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Nachdem Gregory die Murdocksche Villa verlassen hatte, fuhr er trotz der späten Nachtstunde mit seinem Auto auf nächstem Wege zu einem der Kais an der Ostseite New Yorks, wo das Lagerhaus von Murdock & Co. stand. Mit fortschreitender Nacht läßt der Geschäftsverkehr längs des Flusses nach, wenn er auch zu keiner Stunde ganz erstirbt. New York will ernährt und gekleidet sein, es verlangt sein Baumaterial und seine Brennstoffe, und so heischt jede Runde der Zeiger auf der Uhr ihr eigenes Rennen im nimmermüden Dienst für die Menschheit, den man mit dem Namen »Geschäft« zu bezeichnen pflegt.
Fauchende Schlepper mit ihrer Kette von Frachtkähnen und Lastflößen füllen in fast ununterbrochener Linie die Flüsse zu beiden Seiten der Manhattan-Inseln. Ganze Reihen von Dampfern werden oft in einer Nacht geladen, und die Arbeit drängt sich mitunter doppelt in der letzten Stunde vor der Ebbe, damit sie ihre Fahrt zu fremden Häfen auch ja noch zur rechten Zeit antreten können. Denn die Schiffahrtstraße durch den Sund zum offenen Meer hat in ihren Windungen manch heikle Untiefe für Schiffe mit größerem Tiefgang.
Gregorys Geschäftsweg indessen hatte nichts zu schaffen mit alledem. Er hatte nicht viel zu tun. Er kam einzig zu dem Zwecke, einem seiner Lagerverwalter entsprechende Anweisungen zu erteilen für die Verstauung einer Seidenlieferung, die planmäßig geliefert werden sollte. Darauf entfernte er sich wieder und begab sich zu Bett.
Auf der westlichen Seite New Yorks, wo der Hudson dem Meere zuströmt, ist der nächtliche Schiffahrtsverkehr fast noch stärker und ruheloser als im Osten der Stadt.
Zahlreiche Eisenbahnlinien haben ihre Personen- und Güterbahnhöfe auf dem jenseitigen Ufer des Flusses, und wenn auch die meisten Reisenden durch Tunnel unter dem Fluß hindurch ihren Weg nach New York finden, die Güter aus nah und fern werden von Frachtbooten und Fähren quer über die breiten Wasser des unteren Hudson in die Stadt befördert.
Um 3 Uhr morgens stand auf dieser Seite New Yorks am Hudson eine männliche Gestalt, die eifrig einen Zettel studierte. Darauf stand:
3,00 nachts Los.
3,10 nachts Zeit.
3,30 nachts Viel Glück.
4,20 nachts Unterwegs.
4,40 nachts In Ordnung.
5,00 nachts Erledigt.
Aus diesem chiffrierten Zettel las der Mann, der ihn in seiner Hand hielt, folgendes heraus:
3,00 nachts Boot verläßt die New-Yorkerseite des Hudson.
3,10 nachts Frachter verläßt Hoboken planmäßig.
3,30 nachts Seide von Frachter auf Boot bringen.
4,20 nachts Seide von Boot auf Lastauto am Kai.
4,40 nachts Lastauto am Lager.
5,00 nachts Seide umgepackt und mit entsprechenden Frachtzetteln versehen.
Auf dem Fetzen Papier stand auch nicht ein einziges Wort, das der Polizei hätte Anlaß zum Eingreifen geben können, falls er in ihre Hände gefallen wäre. Aber auch seine Entzifferung, wie sie hier wiedergegeben ist – und man kann sich darauf verlassen, daß sie richtig wiedergegeben ist –, hätte auch nur das geringste Verdachtsmoment dargeboten.
Aber wie dem auch sei, in derselben Nacht, in der die Leiche des Einbrechers von der Murdockschen Villa zum Hauptpolizeiamt transportiert wurde, und fast unmittelbar nachdem sich Inspektor Montrose dazu entschlossen hatte, mit dem Polizeichef eine Unterhaltung zu pflegen, ereignete sich folgendes:
Um 3 Uhr nachts lag an einem Kai auf der New-Yorker Seite des unteren Hudson ein Frachtboot unter Dampf. Mehrere Leute begaben sich an Bord, kurz bevor es pünktlich mit dem Glockenschlag drei seine Fahrt über den Fluß in der Richtung auf Hoboken antrat, und zwar nach der Stelle zu, wo sich einer der großen transkontinentalen Güterbahnhöfe befindet.
Auf der anderen Seite des Flusses verließ um die gleiche Stunde und in der gleichen Minute ein Schlepper mit seinen Frachten den Bahnkai. Im letzten Augenblick sprang ein Mann, von niemandem beobachtet, auf den Schlepper und begab sich, ebenso unbeobachtet, in das Steuerhaus, wo der Kapitän des Schleppers am Ruder stand und mit gespanntester Aufmerksamkeit auf den Fluß hinauslugte. Er hatte auf den Schiffsverkehr zu achten, seine Passagesignale zu geben und dachte an nichts Böses, bis er plötzlich den kalten Lauf eines Revolvers hinten am Hals fühlte.
»Rühr dich nicht oder dein Schädel geht in Stücke!« erklärte ihm eine knarrende Stimme. »Keine Faxen! Hier wird jetzt gefahren, wie ich will! Kapiert?«
»J–j–ja!«
»Vorwärts!«
Der bedrohte Kapitän steuerte, wie man ihm befahl.
Genau wie es der Chifferzettel vorgesehen, pünktlich um 3 Uhr 10 Min., befahl der Mann mit dem Revolver, den Schlepper mitten im Fluß zu stoppen. Das Frachtboot von der anderen Seite wartete bereits. Mit äußerster Schnelligkeit war es an der Seite des Schleppers und festgemacht, und schon tauchte sein Kranhaken nach der Ladung eines der Frachter. Eine große Kiste mit Ware hob sich und schwang auf das Deck des kleineren Bootes, wo eine noch größere Kiste stand und sie verschlang. Im selben Augenblick, wo die gestohlene Kiste abgesetzt war, war die größere Kiste auch schon geschlossen und vernagelt. Auf keiner ihrer Seiten befand sich eine Frachtmarke.
Die gleiche Manipulation wiederholte sich verschiedene Male. Der Wert der auf diese Weise umgeladenen Fracht dürfte, in bar umgerechnet, zum Ankauf verschiedener Bankfirmen genügt haben. Aber die ganze Arbeit nahm kaum mehr als eine halbe Stunde in Anspruch. Darauf machte das Frachtboot los und fuhr den Hudson flußabwärts, wo es bald in einem leichten Nebel verschwand.
Der Mann, der den Kapitän des Schleppers unter seinem Revolver hielt, befahl ihm, zurückzufahren. Um 4 Uhr 20 Min. hatte das Frachtboot mit der Seide die New-Yorker Seite des Flusses erreicht und lag wieder am Kai. Seine Ladung wurde raschest auf ein wartendes Lastauto überführt, das Lastauto rasselte inmitten von vielen hundert anderen, die ebenfalls von den Kais kamen, dahin, jagte durch das Straßenlabyrinth New Yorks und verlor sich unter den Zehntausenden aller möglichen Fahrzeuge.
Um 4 Uhr 40 Min. war es bei einem Lagerhaus in einem entlegenen Teil der Stadt angelangt, in dessen Hof es bereits entladen wurde. Mit Ausnahme der an dem ganzen »Geschäft« beteiligten Leute, wäre niemand imstande gewesen, ihm auch nur mit Blicken zu folgen. Diese Leute aber waren durchaus »sicher«.
In der Zwischenzeit hatte der kühne Verbrecher auf dem Schlepper den Kapitän mit seinem Revolver gezwungen, seine Flottille dicht an der Küste zu halten, wo sich unversehens vom dunkelsten Ende einer Werft eine schlanke Dampfbarkasse loslöste, um neben dem Schlepper zu stoppen.
Der Kapitän war der Mühe des Nachdenkens überhoben, ob dies neue Boot vielleicht eine Polizeibarkasse wäre, denn es blieb ihm überhaupt keine Zeit zum Nachdenken. Ein Schlag mit einem Knüppel gegen seinen Hinterkopf streckte ihn im gleichen Augenblick zu Boden. Der Mann mit dem Revolver hatte ihn mit seiner freien Hand geschickt geführt.
Der Kapitän war besinnungslos. Sein Angreifer sprang von Bord des Schleppers in das wartende Dampfboot, und von diesem Augenblick an schwammen Schlepper und Frachter ohne Kapitän und Steuermann auf dem Fluß.
Die Barkasse schoß der New-Yorker Küste des Hudson zu. Der Heizer des Schleppers merkte wohl, daß irgend etwas nicht in Ordnung war und lief an Deck. Sein erster Blick auf das Steuerhaus belehrte ihn, daß niemand mehr am Ruder stand. Den Dampfstreifen der sich entfernenden Barkasse hatte er bereits von der Treppe aus wahrgenommen.
Er kam gerade zurecht, um dem Kapitän wieder auf die Beine zu helfen. Der noch halb taumelnde Mann riß an der Dampfpfeife, und im nächsten Augenblick zerschnitt bereits der gellende Pfiff des polizeilichen Hilferufs die Stille der Nacht.
Es war ein Signal, weit verschieden und meilenweit entfernt von dem, das Schutzmann Sanders zur Unterstützung Detektiv Warrens im Bezirk seiner Polizeiwache in der Fifth Avenue abgegeben hatte, aber es war ihm gleich ein Ruf um sofortige Hilfe, und sollte auch sofort seine Antwort finden.