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Gerhart Hauptmann, geboren 15. November 1862 als Sohn eines Gastwirtes zu Salzbrunn in Schlesien, lebt in Schreiberhau in Schlesien. Über ihn hat der bekannte Kritiker Paul Schlenther, derzeit Direktor des Wiener Burgtheaters, in einem ausführlichen, biographisch-kritischen Buche gehandelt. Es ist natürlich jederzeit interessant und für das Verständnis der Werke jedes Dichters von Bedeutung, auch etwas über die intimeren Momente seines Lebens zu erfahren, doch muß ein Hinweis auf das genannte Werk in unserem Rahmen manches ersetzen, was einer ausführlicheren Erwähnung würdig wäre. Es sollen von den Lebensschicksalen unseres größten modernen Dichters nur diejenigen angeführt werden, denen ein direkter Einfluß auf sein dichterisches Talent nachgewiesen werden kann. Bestimmend auf Gerhart Hauptmanns früheste Produktion war vor allem sein Aufenthalt im Elternhause, der die Kinder- und frühesten Jünglingsjahre umfaßte. Der bunte Wechsel der Gestalten, denen das gastliche Haus des Vaters allerzeit offen stand, war so recht geeignet, auf die Phantasie des Kindes einzuwirken und für das scharfe Anschauungsvermögen und die Gestaltungskraft des späteren Dichters den Grund zu legen. Wie früh die Berührung mit der Kunst bei Hauptmann stattfand, beweist sein Aufenthalt in Italien. Zunächst war es die bildende Kunst, die seinen Ehrgeiz weckte. In seinem Bildhaueratelier zu Rom, in engster und stetiger Berührung mit dem Geiste des Altertums, mochten wohl die ersten Anfänge seines Genius wach geworden sein, der innere Drang zu schauen und zu gestalten. Eine Reise nach dem Süden 1883 brachte die erste größere dichterische Frucht, das epische Gedicht »Promethidenlos«, eine Nachahmung von »Childe Harolds Pilgerfahrt«. Es war ein tastender Versuch des Jünglings, der 1885 erschien, und bald wieder eingestampft wurde. Auch ein Drama »Das Erbe des Tiberius«, das noch ganz mit epigonenhaften Mitteln und Mittelchen rechnet, in dem kaum ein Hauch der späteren Größe zu erkennen ist, blieb nur ein skizzenhafter Versuch. Erst das Jahr 1888, in das die erste Bekanntschaft mit den Vorkämpfern der neuen Literaturbewegung, den Brüdern Hart, Leo Berg, Bruno Wille, Bölsche usw. fällt, bringt die entscheidende Wendung, den Eintritt in eine Ideenwelt, ein bewußtes Brechen mit dem Hergebrachten und Angelernten.
Schon hatten die beiden ältesten Fahnenträger des Naturalismus Holz-Schlaf ihren »Papa Hamlet« in die Welt gesandt, und die »Freie Bühne« mit ihrem Leiter Otto Brahm hielt ihre Türen offen für alles, was mit der jungen Kraft des neuen Evangeliums sich hervorwagte. So kam das Jahr 1889, das Siegesjahr des Naturalismus, »Vor Sonnenaufgang« oder, wie der frühere Titel lautete, »Der Sämann«, erlebte unter Brahms Leitung seine Uraufführung, Eine größere realistische Novelle, »Bahnwärter Thiel« 1887, hatte das Werk vorbereitet, in dem für die Verständigen und Vorurteilslosen bereits alle Keime der zukünftigen Entwicklung sichtbar waren. So mußte die Virtuosität, das Gräßliche und Abstoßende vorzuführen und dramatisch zu steigern, allgemein überraschen. Bei aller Lückenhaftigkeit und Stilwidrigkeit einzelner Szenen war hier ein großer Wurf zu entdecken. Die begeisterten Bewunderer, die den jungen Dichter auf ihren Schild hoben, blieben auch nicht aus. Man erkannte die Überfülle künstlerischer Kraft, die auch dort noch, wo sie auf Abwege geraten war, hundert technischen Schulmätzchen der zünftigen Poeten die Wage hielt. Mit welcher Kühnheit und Sicherheit war hier beispielsweise die Gestalt des jugendlichen Prinzipien-Menschen in die verwahrloste Umgebung der unglücklichen Helene hineingruppiert; wie wichen gerade die Züge dieser Hauptperson des Stückes von der Schablone ab, die doch sicherlich einen Schwärmer und Idealisten in den Mittelpunkt der Handlung gestellt hätte. Ein mächtiger Akkord brauste durch diese Szenen, eine erschütternde Wahrheit sprach aus allen Gebärden dieser Unglücklichen, die im Dunste des Alkohols und der Gemeinheit verkamen. In das Lallen eines betrunkenen Bauern klingt das Stück aus. – Das war Häßlichkeit und Verzweiflung, wie sie vorher außer Zola keiner zu schildern gewagt und dabei doch eine Tragik, die auch die Nörgler schweigen machte. Der große französische Romancier mochte wohl am stärksten auf dieses Jugendwerk eingewirkt haben, erst für Hauptmanns zweites Drama »Friedensfest« kommt Ibsen und seine komplizierte Psychologie eigentlich in Betracht.
In dem dritten Stücke »Einsame Menschen« aber, der genialsten Familientragödie der letzten fünfzig Jahre, ist der Einfluß des Norwegers am stärksten. Für sie hat Hauptmann aus »Rosmersholm« Tendenz und Stimmung geholt, um sie in seine eigene, spezifisch deutsche Art umzugießen. Was Hauptmann im »Friedensfest« am engsten mit Ibsen verbindet, ist die mystische Atmosphäre, die über dem Ganzen lastet, jene Stickluft, die wie ein Fatum ist, wie ein großes, fesselndes Gespenst, das seine Arme nach allen denen ausstreckt, die da gekommen sind, ein Familienfest zu feiern, die zerrissenen Bande der Sippe wieder zu flechten. Und sie sind ohnmächtig gegen die Natur, die sie zur Feindschaft bestimmt hat. Das »Friedensfest« endigt in einen schrillen Mißklang. Technisch steht dieses Werk schon viel höher als »Vor Sonnenaufgang«; obwohl es in Einzelnheiten noch deutlich Mißgriffe verrät, ist es im Gesamteindruck viel abgeschlossener und ausgereifter. Wieder ist es die vorzügliche Charakteristik der Personen und Situationen, die Bewunderung erweckt.
Das erste Stück Hauptmanns, das auf eine öffentliche Bühne kam, war das Drama »Einsame Menschen«. Schon hatte Hermann Bahr einen ähnlichen Stoff behandelt, und neben dem bereits erwähnten Einfluß Ibsens dürfte wohl der der »Neuen Menschen« des Wiener Journalisten der stärkste sein. Man hat gegen die »Einsamen Menschen« fast ebenso viel eingewendet, wie gegen Bahrs Schauspiel. Man nannte »die Menschen des Dramas kläglich«, »die Vorgänge lächerlich« und ließ dem Dichter nichts als den Ruhm, gelungene Details gegeben zu haben. Nur kurzsichtige und unduldsame Beurteiler konnten so sprechen oder, besser gesagt, sich so widersprechen, denn wer an diesem Drama die guten Details zugesteht, hat es auch schon als Ganzes beurteilt und anerkannt. Eben in dieser Differenziertheit des psychologischen Apparates liegt die Tragik des Ganzen. Mit Meisterschaft sind gerade diese Lächerlichkeiten des Vokeratschen Hauses gezeichnet, gegen die der verzweifelte Kampf Johannes Vokerats nichts auszurichten vermag. Es ist die Tragödie eines Todgeweihten, eines in der Pestilenz der Familienatmosphäre Erstickenden. Wohl kann man behaupten, daß Hauptmann hier eine der menschlichsten Erscheinungen der Moderne gezeichnet hat, indem er diesen typischen Charakter in das Licht der Individualität rückte.
Waren die »Einsamen Menschen« eine seltsame Filigranarbeit, deren meisterhafte Art nur den Kunstkennern und Eingeweihten Genuß sein konnte, so bedeuteten die »Weber« den großen Geist als solchen, der auf alle Schichten des Volkes, Gebildete und Ungebildete, Kenner und Laien, mit der gleichen Macht wirken mußte. Hier war das Volksstück großen Stils, die soziale Tragödie geschaffen, nach der die Besten in Deutschland seit Jahrzehnten vergebens ausspähten, in einer Abgeschlossenheit, die alle Vorläufer dieser Gattung weit hinter sich ließ. Aus Mitteilungen seines Vaters und einem Geschichtswerk über den schlesischen Weberaufstand im Jahre 1844 hat Hauptmann die Anregung empfangen. Einige für das Werk an sich unbedeutende Tatsachen hat er sogar direkt für die äußere Handlung verwertet. Aus dem langwierigen, verzweifelten Kampfe des unglücklichen Webervolkes faßte er die letzten Phasen heraus; dieses letzte Ringen ließ er in dem mächtigen Akkord ausklingen, als den sich das ganze Stück darstellt. Der Erfolg des Stückes war ein fast ungeteilter; trotz des anfänglichen Theaterverbotes ging es verhältnismäßig rasch über alle Bühnen Deutschlands und Österreichs, begleitet von stürmischem Beifall. Man hörte auf, über Einzelnheiten zu feilschen, über technische Zügellosigkeit sich zu entrüsten: hier war Stil, das fühlten auch die Nörgler und Philister! Dieser wilde Aufschrei war zu markerschütternd, zu überzeugend, zu menschlich, um überhört werden zu können. Noch im selben Jahre, 1892, gelangte »Kollege Crampton« auf die Bretter. Er bedeutete eine kleine Ruhepause des stürmenden Genius. Eine literarische Harmlosigkeit mit persönlicher Note ist die Komödie von dem verbummelten Professor. Mag das Kolorit und manches in der Technik auch hier den großen Meister verraten, so vermissen wir doch die Abgeschlossenheit und Rundung der größten Werke des Dichters.
Im Gegensätze dazu erhebt er sich mit »Hanneles Himmelfahrt« 1893 wieder zu jener Größe und innern Vollendung, die er in den »Einsamen Menschen« und den »Webern« bewiesen hatte. Diese Traumdichtung, über deren literarische Bewertung wir bereits eingangs gesprochen haben, hat Hauptmann an Sattheit der Stimmung und Reife der Form später nie mehr übertroffen. Man muß das Stück mit den älteren Traumdichtungen vergleichen, um zu erkennen, einen wie großen Fortschritt in der Psychologie es bedeutet. Wir erinnern uns dabei an jenes Verdienst des Naturalismus, das er sich dadurch erwarb, daß er Erkenntnis an die Stelle von willkürlicher Erfindung setzte. Alle früheren Traumdichter hatten das Wesen des Traumes im allgemeinen mißverstanden und es verabsäumt, die Symptome und Bedingungen der Traumbildung zu beobachten. Virtuosität im besten Sinne liegt in der Hauptmannschen Darstellung der Halluzinationen des kleinen Hannele, Virtuosität in deren Verweben mystisch-allegorischer Stimmungen mit dem großen Realismus der zugrunde liegenden Tatsachen, Virtuosität endlich in der Art der Verknüpfung der Welt der Wirklichkeit mit der des Unterbewußtseins. – Wie tief hatte der Dichter in diese Kinderseele hinabgesehen, wie wunderbar hat er ihren Reichtum ausgeschöpft, ihren Schmerz und ihre Herrlichkeit. Noch einmal wagt sich der Dichter an einen Lustspielstoff im »Biberpelz«. Grundlegend für das Stück ist Kleists Drama »Der zerbrochene Krug«. Weniger gelungen in der Exposition, gewinnt es im späteren Verlaufe der Handlung und fesselt in den Schlußszenen. In der Charakteristik dagegen hält es mit dem Besten Schritt, das Hauptmann nach dieser Richtung hin geleistet hat; der überkluge Amtsvorsteher, die Mutter Wolffen haben unserer Bühne einige der dankbarsten Aufgaben gestellt.
1895 folgt das große historische Drama Hauptmanns, der »Florian Geyer«, sein Lieblingswerk, das er uns in jüngster Zeit in einer neuen Bühnenbearbeitung sozusagen zum zweiten Male geschenkt hat. Im Stoffe und Milieu verwandt mit Goethes »Götz«, bringt das Stück in der Behandlung abermals neue Lichter. Die Begriffe »modern« und »historisch« werden hier einem Zusammenklang entgegengeführt. Das bis dahin so stark vernachlässigte historische Genre wieder zu beleben war diesmal der Wunsch des Dichters. Wie viel ihm nach dieser Seite hin gelungen ist, läßt sich erst nach Bewertung aller Einzelnheiten dieser großen Arbeit feststellen, doch ist man geneigt zu glauben, daß Hauptmann zwar ein Dokument seines Könnens und seiner Vielseitigkeit als Dramatiker, nicht aber ein bühnenwirksames historisches Drama gegeben hat. Die Längen des Stückes, denen es an Geist und Formschönheiten nicht gebricht, lassen den Genuß trotzalledem geteilt erscheinen. Es ist ein »Zuviel«, das diesem Drama geschadet hat.
Ganz in den Banden des Symbolismus sehen wir den Dichter in dem Märchendrama »Die versunkene Glocke«, das neben den »Webern« seinen stärksten Erfolg bedeutet und ihn zu einer Weltberühmtheit gemacht hat. Von allen Stücken Hauptmanns ist gerade dieses in der Komposition sowohl wie im Gedanken ganz unklare Versdrama am meisten überschätzt worden. Die Technik des Verses, die uns bereits in den Schlußszenen des »Hannele« Bewunderung abgerungen hatte, finden wir zu einem reinen, eigenartig geprägten Stil der gebundenen Rede ausgeprägt. Der Dialog ist mit allen Feinheiten behandelt, das Kolorit von einer satten Pracht, die die Gesamtwirkung nicht unwesentlich gefördert hat.
Eine wirklich bedeutende dramatische Leistung bedeutet erst wieder »Fuhrmann Henschel« 1898, der uns den Dichter abermals ganz in den Fußstapfen des Naturalismus zeigt. Was dem Stück seinen eigentlichen Wert gibt, ist der Fortschritt in der Technik. Die Handlung hat Entwicklung, in der Charakteristik ist Rundung und Konsequenz, wie sie schärfer in keinem der früheren Dramen Hauptmanns zu finden war.
Mit »Fuhrmann Henschel« hat Hauptmann den Höhepunkt seines Schaffens erreicht; was von da ab folgt, bedeutet keine höhere Stufe der Entwicklung, so interessant es auch hinsichtlich der Persönlichkeit, die darin zum Ausdruck kommt, und bezüglich des Gesamtbildes seiner Produktion sein mag. 1900 erscheint »Schluck und Jau«, bei aller Originalität in der Charakteristik ein wenig gelungenes Wert, zerrissen und unklar im Aufbau. Meisterhaft ist nur der zweite Akt mit jener rein psychologischen Szene, die das Erwachen des Lumpenkönigs vorführt; beachtenswert sind Sprach- und Verstechnik, die einen neuen Fortschritt der äußeren Form bedeuten.
In schroffem Gegensatz gewissermaßen zu dieser im Ton shakespearisierenden, ihrem Wesen nach romantischen Komödie steht das Künstlerdrama »Michael Kramer«, in dem der Symbolismus noch einmal, wenn auch nur episodisch zur Geltung kommt. Bei aller Sympathie, die die Anhänger des Dichters gerade diesem Werke entgegenbrachten, konnte es sich als einwandfreies Kunstwerk doch nirgends behaupten, und die Einwände der Theaterkritik waren diesmal wie nie gerechtfertigt.
Der »Rote Hahn« ist Hauptmanns schwächstes Werk. Einzelne gelungene Szenen konnten es nicht vor einem Mißerfolg bewahren.
In dem Versdrama »Der arme Heinrich« greift Hauptmann noch einmal zur gebundenen Rede, um einem spezifisch romantischen Stoff gerecht zu werden. Es gelingen ihm tatsächlich große Formschönheiten und eine gute Charakteristik der beiden Hauptgestalten, des Ritters Heinrich und der kleinen Otegaba. Auf Rechnung dieser formellen Vorzüge ist auch der Achtungserfolg zu setzen, den das Stück auf einigen deutschen Bühnen hatte, insbesondere im Wiener Burgtheater mit Kainz in der Hauptrolle.
In den Szenen »Elga« gibt uns Hauptmann ein früheres Werk, ein Fragment, das er für die Bühne zurecht geformt hat. Das Traummotiv ist nicht mit jener psychologischen Wahrheit behandelt wie im »Hannele«. Auch hier sind Formschönheiten das Gewinnende.
Es seien zum Schlusse noch die Novelle »Der Apostel« aus dem Jahre 1890 und die 1904 in der »Neuen Deutschen Rundschau« zum Abdruck gelangten Fragmente des »Hirtenliedes« erwähnt.
V. H.