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Die Gedankenbahn eines Verbrechers, so weit und ungeheuerlich ihre Kreise auch sein mögen, wird früher oder später doch von der Geraden rechtlich denkender und handelnder Menschen durchkreuzt.
Der Schlußbogen, zu dem sich Murdocks Genie mit äußerster Vorsicht und Präzision aufzuschwingen im Sinne hatte, um sein Verbrechertum mit einem letzten Meisterstreich zu krönen, sollte auf einem Diebstahl basieren, dessen Monumentalität des Hirnes eines Napoleon würdig sein sollte. Murdocks Besuch in Washington war lediglich einer seiner vorbereitenden Akte.
Seine Abwesenheit hatte eine Reihe Komplikationen mit sich gebracht, die sich aber bisher noch zum Teil seiner Kenntnis entzogen. Er war also noch immer außerordentlich zuversichtlich und bei glänzender Stimmung. Die Schadenfreude, mit der er Harry Gregory beim Verschwinden des Detektivs Dean zugelächelt hatte, war der beste Beweis für seine Auffassung, daß er wie in all den fünfzehn Jahren seiner Tätigkeit auch diesmal die Polizei übertölpelt hätte.
Tatsächlich hatte ja auch bis zu dem Tode des »Mappen-Gusset« keine Tatsache verraten, daß Murdock ein Verbrecher war. Seine übermenschliche Geschicklichkeit, die Polizei auf falsche Spuren zu lenken, indem er seine »Figuren« mitleidlos dem Zuchthaus oder dem Henker anheimfallen ließ, wenn sie gefaßt wurden, seine Gerissenheit, mit der er sich stets ein unumstößliches Alibi zu sichern gewußt hatte, waren schuld, wenn er so lange dem Zugriff des Gesetzes entronnen war. Viele, viele seiner Kreaturen waren festgenommen und bestraft worden, aber Murdock selbst war unversehrt geblieben.
Aber während James Murdock plante, zogen die Beamten der Kriminalpolizei ihre Schlüsse. Roger Warren hatte seine Schlüsse gezogen und seine Stützpunkte gefunden. Montrose hatte den Schluß gezogen, daß er mit Hilfe seiner Kenntnis der Wohnung der echten »Haken-Mary« gegen Murdock weiteres Material erbringen könnte. Und Raynors Schluß war es, daß er auf dem Wege über die Firma, bei der nach Chattertons Aussage der »Salpeter-Ede« angestellt gewesen war, den Mord aufzuklären imstande sein würde.
So fein die Fäden auch zunächst zu sein schienen, sie sollten stärker werden als Kabel von Stahl, wenn auch auf Wegen, die der erfahrenste Veteran der Kriminalpolizei nicht hätte voraussehen können. Was der Polizei an jenem Tage noch an Beweismaterial fehlte, lieferte James Murdock selbst, obwohl er mit nichts anderem beschäftigt war als mit der Abrundung seines gewaltigen, neuen Planes.
»Ich denke,« erklärte Murdock, »wir gehen jetzt erst einmal zum Bureau und dann zu Tisch. Ich werde mir dann das Auto kommen lassen. Ich habe draußen zu tun.«
»In Long Island?« fragte Gregory.
»Nein, woanders«, erwiderte Murdock geheimnisvoll. »Nach Long Island fahren wir hinterher. Ich muß wissen, was mir der Polizeichef durch Warren zu bestellen hat. Ein netter Kerl, der Warren, was?« Er lachte.
»Ich muß mit dir noch über ihn reden«, sagte Gregory. »Aber ich warte damit, bis wir im Auto sitzen.«
Murdock telephonierte in seine Villa in der Fifth Avenue und beorderte den Wagen zu seiner Seidenfirma. Darauf fuhren die beiden mit einer Droschke zu dem Bureau, in dem vor gar nicht langer Zeit Inspektor Montrose gewesen war.
»Guten Tag, Mary«, rief Murdock. »Wer hat Ihnen denn zu der kostenlosen Reklame in der Zeitung verholfen? Das möchte ich gerne wissen.«
»Ich habe keine Ahnung. Ich war gestern abend die ganze Zeit zu Hause. Ich bin fast auf den Rücken gefallen, als ich heute früh die Zeitung gesehen habe. Ich denke, der Polizeimensch, der neulich mit Ihnen hier gewesen ist, hat Quatsch gemacht. Detektiv Warren muß irgendeine Person irgendwo in der Stadt festgemacht haben. Ich bin ja schon seit Jahren und Jahren nirgends mehr hingekommen. Mein Leben ist tadellos.« Murdock amüsierte sich. »Das stimmt, Mary, das stimmt. Und wenn jemand das Gegenteil behaupten sollte, dann leiste ich einen Eid auf ein bombensicheres Alibi für mindestens die letzten fünf Jahre. Und Mr. Gregory ebenfalls. Ich möchte den Polizeibeamten sehen, der dagegen was machen kann.«
Gregory stöberte in seinem Schreibtisch herum.
»Ich hatte doch einen Revolver hier drin, mit einem Schußdämpfer,« sagte er ärgerlich, »wo ist denn das Ding hin?«
Die »Haken-Mary« geriet durchaus nicht außer Fassung, obwohl sie sonst schon ein böser Blick von Gregory in grenzenlose Angst versetzte. Gregory hatte sie nämlich in der Hand, weil sie während ihrer einstigen Tätigkeit einmal auch seine Tasche geleert hatte.
»Selbstverständlich war Ihr Revolver hier drin«, sagte sie in aller Seelenruhe. »Aber ich weiß, daß Mr. Murdock Sie gebeten hat, sich um einen Waffenschein zu bemühen, ohne daß ich wüßte, daß Sie mir jemals einen solchen Antrag diktiert hätten. Wie der Kriminalbeamte neulich hier 'rumspioniert hat, habe ich Angst bekommen, daß er vielleicht etwas gegen Sie hier 'rausfischen würde. Infolgedessen habe ich lieber den Revolver mit zu mir nach Hause genommen. Ich lasse einen Polizeimenschen nicht gern die Sachen von den Leuten mitnehmen, die mein Gehalt bezahlen. Wenn Sie die Waffe haben wollen, gehe ich gern und hole sie. Aber wenn ich Sie wäre, würde ich nicht solch Zeug hier verpacken, solange die Polizei bei mir im Bureau herumschnüffelt. Ich würde mir vorher wenigstens einen Waffenschein besorgen.«
»Recht hat sie«, sagte Murdock. »Du mußt in Kleinigkeiten vorsichtiger werden, Harry. Na, ich habe ja einen Revolver in meinem Pult. Wenigstens war er da, als ich abgereist bin.«
Er schloß seinen Schreibtisch auf. Dieselbe Waffe, die Inspektor Montrose ihrer tödlichen Kraft beraubt hatte, wie ein Inder, der einer Kobra die Giftzähne ausbricht, lag an ihrem alten Platze. Murdock durchstöberte ein weiteres Schubfach, in dem er schließlich seinen Waffenschein fand. Er sah seinen Kompagnon an. »Warum willst du eigentlich einen Revolver mit dir 'rumschleppen. Ich tu's doch auch nicht. Ich lasse meinen hier.«
»Das werde ich dir nachher erklären«, sagte Gregory mit einem Stirnrunzeln.
»Na schön, wenn du meinst, nehme ich das Ding mit. Aber den Waffenschein dazu.« Gesagt, getan. Murdock ließ die Waffe in seinem Rock verschwinden und steckte den Waffenschein sorgfältig in seine Brieftasche.
»Der Scheck von Molando ist also noch nicht eingegangen, wenn ich Sie richtig verstanden habe?« wandte er sich an Mrs. Mallory.
»Die ganze Post liegt auf Ihrem Schreibtisch. Ich habe sie nicht aufgemacht. Aber ich habe keinen Brief von Molando dabei gesehen.«
Murdock diktierte ihr einen Brief. Knapp und geschäftlich. Er berief sich auf die Tatsache der Seidenlieferung und bat um umgehende Begleichung, da er sonst weitere Schritte unternehmen müsse. Gregory leistete die Unterschrift.
»Ich werde mal mit Chatterton darüber sprechen,« sagte Murdock, »er soll sich um die Geschichte kümmern, wenn die Leute nicht bald zahlen.«
»Ich muß mit dir auch über Chatterton reden«, sagte Gregory. »Im Auto. Es wartet schon.«
»Also wollen wir Mittag essen gehen.«
»Ein Herr hat antelephoniert, gerade bevor Sie kamen«, sagte Mrs. Mallory, die an ihrer Schreibmaschine saß. »Ein Herr Le Mar. Er sagte, er müßte Sie dringend sprechen. Es wäre sehr wichtig.«
»Hat er seine Nummer gesagt?« fragte Murdock.
»Nein.«
»Hm. Nicht daß ich wüßte. Wenn er mich wirklich so dringend sprechen muß, sagen Sie ihm, er möchte mich bei Bosanquet, Barnum & Co., anläuten. Chemische Fabrik, Hoboken. Ich fahre jetzt gerade 'rüber, um Mr. Bosanquet zu sprechen, falls er da ist. Er war nämlich lange in Europa.«
Selbst hier sorgte Murdock klug für ein klares Alibi.
Die »Haken-Mary« notierte sich Namen und Telephonnummer. »Ich werde es ausrichten, wenn er wieder anruft.«
Gregory hatte keine blasse Ahnung davon, daß dieser Le Mar der »Masken-Micky« war. Er wußte auch nicht, daß er zu der Bande in der Alten Mühle gehört hatte, und noch weniger, daß Murdock sein Teilhaber war. Murdock pflegte eben nicht alle Eisen in ein Feuer zu tun. Die »Haken-Mary« kannte den »Masken-Micky« weit besser als ihr Chef, aber sie behielt diese Tatsache, wie so viele andere aus ihrer düsteren Karriere, wohlweislich für sich.
Die beiden gingen also zum Esten. Dann ging es mit dem Auto bis zur Fähre an der 42. Straße und auf New-Jerseyer Boden nach Hoboken. Auf der Fahrt zeigte Gregory Murdock die Zeitung mit dem Bericht von »Salpeter-Edes« Ermordung. Er erzählte ihm bei dieser Gelegenheit, wie er selber mit Brownie Joe verhaftet und dank Murdocks glänzend vorbereitetem Alibi wieder freigelassen worden war.
Murdock lachte breit. »Du siehst mal wieder, daß es sich lohnt, vorsichtig zu sein. Übrigens, ich habe dir doch vor meiner Abreise schon angedeutet, daß ich mit diesem ganzen Kleinkram aufräumen will.«
»Laß mich erst ausreden«, entgegnete Gregory finster. Er schilderte, wie es ihm mißlungen war, die Winthropschen Juwelen direkt aus der Hand des »Salpeter-Ede« zu bekommen. »Dieser Snyder hat mir eigentlich das Leben gerettet,« fuhr er fort, »denn eine Sekunde später, und dein verehrter Freund Roger Warren hätte mich gefaßt gehabt, und zwar gründlich. Aber ich sah ihn zum Glück, als ich mir eine Zigarette anzündete. Den Rücken kenne ich unter Tausenden heraus! Aber was hat er gewollt, frage ich dich. Er will uns eins auswischen, das habe ich dir neulich bereits erklärt. Also, ich sah ihn im Auto den Klub Versailles verlassen mit Audrey. Sie sollte mit Mrs. Winthrop zusammen bleiben. Ich habe Audrey zwar nicht gesehen, aber ich bin sicher, daß sie mit in dem Auto war. Und nun pass' auf: wie ich heute morgen aus der Polizei 'rauskomme, treffe ich Mrs. Winthrop, die wegen der Juwelen gerufen worden war. Ich konnte nichts machen, ich mußte noch mal mit ihr 'rein zu Kommissar Roxey. Und was erzählt sie mir? Sie hätte gerade eben Roger Warren mit Audrey vor der Tür getroffen!«
Murdock lächelte nur. »Du bist doch ein Gimpel, Harry. Ich hatte Warren extra gebeten, sich um Audrey zu kümmern, solange ich fort wäre. Er hat sie natürlich nicht aus den Augen gelassen, damit ihr nichts passierte. Hat mir nicht vorhin der Polizeichef bestätigt, daß Warren mit Audrey in der Hauptpolizei gewesen ist?«
Gregory schüttelte mit dem Kopf. »Ich möchte meinen Revolver nehmen und dem Kerl eine Kugel durch die Rippen jagen. Er redet sich ein, daß er dir das Leben gerettet hat. Na, das weißt du ja besser. Du bist ihm nichts schuldig dafür, daß du dir selber das Leben gerettet hast. Gusset wird's schon nicht verraten. Ich mache den Kerl kalt, ehe er uns allen in die Suppe spuckt. Oder vergißt du, daß für eine Viertelmillion Diamanten und Perlen futsch sind? Vergißt du, daß zweie hin sind, daß ›Salpeter-Ede‹ hops gegangen ist, und daß Brownie Joe mit dem ganzen Kram gepackt ist und festsitzt? Ich wette, daß dieser Warren hinter der ganzen Geschichte steckt. Darum war er im Klub. Ich habe ihn mit meinen eigenen Augen gesehen. Er war im Gesellschaftsanzug, als ich ihn traf, und er hatte dieselben Sachen an, als ich ihn nachher in seinem Versteck entdeckte.«
»Laß doch die ganze Sache fallen,« sagte Murdock ungeduldig, »du hast recht, die Sache hat nicht gestimmt, und ich bin Warren nichts schuldig. Aber er war uns so weit doch ganz nützlich. Wenn er gefährlich wird, werde ich die Sache schon besorgen lassen. Aber eins merke dir, Harry: Mein Hauptprinzip ist, niemals eine Gewalttat selber zu begehen. Diesem Prinzip verdanke ich den größten Teil meines Erfolges. Aber jetzt nimm dich mal zusammen, mein Junge. Ich will eine Sache mit dir bereden, die es wert ist. Wir werden zweihundert Millionen in Barrengold fassen, verstanden? Wir schmeißen die Geschichte, und kein Aas wird jemals 'rauskriegen, wie wir das Ding gedreht haben. Und dann machen wir eine nette Seereise auf der ›Clothos‹. Es wird sowieso bald Winter. Wir fahren an der Küste nach Süden, vielleicht bis nach Rio de Janeiro und Buenos Aires. Ich glaube, Audrey hat für ihre Gesundheit auch eine Seereise nötig. Und du kommst mit, Harry. Na, wie gefällt dir mein Plan?«
»Prachtvoll«, sagte Gregory strahlend. Das Auto hielt gerade vor einem großen, langgestreckten Gebäude, dessen Tor das Schild trug: »Bosanquet, Barnum & Co., Chemische Fabrik.«
Murdock stieg mit Gregory aus.
Gleichzeitig fuhr Detektiv Hartley, aus dem Stab Inspektor Raynors, in der Straßenbahn vorüber. Er wollte gerade absteigen, als er – er traute seinen Augen kaum – einen der beiden Männer, die er am gleichen Morgen in Salomon Chattertons Wohnung verhaftet hatte, aus dem Auto steigen sah. Den etwas größeren und stattlicheren Herrn, dem er folgte, kannte Hartley nicht.
Hartley entschloß sich, nicht an dem Haupttor der Fabrik auszusteigen. Er merkte sich nur die Nummer des Autos und fuhr bis zur nächsten Querstraße weiter. Im Schutz des hohen Bretterzaunes, der das Fabrikgrundstück einhegte, suchte er einen Eingang in die Fabrik von der Rückseite her.
Hartley galt für einen recht tüchtigen Detektiv. Inspektor Raynor verließ sich vollkommen darauf, daß er ihm die nötigen Informationen wegen des »Salpeter-Ede« bringen würde.
»Was hat dieser Gregory hier zu suchen?« fragte sich Hartley.