Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

55.
»Recht so, Warren!«

Mit schußbereiter Waffe sprangen die sieben Polizeibeamten aus dem Automobil, als es endlich die Murdocksche Villa erreicht hatte. Zuerst eilten sie zu dem Wohnzimmer, in dem noch immer das Licht brannte. Dann schickte der Polizeichef drei seiner Leute zu dem Bootssteg. Aber das einzige, was sie sahen, waren die fächerförmigen Schaumstreifen, die sich weit hinter dem Motorboot herzogen, und die vor Anker liegende »Clothos«, deren Mannschaft an Deck geströmt war. Weder sie noch der Kapitän ahnten, was sich begeben hatte. Sie vermochten die Signale von dem Motorboot so wenig zu deuten, wie Warren das Hupensignal des Polizeiautos richtig verstanden hatte.

Als die Polizeibeamten vom Steg zurückkamen und Bericht erstattet hatten, wurden sie mit der Durchsuchung der Garage und der Nebengebäude beauftragt. Die drei höheren Beamten und der Chauffeur des Polizeichefs standen schweigend in dem hellen Raum. Murdocks fahles Antlitz, die leeren Kognakflaschen und die steifen Hände, die den Zettel mit der chemischen Formel fest umkrampft hielten, verrieten nur allzu beredt, was sich ereignet hatte.

Während sich der Polizeichef an den Telephonapparat begab, bückte sich Inspektor Montrose zu dem Toten nieder und nahm das Blatt Papier an sich.

»Polizeizentrale New York, bitte!« sagte der Polizeichef. »Hier der Chef der Polizei! Ich spreche von dem Landhaus James Murdocks aus. Long Island Nord. Instruieren Sie sofort alle Polizeiboote auf dem Sund oder auf dem East River und geben Sie Order, das Motorboot zu fassen, das soeben in Richtung auf Hellgate-Bridge gesichtet worden ist. Außerdem soll die Jacht ›Clothos‹, die hier unweit vor Anker liegt, ergriffen und die gesamte Mannschaft, oder wer sonst an Bord ist, raschmöglichst verhaftet werden.«

»Wird sofort erledigt«, gab der Mann am Telephon in der Polizeizentrale dienstbeflissen zur Antwort. »Weitere Befehle?«

»Ich werde in meinem Bureau sein, so rasch ich irgend kann. Inspektor Montrose und Inspektor Raynor sind hier draußen mit mir. Telephonieren Sie an Kommissar Roxey, daß ich ihn in der Zentrale erwarte.«

Er hängt den Hörer wieder an und wandte sich an Inspektor Montrose, der ihm den Zettel mit der Formel überreichte, mit deren Hilfe James Murdock, der jetzt ins Jenseits eingegangen war, die Wachmannschaft des Goldtransportes hatte betäuben wollen.

»Das übersteigt wirklich alle Grenzen«, meinte Montrose.

»Wir haben ihm seine Grenzen gesteckt«, erwiderte der Polizeichef ruhig und ließ den Zettel in seine Tasche gleiten. Und abermals sah er dem Haupt der Geier der Nacht ins totenstarre Antlitz.

Von der Treppe her hörte man das Schlürfen von Schritten. Cobden erschien, in Pantoffeln, einen Schlafrock über dem Nachtanzug, und ehe er's sich versah, richteten sich die drei Revolver von drei Polizeibeamten auf ihn.

»Hierher«, kommandierte der Polizeichef. »Wer sind Sie?«

»Mein Name ist Cobden. Ich bin Mr. Murdocks Diener und Hauswart. Ist meinem Herrn irgend etwas passiert?«

Inspektor Montrose warf einen prüfenden Blick auf den alten Mann. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Die eine Beute war ihm entgangen, aber er hatte eine andere dafür gepackt.

»Diener? Hauswart?« wiederholte er. »Eine hübsche Arbeit für einen Urkundenfälscher von Ihrer Qualität, was?« Und zu dem Polizeichef gewandt, fuhr er fort: »Darf ich Ihnen einen Mann vorstellen, hinter dem die Kriminalpolizei schon lange her ist. Eine wahre Berühmtheit!«

»Jawohl«, erklärte Cobden nicht ohne einen begreiflichen Stolz, während er seine Arme den Handschellen entgegenhielt, »ich kann wohl sagen, daß ich kein Unbekannter bin.«

Das war er wirklich nicht. Aber er war auf der anderen Seite auch kein Mordbube. Ganz ähnlich wie die »Haken-Mary« war der angebliche Hauswart Murdocks als ein »glänzender Arbeiter« in seinem Beruf und als ein ausgezeichneter Spezialist in seinem verbrecherischen Fach bekannt.

*

»Vorwärts!« kommandierte Roger Warren energisch, als Harry Gregory bei dem ersten schrillen Pfeifensignal eines nahenden Polizeibootes wieder an zu schlottern fing. Wie ein Leuchtkäfer schoß das Fahrzeug unter der Hellgate-Bridge hindurch. »Geh ihm an die Gurgel, Wachtmeister, sobald er das Steuer aus der Hand läßt, verstanden?«

Warren sprang auf das Verdeck der Kabine. Der kräftige Scheinwerfer der Polizeischaluppe traf ihn in voller Gestalt. Er hob seine rechte Hand. Die Legitimationsmarke der New-Yorker Kriminalpolizei blitzte hellauf.

»Warren. Von der Zentrale. Alles in Ordnung!« rief er, und als das andere Fahrzeug passierte, hielt er die Hände trichterförmig vor den Mund und schrie hinüber: »Sund aufwärts! Jacht ›Clothos‹! Alle Mann verhaften!«

»Wird gemacht, Warren!« rief der Kommandeur des Polizeibootes zurück. Die Hafenpolizeibeamten, die sich an Deck befanden, sahen erstaunt auf den jungen Detektiv und seine seltsame Schiffsfracht.

Audrey war nicht zu sehen, denn sie befand sich noch immer in der Kabine. Aber Harry Gregorys schreckensbleiches Gesicht, Wachtmeisters drohende Lefzen, der blutüberströmte Verbrecher zu Gregorys Füßen und die beiden zusammengefesselten Bravos am Bug waren trotz des Dämmerlichtes deutlich zu erkennen.

Wenn Alexander der Große, der einst weinte, weil er nur eine einzige Welt zum Erobern hatte, auch nur für eine einzige Woche Chef der New-Yorker Polizei gewesen wäre, hätte er gewiß noch viel mehr geweint, weil die Welt des Verbrechens in dieser Stadt nicht mit einem Eroberungszug zu bewältigen war.

Als der Mann, auf dessen Schultern dies herkulische Amt lag, in sein Bureau zurückkam, fand er Roger Warren bereits vor und erfuhr, daß er sämtliche Gefangene hatte in Gewahrsam bringen lassen. Sie befanden sich in ihren Zellen mit Ausnahme Audreys, die in dem Privatzimmer des Chefs wartete.

Warren grüßte, machte kurz seinen Rapport und machte vor allem seinen Bericht wegen Audrey Murdock.

»Wo ist denn Ihr Hund?« fragte ihn der Polizeichef.

»Ich habe ihn nach unten nehmen lassen, damit man ihm eine Dusche verabfolgt. Gregory hat mit Ruß oder irgend so einem schwarzen Zeug auf ihn geschossen. Ich hatte keine Zeit, mich näher darum zu kümmern. Aber was hat so ein Rußrevolver zu bedeuten?«

»Das wird Ihnen Inspektor Montrose erklären können. Sie wissen ja, er ist ein Mann von Humor. Er und Raynor bringen übrigens Cobden, Murdocks Chauffeur und die übrigen Hausangestellten mit. Ich glaube, die Geschichte ist jetzt im Lot. Bis auf das junge Mädchen. Ihr Vater ist tot.« Er machte eine Pause und wartete.

»Sie befindet sich vorläufig noch unter meiner Bewachung. Haben Sie irgendwelche Wünsche?«

»Liegt irgend etwas gegen sie vor?«

»Es liegt kein Beweis dafür vor, daß sie irgend etwas Unrechtes getan hat.«

»Sie sind dessen sicher, Warren?«

»Ganz sicher. Wenn es der Fall wäre, würde ich sie sofort damit belasten.«

»Ja, ja,« sagte sein Vorgesetzter gedehnt, als gerade die ersten Strahlen der Morgensonne das Zimmer in ein leichtes Rot, Hellgrün und Lila tauchten, »nach dem, was mir Inspektor Montrose versichert hat, als wir uns vorhin aufmachten, um Sie draußen aufzuladen, nach dem, was er mir gesagt hat, ist sie eine ganz notorische Diebin. Was haben Sie darauf zu erwidern?«

»Ist das Ihr Hupensignal gewesen, das ich gehört habe«, fragte Warren überrascht. »Und ich habe gedacht, es wäre ein neuer Schub Verbrecher gewesen. Sonst hätte ich mich nicht so eilig aus dem Staube gemacht. Ja, aber wenn Inspektor Montrose glaubt, daß sie eine Diebin ist, dann dürfte es wohl am besten sein, wenn er sie zur Rechenschaft zieht.«

»Es tut mir außerordentlich leid,« fuhr der Polizeichef fort, »Inspektor Montrose hat mich restlos davon überzeugt, und es besteht auch nicht der Schatten eines Zweifels, daß er recht hat mit seiner Anschuldigung. Sie wissen ja selbst, er ist ein klarer Kopf und einer von unseren allerbesten. Und er hat mir seine Behauptung durch seine persönlichen Erfahrungen bewiesen.«

Warren war über alle Begriffe traurig. Er fürchtete, daß Audrey schon unter den Worten dieser Anklage zusammenbrechen würde. Aber er stand, ohne mit der Wimper zu zucken, und sah seinen Vorgesetzten fest an. Erwidern konnte er nichts, weil er keine Worte fand.

»Ja, Inspektor Montrose hat mich sogar nicht nur davon überzeugt, daß sie eine Diebin ist, sondern daß auch Sie eines Diebstahls schuldig sind. Er hat mir bewiesen, und es besteht nach seiner Meinung kein Zweifel daran, daß Audrey Murdock Ihnen Ihr Herz gestohlen hat und Sie das Ihre! Ist sie schuldig? Und Sie desgleichen?«

Warren schluckte. Seine Augen leuchteten auf.

»Wir beide sind schuldig. Aber ich habe nichts versäumt.«

»Nein, das haben Sie nicht. Recht so, Warren. Und jetzt gehen Sie zu ihr und trösten Sie sie. Sagen Sie ihr, daß ihr Vater sicher ist vor allem. Sagen Sie ihr, daß alles Verbrechertum seiner Helfer und Helfershelfer nicht auf ihn zurückwirken wird, und daß die Kriminalpolizei dabei das ihrige tun wird. Bringen Sie ihr alles vorsichtig bei. Und dann kommen Sie mit ihr zu mir. Ich habe sie leider noch nicht kennengelernt.«

Als die beiden aus dem Privatzimmer herauskamen, erhob sich der Polizeichef und schüttelte ihnen die Hand.

In demselben Augenblick ließ sich hinter der Tür ein leises Winseln und Bellen vernehmen. Die Tür tat sich auf. Wachtmeister hatte sie sich von außen geöffnet. Pudelnaß sprang er ins Zimmer auf die drei los und schüttelte sich mit aller Macht. Der Polizeichef freute sich über diese unerwartete Morgendusche und lachte.

*

Gregory bekam vierzig Jahre Zuchthaus. Brownie Joe Goodman zehn Jahre. Die drei Mordbuben, die in der Wohnung Benny Smarts gefaßt worden waren, wurden in den Staaten, in denen sie ihre Hauptverbrechen begangen hatten, hingerichtet. Die ›Haken-Mary‹ Mallory erhielt ein christliches Begräbnis. Die Leichenfeier fand in einer kleinen Kapelle statt. Unter dem Trauergefolge befanden sich einige höhere Polizeibeamte, die ihr damit den Dank abtrugen dafür, daß sie mit ihrem Leben Roger Warren seinem Wirken erhalten hatte.

Benny Smart wurde für geistesgestört erklärt. Sein Wahnsinnslachen mag noch heute durch die Gänge des staatlichen Irrenhauses hallen, in dem er untergebracht wurde.

Der größte Teil von James Murdocks Vermögen verfiel dem Zugriff des Gerichtes, das aus seinem Besitz manches gestohlene Gut seinem rechtmäßigen Eigentümer wieder zuführte. Die Wertpapiere in Höhe von fünfzigtausend Dollar, die als Kaution für den ›Salpeter-Ede‹ hinterlegt worden waren, wurden der Bank zugeführt, die seinerzeit durch den ›Mappen-Gusset‹ und durch Yates beraubt worden war.

Grove und Yates bekamen jeder dreißig Jahre Zuchthaus. Die Bravos, die zur Ermordung Warrens auf Murdocks Landsitz gedungen waren, wurden mit je zwanzig Jahren Zuchthaus bestraft. Cobden mußte englischen Gerichten ausgeliefert werden und befindet sich ebenfalls hinter Schloß und Riegel. Salomon Chatterton wurde freigelassen, aber er war so gebrandmarkt, daß er New York verlassen und sich anderwärts nach neuen Jagdgründen umsehen mußte.

Die Wertpapiere, die Murdock bei seinem Jugendfreund Senator Sylvanus »untergebracht« hatte, wurden nach ordnungsgemäßer Prüfung der Geschäftsbücher und Briefe Murdocks selbstverständlich dem Gericht ausgeliefert. Senator Sylvanus restituierte die Beträge, die zum Ausgleich der Forderungen verschiedenster Opfer der Geier der Nacht Verwendung fanden, ohne daß die Angelegenheit zu einem Prozeß führte.

In gemeinsamer Arbeit mit den Behörden von New Jersey wurde auch ein kleinerer Betrag aus der »Chemischen Fabrik« herausgeholt, nachdem Cobden den »Schwindel« bestätigt und mit seiner Unterschrift als »Direktor Bosanquet«, die er wohl ein Dutzend Male vor seiner Deportation hatte in seiner Zelle wiederholen müssen, klar und eindeutig bewiesen hatte.

Der dritte Verbrecher, den Warren auf dem Motorboot schwer verwundet hatte, kam mit fünf Jahren Zuchthaus davon, deren größten Teil er indessen in einem Hospital zuzubringen hat.

Der Klub Versailles kam unter den Hammer. Der Ertrag dieses Verkaufs erhöhte beträchtlich die Summen für die Entschädigung der Opfer James Murdocks.

Gegen den Kapitän und die Mannschaft der »Clothos« ergab sich nichts. Sie wurden selbstverständlich entlassen, die Jacht verkauft und die Beträge ebenfalls zum Ausgleich verwandt. Dasselbe geschah mit der Villa in der Fifth Avenue, der Einrichtung und den einst gestohlenen Gemälden. Murdocks Chauffeur wurde für unschuldig befunden und sehr bald auf freien Fuß gesetzt.

Direktor Molando kam nicht in die Verlegenheit, die seiner Firma gestohlene und freundlichst wieder gelieferte Seide zu bezahlen.

Aber die ganze Regelung der verschiedenen Angelegenheiten nahm bei weitem mehr Monate in Anspruch, als es Roger Warren und die anderen Beamten der Kriminalpolizei Tage gekostet hatte, um die gefährliche und so lange unbehelligte Brut all dieser Geier der Nacht auszuräuchern.

*

Es stellte sich heraus, daß der Landsitz auf Long Island Audrey Murdock von ihrer früh verstorbenen Mutter vermacht worden war. Dieser Besitz wurde also von den Gerichten nicht angetastet.

Roger Warren erhielt eine sehr gute Belohnung für die Wiederbeschaffung der Winthropschen Juwelen. Nichts kennzeichnet ihn besser als die Tatsache, daß er diesen Betrag der Pensionskasse für Polizeibeamte überwies. Er sprach ferner die Bitte aus, daß die Tapferkeitsmedaille, die von der New-Yorker Kriminalpolizei alljährlich verliehen wird, einem Würdigeren zugewiesen werden möchte.

Nach der Zeit der Trauer um ihren Vater, dessen Verbrechertum seiner Tochter verborgen gehalten wurde, heiratete sie Roger Warren, der bald befördert wurde, aber noch immer als Detektiv im Dienst der Kriminalpolizei steht.

Ein strammer Junge streckt dem Vater seine kleinen Händchen entgegen, wenn er von seinen so gefahrvollen, dienstlichen Wegen nach Hause kommt. Wachtmeister hat sich die Patenschaft für den Kleinen nicht nehmen lassen. Die vier bilden eine glückliche Familie, unbekümmert um die Wechselfälle des Schicksals, die Warrens Beruf mit sich bringt.

Ein Etwas scheint ihn zu beschirmen. Vielleicht ist es die Liebe. Aber wer vermag es zu sagen?

Das einzige, was dem Verfasser dieser Geschichte bekannt ist, ist die Tatsache, daß Roger und Audrey einen Schatz gefunden haben, der wertvoller ist als alle Reichtümer in allen noch so wohl vergitterten und verschlossenen Geldschränken und Kassetten aller Banken im reichen New York.

Jeder Tag ihres Zusammenlebens gleicht dem Tag, von dem John Ruskin einmal gesagt hat: »Er ist wie ein lichtes Gewebe, gesponnen von Athenes göttlicher Hand. Er ist wie eine schimmernde Rüstung, geschmiedet von Vulkan. Er ist vom Golde, das gegraben ist aus dem roten Herzensfeuer der Sonne, das da aufglüht an den Gestaden Arkadiens. Die drei hohen Engel der Herzensgüte, des Schaffens und des rechten Sinnes sind in seinem Gefolge und harren am Tor des Hauses, sie unter ihren allgewaltigen Schwingen und mit ihren nimmer irrenden Blicken den schmalen Pfad zu geleiten, den noch keine Schwinge beschattet, und den noch keines Geiers Auge je erspäht.«

*


 << zurück