuen Stil zum allgemeinen Verständnis verhelfen. Aber sie vermochten nichts gegen die mißtrauische Masse. Sie blieben trotz ihrer gutgemeinten Anstrengung und ehrlichen Überzeugung Karikaturen. Erst als ein Berufener das Wort ergriff, allerdings mehr für den Dichter als Individualität, als für seine Richtung, erweiterte sich der Kreis der Staunenden. Maximilian Harden, der feine Analytiker, brach diese Lanze für Maeterlinck, dem seither in Deutschland eine zweite Heimat entstanden ist.
Was anfangs nur eine Pietät der Kunstbeflissenen war, wurde nunmehr ein willkommener Tummelplatz der »Schaffenden« d. h. jener Halbtalente, die sich aus Mangel an technischem Können auf die Jagd nach neuen Ausdrucksmitteln und Stilarten begaben. Wie in der Malerei die Sezession eine Überfülle von Minderwertigkeit den Neuaufstrebenden entgegenwarf, um sich erst später aus unwirtlichen Schalen herauszulösen, so ähnlich auch hier. Maeterlinck blieb mit seinen besten und ureigensten Werken; die Schwärmer verliefen sich, die Nachbeter wurden totgehöhnt. Aber jene christlich romantischen Elemente, halb deutsch und halb romanisch, die der dilettantische Enthusiasmus äußerlich verbreiten half, hatten auch bei den Zunftgerechten, den wirklichen Kennern, Wurzel geschlagen. Es würde zu weit führen, allen Früchten der Saat nachzuspüren, sie gediehen fast auf allen Feldern der jüngsten Renaissance unserer Literatur, am erfreulichsten dort, wo sie der durch den Naturalismus so arg vernachlässigten Form wieder zu Amt und Würden verhalfen. Schon der Symbolismus hatte hier vorgearbeitet. Seine Vorliebe für Märchenstoffe lenkte ihn unwillkürlich auf die gebundene, stilistisch rein abgestimmte Rede. Nachlässigkeit der Form und Wirrnis des Gedankens mußten überwunden werden, sollte ein wirklicher Stilkünstler aus der Menge der Kommenden und Suchenden auferstehen.
Wieder ist es das Drama, das den anderen Gattungen der Poesie vorauseilte, und wieder das Drama des Auslandes. In Frankreich feierte Rostands »Cyrano von Bergerac« Triumphe, in Deutschland sollte er sie fortsetzen dürfen. Eine gut und geschickt gearbeitete Übersetzung von Ludwig Fulda tat das erste, eine undankbare, von der Unfähigkeit und Unfruchtbarkeit der deutschen Gegenwart in tiefster Seele überzeugte Kritik streute dem Triumphator Palmen! »Renaissanceromantik« schrie man, und wieder war ein neues Schlagwort geprägt, die neue Richtung getauft. Diesmal war es ein unbestrittener Erfolg bei Kritik und Publikum, der die Fähigsten zur Nachdenklichkeit veranlagte. Durfte man es denn wirklich wagen, historische und phantastische Stoffe wieder der Bühne zu gewinnen?! – Und man blieb nicht stehen bei diesem Rückwärtssuchen. Was man bei den Romantikern Brauchbares fand, mochte doch auch der Klassizismus reichlich besitzen. So wurde aus manchem grausamen Umstürzler und Alleinseligmacher ein braver Pietist und gehorsamer Schüler des Neuklassizismus. Die Renaissancemenschen schossen und schießen wie Pilze aus dem Boden. Überall witterte man Schätze, überall grub man. Selbst in dem gottverlassenen siebzehnten Jahrhundert fand man moderne Geister, und Christian Günther mußte sich auf Büttenpapier bequemen. Heinse, Jean Paul und noch so mancher der armen Vergessenen bestieg wieder das Piedestal. Man brauchte Götter, romantische und klassische. Bis zu Sophokles ging man und gewann ihn für einen modernen Theaterdirektor. (»Elektra.«)
– Und wieder scheint es, als ob das Dürsten und Drängen nach Form und Klang, das Reorganisieren und Wiedergewinnen sich zum Segen gestalten solle. Aus den unklaren Akkorden beginnen sich reine Töne emporzuringen, aus dem Wirrwarr der Schemen – – Physiognomien. Und wenn wir ganz genau hinsehen, bemerken wir gar, daß die neuen Entdecker und Wiederentdecker ein seltsames, ureigen konstruiertes Auge besitzen, daß ihr Blick tief eingedrungen ist. Sie klatschen das Gelernte nicht mechanisch und äußerlich ab: sie sind keine Epigonen – sie wollen Promethiden sein! Und die Besten unter ihnen, wie Hofmannsthal, haben sogar Hoffnung, ein scharf umrissenes literarisches Portrait zu hinterlassen, in dem die senilen Züge des Verfallzeitlers nicht zu entdecken sind.
Es ist in unseren Tagen ein beliebtes Mittel, die Pioniere neuer Gedanken und Überzeugungen mit dem plumpen Schimpfwort »pathologisch« totschlagen zu wollen. Die nichtssagenden Bezeichnungen »pathologisch«, »dekadent« u. s. w. werden mehr als einem denkfaulen Philister ein geflügeltes Wort, sie werden eine willkommene Bequemlichkeitsphrase der Reaktionäre. Aber dadurch ließen sich die Vertreter der neuen Literatur nicht einschüchtern, sie gingen und gehen ohne Rücksicht auf das hämische Gelache so mancher Kritiker ihren Weg weiter. Noch immer kann man von einer einheitlichen, zielbewußten Richtung nicht sprechen, noch immer handelt es sich um ein Suchen. Aber es ist kein unsicheres Tasten mehr, es ist nicht das Suchen des Kindes, das Blindekuh spielt, sondern das des Chemikers, der auf Grund einer Menge von Kenntnissen experimentiert.
Der Einfluß des Auslandes ist immer noch unverkennbar – – genau so wie sich beim Auslande selbst der Einfluß der deutschen Literatur leicht nachweisen läßt. Aber es handelt sich heute nirgends um ein unverständiges Nachbeten des Auslandes, vielmehr um ein verständiges Eindringen, ein mühevolles Abwägen und Aufnehmen. So hat der italienische Lyriker Carducci Leute wie Hofmannsthal, Stefan George und andere beeinflußt, während der Franzose Verlaine namentlich auf Dehmel, Dörmann usw. eingewirkt hat. Außerordentlich groß ist der Einfluß Jens Peter Jakobsens gewesen, ebenso Ibsens, Strindbergs und Björnsons. Aus Rußland haben Dostojewsky und Gogol, leider auch der spätere Tolstoi kräftigere Spuren bei uns hinterlassen, während der Amerikaner Walt Whitman Leute wie Schlaf und andere eine Zeitlang in seinen Bann zog. – Merkwürdigerweise haben andere starke Talente, wie der Deutschamerikaner Robert Reitzel und der Holländer Gerhard Douwes Dekker (Multatuli) kaum nachweisbaren Einfluß geübt. Dagegen ist Théophile Gautier, der erste »l'art pour l'art«-Künstler, zu einer größeren Anerkennung bei uns gelangt, die in jüngster Zeit – endlich! – auch dem wundervoll-feinen Villiers de L'Isle-Adam zuteil zu werden scheint. Auch Anatole Frances, Maupassants, Oskar Wildes, Maurice Barrès', Baudelaires Einflüsse lassen sich mit Leichtigkeit nachweisen, ebenso die von Huysmans, von Mirbeau und die der sog. Parnassiens.
In jüngster Zeit scheint sich wieder eine neuere Richtung heranzubilden, die man vielleicht als die occultistisch-experimentelle bezeichnen könnte, obwohl dieses Wort, wie wir uns nicht verhehlen, durchaus nicht völlig zutrifft. Ihre Vertreter hat man in Gustav Meyrink, Hanns Heinz Ewers, Theodor Etzel (diese beiden nur in ihren späteren Arbeiten) und vielleicht Oskar H. Schmitz zu suchen. Sie ziehen das Unmöglichste, Geheimnisvollste und Unbewußte in den Bereich der künstlerischen Produktion und bedienen sich in bewußter Weise der verschiedenartigsten Rauschzustände als Mittel zum künstlerischen Schaffen. Ihre Lehrmeister sind Th. Amadeus Hoffmann, Jean Paul, Baudelaire, Edgar Allan Poe und Carducci.
Aber alle diese Einflüsse auf die moderne Literatur und manche andere, wie die Sören Kierkegaards, der Lagerlöf, Leopardis, Stendals, Max Stirners usw. usw. sind gering im Vergleich zu den gewaltigen Einflüssen der Titanen Goethe, Heine und Nietzsche, ohne die unsere moderne Literatur, so wie sie ist, überhaupt nicht denkbar wäre.
Überhaupt konnten wir hier nur ein paar unvollkommene Beispiele anführen, die übrigens meist wild durcheinandergreifen, so zwar, daß ein Schriftsteller in einem Werke von dem, in einem anderen von einem anderen, ja in demselben Werke von verschiedenen beeinflußt erscheint. Das ist kein Vorwurf, im Gegenteil: von einer sklavischen Nachahmung kann fast nirgends die Rede sein. Es wird vielmehr durch diese Tatsache der Ernst bewiesen, die stetige Arbeit, mit der Dichter von heute täglich an sich selbst arbeiten. Die Zeiten des achtzehnten Jahrhunderts, wo man beim Morgenkaffee sein Gedicht machte – 365 im Jahre! – und damit ein berühmter Dichter ward, sind Gott sei Dank vorbei!
Es steckt eine starke, ehrliche Kulturarbeit in dem künstlerischen Schaffen unserer Tage – das freilich durch eine Überfülle seichtesten Dilettantismus auf dem Gebiete der Literatur stark geschädigt wird. Dazu kommt, daß die Dunkelmänner und Reaktionäre heute wie stets bestrebt sind, alles Kulturfördernde zu unterdrücken: so geschieht es, daß so manche Blätter ihren Lesern Steine statt Brot vorsetzen. Statt ihren Leserkreis langsam künstlerisch zu erziehen, tragen sie dem »Geschmack des Publikums« Rechnung, d. h. sie setzen ihm das platteste, oberflächlichste Zeug vor, das es gibt. In der Beziehung sind wir hinter dem Auslande um viele Jahrzehnte zurück; das Feuilleton skandinavischer, französischer, ja selbst italienischer Blätter steht auf einer ungleich höheren Stufe, als das unserer deutschen Zeitungen.
Wir glauben daher, mit der Herausgabe der nachfolgenden literarischen Portraits in der Tat einem Bedürfnisse entgegenzukommen.
Bestimmt, in ein weitestes Publikum einzudringen, sollen sie jedem unbefangenen Kopfe ein wenig die Augen öffnen, ihn zur Erkenntnis der wahren Werte der modernen Literatur hinführen.
Die einzelnen Artikel sind mit den Initialen der Mitarbeiter gezeichnet, also
Dr. Walter Bläsing = Dr. B.
René Schickele = R. S.
Victor Hadwiger = V. H.
Erich Mühsam = E. M.
Dr. H. Ewers = Dr. H. E.