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54.
»Unverändert meine Gefangenen!«

Der eingeborene Instinkt, die Fähigkeit, Werte rasch und richtig zu erfassen, jenes Witterungsvermögen, das den feinsten und zartesten der menschlichen fünf Sinne ausmacht, gewährte Wachtmeister die Möglichkeit, sich während der nächsten dramatischen Augenblicke polizeilich genau so zu bewähren wie sein Herr. Mit Sprüngen, von denen einer je drei Schritten Warrens gleichkam, war er im Rücken der Mordgesellen, die mit gespanntesten Nerven lediglich auf ihr sich nahendes Opfer eingestellt waren.

Wachtmeister war klug. Er duckte sich tief auf den Boden und schoß dann mit der Wucht eines Sturmbocks auf den ihm am nächsten stehenden Verbrecher zu. Er bellte weder, noch knurrte er. Er schonte die Kraft seiner Lungen. Der Halunke stürzte, und die Waffe entfiel seiner Hand. Wachtmeister packte sie im Sprunge. In diesem Augenblick trat der zweite Bravo gerade einen Schritt zur Seite, um noch geschützter seinen Schuß auf Warren abfeuern zu können.

Wachtmeister hatte keine Zeit, einen Hochsprung zu riskieren. Er maß die Entfernung, die er zu nehmen hatte, und machte einen weiten Satz. Die Waffe in der Schnauze, fuhr er dem Verbrecher zwischen die Beine, als er gerade abdrückte.

Sein Schuß hatte ebensogut nach dem Manne im Mond gezielt sein können. Die Kugel flog in den Nachthimmel empor. Der Kerl fiel, Warren sprang hinzu, schlug ihm den Revolver aus der Hand und fesselte ihn mit seinem Genossen zusammen. All das geschah viel, viel rascher, als es sich erzählen läßt.

Während er die beiden Schußwaffen sicherte, trieb er die beiden Verbrecher vor sich her dem Bootssteg zu, von dem Gregory feige verschwunden war, als er einen Schatten sich vom Dunkel des Hauses hatte ablösen sehen.

Das Knallen der Pistolenschüsse hatte Gregory veranlaßt, dem Bravo am Steuer des Motorbootes sein Abfahrtskommando zu geben. Da er die Motore hatte wohlweislich vorher warmlaufen lassen, gab es keinen Aufenthalt. Gregory selbst machte in wahnsinniger Hast die Taue los.

All das kostete Zeit. Aber trotzdem erreichte Warren mit seinen beiden Gefangenen doch den Steg erst, als das Boot bereits in Fahrt war. Aber Wachtmeister war nicht so behindert gewesen wie sein Herr. Seine Wut auf Gregory, der ihm Augen und Fell mit dem schwarzen Zeug vollgeschmiert hatte, sein natürlicher Instinkt, daß dieser Mensch ein Übeltäter war, und das Bewußtsein, daß er gerade einen Mordversuch gegen seinen Herrn vereitelt hatte, vermehrten seine Geschwindigkeit und machten ihn zu einem wahrhaften Höllenhund.

Er war bereits an der Spitze des Bootsstegs, als Gregory seiner gewahr wurde. Das Boot bekam gerade Schwung. Gregory packte ein furchtbares Entsetzen. Er riß Murdocks Revolver aus der Tasche und feuerte dreimal auf den Geist jenes Untiers, das er längst getötet zu haben glaubte.

Gregorys Absichten waren ehrlich genug. Aber dank Inspektors Montroses klugem Einfall, die Waffe mit Platzpatronen zu laden, wären sie ihm mißlungen, auch wenn er sein Ziel getroffen hätte.

Der Bravo am Steuer hielt auf die »Clothos« zu, deren Mannschaft durch die Schüsse an Land aufgeweckt worden war.

Audrey stürzte aus der Kabine an Deck des Motorbootes, gerade als Warren auf Gregory anlegte. Sie stand in der gleichen Schußlinie mit dem Mann am Steuer, und da sich das Boot mit den kurzen Wellen hob und senkte, wagte Warren den Schuß nicht.

Abermals ergriff Wachtmeister die Initiative. Mit einem gewaltigen Satz sprang er in das Wasser, das hoch aufspritzte unter seinem Fall, und schwamm dem Boote nach, des Nachteils nicht achtend, in dem er sich befand.

In diesem Augenblick schob sich Gregorys Gestalt zwischen den Mann am Steuer und Audrey, die wie versteinert gegen die Kabinentür gelehnt stand. Ein Schuß aus Roger Warrens Revolver bellte durch die Nacht wie ein Echo auf Wachtmeisters wütendes Gekläff.

Der Kerl am Steuer war getroffen und stürzte seitwärts. Er versuchte, sich an dem Rad zu halten. Aber der einzige Erfolg war, daß das Boot durch diese plötzliche Drehung einen Bogen in der Richtung beschrieb, aus der es gerade gekommen war. Gregory zielte von neuem auf den unverwundbaren Hund. Aber Wachtmeister hatte keine Furcht vor Platzpatronen und kam näher und näher, ehe noch sein Gegner inne wurde, daß sich das Fahrzeug zu dem Steg zurückschwang, wo Warren mit drei Revolvern genügend Stoff hatte, die Rechnung mit ihm zu begleichen.

Sssss! Sssss!

»Ins Wasser!« herrschte Warren die beiden gefesselten und entwaffneten Verbrecher an, als das Motorboot in die Reichweite des Steges kam.

»Wenn ihr das Boot nicht packt, schieße ich euch im Wasser zusammen! Packt es!«

Sie taten, wie er es geheißen. Wachtmeister sprang vom Wasser aus dicht am Bug an Bord, während sein Herr mit einem geschickten Sprung die Stelle erreichte, wo Gregory stand.

»Die Waffe weg, Gregory!«

Gregory warf den Revolver fort. Wachtmeister sprang danach und brachte sie seinem Herrn.

»Steuern Sie!« kommandierte ihm der Detektiv, »und geben Sie dem Boot, das da drüben von der Jacht niedergelassen wird, das Signal, daß alles in Ordnung ist, oder ich sorge dafür, daß Sie sich mit dem ›Salpeter-Ede‹ und dem ›Masken-Micky‹ ein Stelldichein geben können!«

Gregory beeilte sich, den Befehlen so rasch wie nur irgend möglich nachzukommen.

Der heisere Ton einer Autohupe klang von der Murdockschen Villa herüber.

»Roger, ach Roger!« Audrey Murdocks Freudenschrei fand keine frohe Erwiderung von des geliebten Mannes Lippen.

»Geh in die Kabine. Bitte! Und bleibe dort!« gebot er streng. »Wenn noch einmal geschossen wird, lege dich flach auf den Boden. Vergiß nicht, du bist unverändert meine Gefangene, und ich bin für dich verantwortlich! Achtung auf diesen Mann hier, Wachtmeister!«

Wachtmeister wich und wankte nicht. Er zog nur aus der hinteren Hosentasche des am Boden liegenden Bravos, der das Steuer geführt hatte, einen Revolver und brachte ihn seinem Herrn.

»Auf Hellgate-Bridge zuhalten!« kommandierte Roger Warren dem schlotternden Gregory, »ober ich befördere Sie durch das Höllentor, dem sie ihren Namen verdankt. Mittstrom fahren! Es wird nicht gestoppt, wenn ich es nicht befehle!«

Das Hupensignal von dem Auto, in dem sich der Polizeichef, Inspektor Montrose, Inspektor Raynor und die anderen Polizeibeamten befanden, hatte Warren für ein mögliches Zeichen gehalten, daß die Geier der Nacht Verstärkung bekommen hatten.

Der schwere Wagen selbst war überdeckt durch die stattlichen Bäume, die das Murdocksche Landhaus flankierten. Wenn er die starken Scheinwerfer hätte sehen können, wäre er zweifellos sofort zum Ufer zurückgefahren. Aber ganz abgesehen von der Möglichkeit der Verstärkung, wußte er nicht, wie viele Kerle noch in dem Haus oder in seiner Nähe versteckt sein mochten, zumal ja ein Mann wie Cobden dort den Dienst versah. Also nahm Warren den Weg, der ihm mit seinen fünf Gefangenen – einschließlich Audreys – offenblieb und ließ das Motorboot auf New York zusteuern.

Der Long-Island-Sund empfängt unter den hochgespannten Bogen der Hellgate-Bridge den East River, der die Ostseite der Manhattan-Insel begrenzt und dem viele Meilen lang die East Street New Yorks parallelläuft.

Bei Nummer 13 der East Street mündet die Broome Street, die quer durch die Stadt nach Westen läuft und bei Nummer 403 wieder von der Straße gekreuzt wird, an der sich das mit einer goldenen Kuppel gekrönte Gebäude der New-Yorker Hauptpolizei befindet. Wenn Roger Warren also an irgendeinem der Piers der East Street landen ließ, hatte er seine Gefangenen nicht weit von dem Ziel, zu dem er sie auch auf dem Landwege hätte bringen müssen.

Außerdem wußte er, daß er dort nicht nur Privatwächter, sondern Schutzleute und Kriminalbeamte reichlich zu seiner Unterstützung vorfinden würde, denn gerade dieser Teil der Stadt war bei Tag und bei Nacht besonders streng bewacht.


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