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50.
Wer ist erschossen worden?

Wer den »Masken-Micky« erschossen hatte, war völlig klar. Er stürzte die Treppe herunter mit einem so theatralischen Effekt, als ob es sich um die Schlußwirkung einer jahrelang studierten Rolle gehandelt hätte.

Warren hielt sich nicht lange auf. Er legte Benny Smart Handschellen an, fesselte ihn an die Leiche des »Masken-Micky« und nahm den Revolver des Toten an sich.

Im Nu war er oben. Er schlug mit beiden Fäusten gegen die Tür, die inzwischen in aller Hast von den drei Bravos abgeschlossen worden war. Als sie durch den Vordereingang hatten flüchten wollen, waren sie von den Detektiven Daniels und Dean mit den Polizeiknüppeln bewußtlos geschlagen worden. Sie waren gefesselt, ehe noch die Schutzleute von den nächstliegenden Posten auf die Alarmsignale hinzugeeilt kamen.

»Der Polizeiwagen soll an der Ecke halten«, ordnete Warren an. »Machen Sie die Straße frei bis auf den verletzten Schutzmann und die tote Person. Los, vorwärts!«

Unterstützt von Dean und Daniels schleppte er den entsetzten Benny Smart samt dem toten »Masken-Micky« in den Polizeiwagen. Als der Ambulanzwagen erschien, wollte er den verwundeten Schutzmann ins nächste Hospital bringen lassen.

»Ach, mir fehlt ja weiter nichts«, entgegnete der junge Polizist tapfer. »Es ist nur ein Streifschuß gewesen. Wir müssen hier erst aufräumen.«

Warren eilte in den Gang zwischen den Häusern zurück und leuchtete alles mit seiner Taschenlampe ab. Er fand den Revolver mit dem Schußdämpfer. Als er zurück auf die Straße kam, fand er zwei Polizisten vor, die mit dem Motorrad und einem Beiwagen gekommen waren.

Warren legitimierte sich und wies auf den Toten in dem Polizeiwagen. Der steife Körper der »Haken-Mary« wurde gerade hochgehoben.

»Zur Polizeistation mit den beiden«, kommandierte einer der Beamten.

»Nein,« erklärte Warren, »zur Hauptpolizei. Direkt. Ich arbeite unter persönlicher Leitung des Polizeichefs.« Er wies seine Instruktion vor. Die Unterschrift des höchsten Polizeibeamten der Stadt tat ihre Wirkung.

»Von Inspektor Montrose sind auch zwei Mann hier, ebenfalls auf Order des Chefs. Lassen Sie Ihre Leute inzwischen lieber das Haus durchsuchen, vom Keller bis zum Boden. Wenn Sie noch jemand aufgabeln sollten, bringen Sie ihn ebenfalls direkt zur Zentrale.«

Warren schwang sich auf den Wagen. Er ruckte an, und die Zuschauermenge stob auseinander.

Aber jetzt setzte das Schicksal mit unvermeidlicher Ironie den Ereignissen dieser Nacht die Krone auf.

»Wer ist denn erschossen worden«, fragte ein eifriger Zeitungsreporter, der auf den Schuß hin atemlos herbeigeeilt war, um sich mit seiner Geschwindigkeit einige journalistische Sporen zu verdienen.

Ein Zuschauer beantwortete ihm seine Frage. »Ich habe von einem der Detektive den Namen Warren nennen hören. Aber fragen Sie lieber einen Schutzmann. Die wissen ja Bescheid.«

»Herr Wachtmeister, ich bin von der – –«, der übereifrige junge Reporter zeigte seinen Ausweis, der ebenfalls den Namenszug des Polizeichefs trug. »Wer ist Warren?«

»Detektiv Roger Warren, von der Zentrale der Kriminalpolizei«, antwortete ihm der Schutzmann, ohne zu wissen, zu welchem Zweck die Frage gestellt war. »Los, weitergehen!« Er schwang seinen Stock und ging weiter.

»Schöne Geschichte«, der junge Zeitungsmann stürzte in den nächsten Zigarrenladen und riß vor lauter Eifer fast die Telephonzelle über den Haufen. Er wollte und mußte »der Erste« sein. Er rief seine Zeitung an und gab seine Nachricht in höchster Aufgeregtheit einem skeptischen Nachtredakteur weiter.

»Schicken Sie doch Toby Snails zur Hauptpolizei 'rüber. Hier spricht Jimmy Johnson, jawohl. Aber ja, kein Zweifel. Ich habe ihn ja doch mit eigenen Augen in dem Polizeiwagen liegen sehen. Mausetot. Nein, der Wagen ist direkt zur Hauptpolizei, nicht erst zur nächsten Station. Ja doch. Lassen Sie doch nachforschen, wenn Sie mir nicht glauben wollen!«

*

»Wo ist Kommissar Roxey?« fragte Warren, nachdem der Polizeiwagen seine furchtbare Fracht, – zwei Tote und vier lebende Verbrecher –, abgesetzt hatte.

»Er hat sich gerade ein bißchen hingelegt«, erklärte einer der Unterbeamten der Abteilung.

»Können Sie mir sagen, wo ich den Polizeichef finden kann?«

»Jawohl, er ist gerade unterwegs hierher und will dann nach Hause. Er mußte zu einem Festessen, wo er eine Ansprache zu halten hatte. Aber da kommt er eben.«

Warren grüßte stramm.

»Hallo, Warren. Schlafen Sie überhaupt nicht?« fragte ihn der Chef. »Kommen Sie nur gleich mit mir mit und berichten Sie mir, was es Neues gibt.« Die Tür schloß sich hinter den beiden. »Haben Sie Gregory festgemacht?«

»Noch nicht. Ich werde mich hinter Gregory machen, sobald wir hier erst mal diese Geschichte aufgeräumt haben. Ich habe ihn bei Murdocks in Long Island gelassen.«

Er berichtete rasch, aber mit allen Einzelheiten, was vorgefallen war. Der Polizeichef klingelte.

»Teilen Sie Inspektor Montrose und Inspektor Raynor mit, daß ihre Anwesenheit in der Zentrale erwünscht ist. Raynor soll Rechtsanwalt Salomon Chatterton mitbringen und auch die Zeugin, die behauptet, jenen kleinen Mann auf der Straße gesehen zu haben, als der ›Salpeter-Ede‹ erschossen wurde. Bestellen Sie auch Inspektor Montrose, daß die Detektive Dean und Daniels ein paar Leute hier haben, die sie heute nacht an der von ihm bestimmten Stelle festgenommen haben.« Er wandte sich wieder zu Warren. »Glauben Sie, daß wir die ganze Sache jetzt klar haben? Es scheint mir die höchste Zeit zu sein, was?«

»Ich denke, es ist so weit. Aber ich bitte Sie, selbst zu urteilen«, erwiderte Warren. »Ich habe Benny Smart. Wenn die Waschfrau in ihm den Mann wiedererkennt, den sie auf der Straße gesehen hat, dann dürfte es sich aufklären, warum Salomon Chatterton den tödlichen Schuß auf den ›Salpeter-Ede‹ nicht gehört hat. Da, Benny Smart hat diese Waffe hier benutzt. Er hat mich auch damit niederschießen wollen, aber die ›Haken-Mary‹ – –«

Der Polizeichef nickte, als Warren innehielt.

»Lassen Sie die ganze Gesellschaft antreten,« sagte er, »dann kann sich die Frau am besten ihren Mann herauspicken.«

Es war eine düstere, störrische Sippschaft.

Brownie Joe Goodman hatte den Ehrenplatz am linken Flügel. Ihm zunächst stand Leonard Grove. Dann kam Salomon Chatterton. Benny Smart stand verschlagen mit verzerrtem Gesicht und trostlos grinsend zwischen dem Rechtsanwalt und dem ersten der drei Bravos, deren Köpfe beredtes Zeugnis für die rasche Zuverlässigkeit der Detektive Dean und Daniels in der Behandlung bewaffneter Verbrecher ablegten.

Die ältliche Frau sah sich die Leute an, als ob es sich um einen Kasten mit verschiedenem Backwerk handelte, aus dem sie sich das Beste aussuchen sollte.

»Das ist er«, rief sie und zeigte mit dem Finger auf den ehemaligen Droschkenkutscher.

»Sind Sie sich auch ganz sicher?« fragte Warren.

»Ich irre mich ganz bestimmt nicht. Aber er hatte einen Mantel an und seinen Hut auf. Ich habe ihn etwas in seine Tasche stecken sehen. Was es gewesen ist, weiß ich allerdings nicht.«

»Führen Sie ihn nach oben! Ich muß mich mit Ihnen ein bißchen unterhalten, Benny. Sie haben mir gestern etwas versprochen, Sie wissen doch!«

»Hahaha! Beinahe hätte ich Sie gehabt. Wenn meine Alte sich nicht – –«

»Ruhig!« Warrens Ton war so scharf, daß Benny in sich zusammensank wie eine alte Ziehharmonika.

»Jetzt werde ich aber doch freigelassen, nicht wahr, Herr Polizeichef«, jammerte Salomon Chatterton, als Warren und sein oberster Vorgesetzter den Raum verlassen wollten. »Warum werde ich denn festgehalten wegen des Mordes an einem Klienten? Das ist doch undenkbar.«

»Ja, ja, Rechtsanwalt. Eine dumme Geschichte. Undenkbar, ja, ja. Wer hätte auch andererseits daran gedacht, daß bei einem Einbruch zwei Schutzleute über den Haufen geschossen werden würden wie bei Mrs. Winthrop im Hause, was? Ein höchst merkwürdiges Zusammentreffen ist schuld daran, wenn ich mir noch eine Weile überlegen muß, was wir mit Ihnen anfangen werden.«

»Zusammentreffen?« fauchte Chatterton.

»Ja, Brownie Joe hat sich zufällig mit den sämtlichen Juwelen kurz vor der Erschießung des ›Salpeter-Ede‹ in Ihrer Wohnung befunden. Dieses Zusammentreffen, Herr Rechtsanwalt, dürfte gegenüber einem achtbaren Mitglied des Anwaltstandes an sich zu keinem tieferen Verdacht Anlaß geben. Aber ich habe so das Gefühl, als ob mich die New Yorker Anwaltskammer nach einigen Einzelheiten fragen dürfte. Ich werde mich mit Ihnen noch näher über diesen Punkt unterhalten. Es tut mir leid, aber ich habe sehr viel zu tun heute nacht.«

*

»In der Nacht von gestern auf heute, haben Sie, Benny Smart,« erklärte Roger Warren, als sich der Polizeichef, Montrose, Raynor und ein Protokollführer zum Verhör des alten Droschkenkutschers zusammengefunden hatten, »den Versuch gemacht, Audrey Murdock zu töten, und zwar in den Räumen des Klubs des ›Masken-Micky‹. Sie haben sich meines Revolvers bemächtigt. Aber ich bin Ihnen zuvorgekommen. Dann bin ich zu Ihnen in Ihre Wohnung gekommen, und Sie haben mir klipp und klar die reine Wahrheit von dem beabsichtigten Einbruch bei Mrs. Winthrop gesagt. Heute morgen haben Sie dann den ›Salpeter-Ede‹ erschossen, nachdem er gerade freigelassen worden war. Und heute nacht haben Sie Ihre eigene Frau bei dem Versuche, mich zu töten, erschossen. Was hat das alles zu bedeuten? Sie sind doch niemals ein Verbrecher oder ein Mörder gewesen? Sie waren Droschkenkutscher und weiter nichts.«

»Murdock,« sagte er, »James Murdock war der Schuft, den ich habe treffen wollen. Mein Bruder hat es versucht. Aber Sie haben ja meinen Bruder – –«

»Einen Augenblick,« sagte der Polizeichef, »Warren hat Ihren Bruder nicht erschossen, wenn er auch annimmt, daß er es getan hat. Aber warum hat denn Ihr Stiefbruder James Murdock umbringen wollen?«

»Der Bankraub ist ja nun jetzt wohl schon an die dreizehn Jahre her«, erklärte Benny Smart mit einer Selbstverständlichkeit, als ob er von irgendeinem längst vergangenen Gewittersturm spräche. »Ich fuhr meine Droschke. Bei Geschäftsschluß unten in Wallstreet, und dann hatte ich Fuhren fürs Theater und für die Restaurants. Na, da kommt eines schönen Tages mein Stiefbruder Bernhard zu mir und sagt: ›Ich kann was verdienen. Tadellose Leute. Harold Yates ist auch dabei. Ich soll 'ne Mappe klauen. Ich soll sie dann Yates weitergeben. Und Yates soll sie in deine Droschke schmeißen. Du sollst dir gerade eine Zigarre anstecken und dich nichts merken lassen. Dann sollst du um die Ecke fahren und einen Herrn mit einem Zylinder einsteigen lasten, der dich heranwinkt. Und dann sollst du ihn hinfahren, wo er hinwill.‹«

»Na, und das habe ich gemacht«, fuhr Benny fort. »Bernhard hat die Mappe geklaut. Yates hat sie zu mir in die Droschke geschmissen. Ich bin um die Ecke. Der Mann, der mich rief, war James Murdock. Ich mußte ihn zur Alten Mühle in der 42. Straße, zwischen der Siebenten und Achten Avenue, fahren. Dort ist er rein mit der Mappe. Der ›Masken-Micky‹ war auch da. Er hat das weitere besorgt. Ich habe meinen Hunderter für meine Arbeit bekommen. Mein Bruder hat einen hübschen Schnitt dabei gemacht, und Yates auch. Aber die beiden hat man erwischt. Und Murdock hat meinem Bruder eins ausgewischt! Im Stich gelassen hat er ihn.«

»Da hätte ich ja das Glied, das mir in meiner Beweiskette fehlt«, rief Inspektor Montrose. »Also deshalb ist Gusset in Murdocks Villa eingedrungen.«

»Und uns diesem Grunde haben Sie Audrey Murdock und mich zu erschießen versucht?«

»Jawohl, wenn ich Sie niedergeknallt hätte, wäre ich jetzt nicht hier«, sagte Benny. »Hahaha! Der ›Masken-Micky‹ hat 'ne schöne Überraschung erlebt. Das Luder hat mich kaltmachen wollen. Aber Sie haben's ihm gegeben. Hahaha!«

»Lassen Sie den Mann ins Hospital bringen, zur Untersuchung seines Geisteszustandes«, bestimmte der Polizeichef. »Glück, und doch wieder nicht, Inspektor. Ich fürchte fast, daß wir mit dieser unkontrollierbaren Zeugenaussage nicht viel werden anfangen können.«

»Aber da ist ja noch die Person, die Warren verhaftet hat«, meinte Montrose.

»Ich möchte mich jetzt noch mal mit Chatterton unterhalten«, unterbrach ihn der Polizeichef. »Ich denke, er ist reif dafür. Lassen Sie ihn vorführen.«

Rechtsanwalt Chatterton war schon so ziemlich überreif. Der Schweiß trat ihm aus jeder Pore.

»Ich habe nicht die Absicht, viel Zeit mit Ihnen zu verlieren«, erklärte ihm der Polizeichef. »Wenn Sie mit einigermaßen heiler Haut davonkommen wollen, dann geben Sie eine formelle Erklärung ab, daß Sie aus freien Stücken und ohne irgendwelchen Zwang einige Aussagen zu machen bereit sind über gewisse Tatsachen, die Ihnen bekannt sind. Für die Richtigkeit Ihrer Unterschrift werden wir Zeuge sein. Wenn Sie so weit sind, dann erzählen Sie uns, was Sie wissen. Wenn Sie nicht wollen, dann dürfen Sie sich wieder nach unten begeben. Wir haben reichlich Material gegen Sie, um Ihnen einen Strich durch Ihre Tätigkeit mit Verbrechern, Mördern und ähnlichem Gelichter zu machen. Wenigstens für eine gewisse Zeit!«

Salomon Chatterton bewies, daß er sehr rasch diktieren konnte. Er verstand sich auf Schriftstücke. Er tat das Seinige, um sich rein zu waschen.

»Sobald die Abschrift des Stenogramms vorliegt und Sie die Richtigkeit beschworen haben werden, steht Ihrer Entlassung aus der Haft gegen eine gewisse Kaution nichts mehr im Wege, vorausgesetzt allerdings, daß Sie einen Revers unterschreiben, sich jeder anwaltlichen Unterstützung aller Mitglieder dieser Verbrecherbande enthalten zu wollen. Solange müssen Sie allerdings wohl oder übel die Gastfreundschaft der Polizei in Anspruch nehmen. Es wird jedoch niemand erfahren, daß Sie nicht ganz freiwillig hier sind.«

Das Telephon klingelte, und der Polizeichef nahm den Hörer ab.

»Der Polizeichef, hier. Was bitte? Ich bedaure, wir lehnen jede Erklärung für die Presse ab, bis die Angelegenheit in Ordnung ist. Bedaure außerordentlich, wenn ich unliebenswürdig erscheinen muß. Ja, tut mir leid. Aber wir haben zunächst unsere Pflichten gegenüber der Bürgerschaft, und erst in zweiter Linie gegenüber der Presse. Selbstverständlich. Später stehen wir mit Informationen gern zur Verfügung.«

*

Toby Snails, der ärgste journalistische Plagegeist, der die Hauptpolizei heimzusuchen pflegte, wandte sich vom Telephon an den Lokalredakteur vom Nachtdienst.

»Der Polizeichef lehnt es ab, den Tod Roger Warrens zu bestätigen. Aber er leugnet ihn auch nicht. Jimmy Johnson wird also vermutlich recht haben.«

Der Nachtredakteur schoß in den Setzersaal, und die Folge war ein wahrer Kometenschweif von fetten Überschriften über der Extraausgabe seines Blattes, das kurz nach Mitternacht stürmisch in den Hauptstraßen ausgerufen wurde. Es geschah ungefähr zwanzig Minuten, bevor James Murdock in seinem höchst eleganten Auto von der Fähre auf New-Yorker Boden abgesetzt wurde.

»E–extrablatt!« schrillte der Ruf eines Zeitungsjungen, dessen Lungenkraft gut die Konkurrenz mit der Dampfpfeife eines Hudsondampfers hätte aufnehmen können. »Mord – Mord! Kriminalschutzmann erschossen. Großer Kampf zwischen Verbrechern und Polizei! Drei Tote!!«

Murdock kaufte sich die Zeitung. Warrens Name prangte wie eine Flammenschrift über allem. Murdocks Hand zitterte doch ein wenig, als er dem Zeitungsjungen das Geldstück in die Hand drückte. Aber sein Gesicht blieb nichtsdestoweniger ruhig und unergründlich, als er vom Tode des Mannes las, von dem selbst sein Chauffeur überzeugt war, daß er seinem Herrn das Leben gerettet hatte.

Dieser Chauffeur wunderte sich während der ganzen Fahrt nach Long Island über die absolut stoische Ruhe und das Phlegma seines Brotherrn. Der Mann war absolut unbescholten und hatte niemals mit irgendeinem Gefängnis Bekanntschaft gemacht; denn mitunter benutzte Audrey für sich und ihre Freunde den Stadtwagen ihres Vaters, und Murdock sah geflissentlich darauf, daß sein »Augapfel« nichts mit seinen schurkischen Helfershelfern in Berührung kam.

Murdock ließ die Zeitung in seinem Auto liegen. Er begrüßte Audrey mit der üblichen, unbefangenen Herzlichkeit.

»Mein armes, kleines Mädel,« sagte er mit halberstickter Stimme, »was in aller Welt ist denn nur passiert, und wie hat Warren, dieser Prachtkerl, so etwas zulassen können!«

»Da, lies, was er dir geschrieben hat«, erwiderte sie unter Freudentränen.

Murdock ließ den Brief durch seine Finger gleiten und steckte ihn ungelesen in die Tasche.

»Papa, du mußt ihn lesen. Ich brenne selber darauf, zu wissen, was Roger so verändert hatte. Im einen Augenblick war er, – ach, er war so lieb wie immer. Und im nächsten war er so brutal und so ganz, ganz anders als sonst.«

»Was war er?« brummte Murdock. All seine Gewissensbisse wegen Warrens Schicksal waren wie weggeblasen. Es war für Murdock eine ewig unentschuldbare Handlungsweise, daß Warren es gewagt hatte, die heilige Unantastbarkeit seiner Tochter zu verletzen und mit plumpen Schritten in das Unschuldsparadies einzudringen, das er so kunstvoll für sein mutterloses Kind geschaffen hatte.

»Bitte, bitte, Papa.« Audrey verstärkte ihre Bitte mit einem Kuß. »Laß mich nicht warten. Ich bin so nervös. Aber Roger hat mir vorhin gesagt, daß du dich in keiner Gefahr befändest, soviel er wüßte.«

»Was?« Er traute kaum seinen Ohren.

»Er hat niemals etwas anderes gesagt. Er hält ja so große Stücke auf dich«, fuhr sie in fieberhafter Erregung fort.

Die Röte der Liebe auf ihren Wangen, die Zärtlichkeit, mit der sie seinen Arm ergriff, und die schwimmenden Augen waren zuviel für ihren Vater. Er machte den Brief auf, faltete ihn auseinander und setzte sich an seinen Schreibtisch, um ihn zu lesen. Das Blatt Papier entsank seiner bebenden Hand. Es fiel zu Boden. Audrey bückte sich, um es ihrem Vater wieder in die Hand zu geben. Aber Murdock war aufgestanden und schritt mit zitternden Knien auf seinen Likörschrank zu. Er riß die Tür auf, griff nach der Kognakflasche und stürzte hastig ein Glas voll herunter.

Audrey las Warrens Mitteilung. Jubel lag in ihren Blicken, und triumphierend sprang sie auf ihren Vater zu.

»Es ist doch nichts zu seltsam, um wahr zu sein, Papa. Das hat Roger selbst zu mir gesagt. Mit diesem Wort hat er mich von der Wärterin im Gefängnis trösten lassen. Ich habe es ja gewußt. Es konnte nur etwas ganz ungewöhnlich Geheimnisvolles sein, was ihn zu solch einem Benehmen zwang. Selbst Harry Gregory hat mir vorhin erklärt, daß die Polizei nicht den geringsten Grund für irgendeinen Verdacht haben kann. Siehst du? Es ist nur ein Mißverständnis gewesen. Roger hat von vornherein gewußt, daß ich nichts Böses getan habe. Siehst du, gleich nach meiner Verhaftung hat er dienstlich woanders hin müssen, genau wie heute nacht. Er ist ja so tapfer, Papa. Aber morgen kommt er wieder zu uns heraus, um dir alles näher zu erklären. Ist das nicht wundervoll?«

Sie küßte ihren Vater abermals.

»Aber wie kalt du bist, Papa!? Ist dir nicht wohl?«

»J–ja, Audrey. Die Dinge, die dir passiert sind, waren zuviel für mich. Ich, – ich bin nicht mehr so jung, wie ich gern sein möchte.«

Wenn James Murdock auch noch niemals in seiner ganzen verbrecherischen Karriere um eine Ausrede verlegen gewesen war, jetzt fehlte ihm die innere Sicherheit. Jedes Wort, das seine Tochter zu ihm sprach, traf sein Herz wie ein Dolchstoß. Er hatte dem tapferen, aufrechten Polizeibeamten, der in seiner Ergebenheit treulich das Leben gerettet hatte, das ihm das eigene allein lebenswert machte, das Todesurteil gesprochen.

Murdock sank in einen Stuhl. Sein Atem ging schwer. Ach, wie verzweifelt und doch wie ohnmächtig war sein Wunsch, daß er diesen Tag noch einmal anders gestalten könnte. Ohne mit der Wimper zu zucken, wollte er bis auf den letzten Rest all seinen schmutzigen Reichtum hingeben, wenn er dadurch Roger Warren das Leben wiederschenken könnte, dessen er ihn mit seiner schweigenden Zustimmung zu Benny Smarts und des »Masken-Micky« Plänen beraubt hatte.

Er wagte es nicht, Audrey die Nachricht von Warrens Tod mitzuteilen. Er saß dumpf und stumpf in seinem Stuhl und trank ein Glas Kognak nach dem anderen, in der Hoffnung, daß ihn der Alkohol vergessen lassen würde, daß seine Stirn mit einem Kainszeichen gebrandmarkt war.

Draußen winselte Wachtmeister.

»Ich bin noch unter Bewachung, bis Roger wiederkommt«, sagte Audrey. »Da, sieh. Der goldige Hund hat selber versucht, die Order zu unterschreiben.«

»Du – weißt – also.« Murdocks Zunge schien ihm wie geschwollen. Die Hölle brannte in seinem Hirn. Als Wachtmeister an dem Fenster sichtbar wurde, glaubte Murdock einen dreiköpfigen Zerberus zu sehen. Das Höllentor schien sich vor ihm aufzutun, und fühlte, welche Schrecken ihm bevorstanden.

Hastig leerte er noch ein Glas Kognak.

Audrey stellte die fast geleerte Flasche wieder in den Wandschrank.

»Willst du nicht zu Bett gehen, Papa?«

»J–ja. Ich gehe – ja – sch–schon!« gab er ihr zur Antwort.


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