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13.
Freie Hand. Vorwärts

Also Sie haben den Burschen in Ausübung Ihres Dienstes niederschießen müssen?« fragte der Polizeichef Roger Warren, als er seine Erzählung beendet hatte.

»Jawohl. Es tut mir leid, aber es blieb mir keine andere Wahl. Als ich zum ersten Male schoß, war der Mann gerade dabei, Mr. Murdock zu erschießen, wie ich ja schon gesagt habe. Jetzt wandte er natürlich die Waffe gegen mich.«

»Wenn Sie ihn nicht getötet hätten, sondern Mr. Murdock eine Waffe zur Hand gehabt hätte, wäre die Geschichte ja doch aufs gleiche herausgekommen.«

»Mr. Murdock hat übrigens, wie er mir sagte, die Erlaubnis, Waffen zu tragen, aber sein Revolver befand sich in seinem Bureau. Aber die Sache hat eine ganz merkwürdige Seite. Dieser Gusset ist der Komplize von dem Yates gewesen. Ich sah Yates heute morgen und war dann bei ihm an der Zelle.«

Warren gab seine Unterhaltung mit dem ehemaligen Strafgefangenen wieder. Der Polizeichef nickte. »Inspektor Montrose hat mir schon von dem seltsamen Zusammentreffen erzählt. Der Raub auf dem Hudson war übrigens eine große Sache. Es sind für ungefähr 200 000 Dollar Seide von einer ganz besonders wertvollen Qualität gestohlen worden. Die ganze Geschichte ist glänzend vorbereitet und ebenso glänzend durchgeführt worden.«

»Ich habe mir auch schon meine Gedanken darüber gemacht«, entgegnete Warren. »Ich habe gestern bei Murdock im Hause einen Mann gesehen, das heißt eigentlich zwei Männer. Sie gehörten beide zu den Gästen. Der eine heißt Harry Gregory. Ich weiß von ihm nicht mehr, als was mir sein Gesicht zu verraten scheint. Es ist ein mehr als verschlagenes Gesicht. Aber den anderen habe ich erkannt. Er hat früher mal zu der Brownie-Joe-Bande gehört, wenn Sie sich vielleicht noch an die erinnern. Die ganze Sippschaft pflegte sich in der ›Alten Mühle‹ in der westlichen 42. Straße seßhaft zu machen. Es war eine pikfeine Bande, immer in Abendtoilette, wenigstens ein Teil von ihnen, aber eine üble Gesellschaft. Zu der Bande gehörte übrigens auch ein Mädchen, das unter dem Namen der ›Haken-Mary‹ bekannt war. Ihre Spezialität war das Klauen von Brieftaschen. Sie suchte sich ihre Opfer auf der Straße aus, ging mit ihnen nach Hause und rupfte sie gründlich. Der zweite Mann also, den ich gestern nacht gesehen habe, war ihr Bruder Micky, der ›Masken-Micky‹. Er ist schon oft verhaftet gewesen, aber noch niemals verurteilt worden. Wie ich zuerst in das Haus kam, habe ich die beiden gar nicht richtig gesehen gehabt. Sie tanzten ganz nahe bei der Tür zum Vorderzimmer, wo die Gesellschaft vonstatten ging. Ich war zu sehr in Eile. Ich mußte möglichst rasch nach oben, um Gusset zuvorzukommen. Ich konnte mich wirklich nicht aufhalten. Es war ja auch der letzte Moment. Aber hinterher habe ich Gregory gesehen. Er war im Hause geblieben, obwohl die anderen alle schon fort waren. Micky habe ich nicht wiedergefunden. Aber soviel ich weiß, ist Murdock im Seidengeschäft, und Gregory arbeitet mit ihm zusammen. Ich weiß nicht recht –«

»Na, sagen Sie es nur.«

»Der Sprung ist ja ein bißchen kühn, aber ich frage mich doch, ob dieser Gregory nicht der Kerl ist, der hinter all den verschiedenen Räubereien steckt.«

»Angenommen, Gregory ist ein Verbrecher,« fuhr Warren fort, »dann war er der zweite unter den Gästen in Murdocks Haus, die ich gesehen habe. Murdock ist im Seidengeschäft, aber er steckt ebenso stark im Grundstücksmarkt und im Versicherungsgeschäft und allen möglichen Dingen drin. Er hat Gregory angestellt. Aber das hindert ja schließlich nicht, daß dieser Verbrecher seinerseits wieder andere Verbrecher beschäftigt. Gusset ist auch ein Verbrecher gewesen. Vielleicht hat er Murdock berauben wollen. Aber er kann ebensogut die Absicht gehabt haben, Gregory zu stellen, und hat Murdock nur zufällig erwischt. Meinen Sie nicht?«

»Schon möglich. Aber sprechen Sie nur weiter.«

»Wenn Gregory wirklich ein Verbrecher ist, und wenn er auf verbrecherische Weise beschaffte Seide zusammen mit ehrlich gekaufter Ware weiterverhandelt, dann wird er schon dafür gesorgt haben, daß er für alle Fälle ein Alibi hat. Möglicherweise benutzte er die Gesellschaft im Hause seines Chefs zu diesem Zweck.«

»Ich höre Ihnen zu, Warren,« sagte der Polizeichef, »aber warten Sie mal einen Augenblick. Hier habe ich gerade den Rapport über den Seidenraub auf dem Hudson. Sehen Sie ihn sich mal an.«

Warren trat, wie ihm geheißen, aber er fiel fast vom Stuhl. Seine Augen blitzten auf.

»Darf ich sofort mal meine Mutter ans Telephon rufen?« fragte er.

»Warum denn?«

»Hier steht, daß die gestohlene Seide aus Japan kommt und die Marke ›Universal‹ trägt. Miß Murdock hat mir gestern nacht meinen Arm mit einem Stück prachtvoller Seide bandagiert. Als meine Mutter den Verband wechselte, fiel mir auf, daß auf dem Rand die Marke ›Universal‹ aufgestempelt war. Es sollte mich nicht wundern, wenn Mr. Murdocks Firma beraubt worden ist.«

»Nein, Warren, bestimmt nicht. Es handelt sich um einen anderen Konzern. Der Verlust ist nicht wieder gutzumachen. Die betreffende Seidenfabrik ist nämlich bei dem Erdbeben in Japan zerstört worden, wie die bestohlene Firma erklärt. Es ist von allergrößter Wichtigkeit, daß die geraubte Ware wieder zur Stelle geschafft wird. Rufen Sie Ihre Mutter nachher an. Mit Mr. Murdock stehen Sie auf sehr gutem Fuß jetzt, nehme ich an. Natürlich, Sie sind ja sein Lebensretter. Er war Ihnen dankbar, was?«

»Jawohl. Und seine Tochter Audrey auch, eine reizende junge Dame, wenn sie auch ein bißchen sehr selbstherrlich ist. Sie bestand darauf, mich in ihrem Auto nach Hause zu fahren. Etwas gegen alle Gewohnheiten, aber ich konnte es nicht gut abschlagen. Ich habe sie auch meiner Mutter vorstellen müssen. Und mit Wachtmeister, meinem Hund, hat sie dicke Freundschaft geschlossen. Sie will ihn mit aufs Land hinausnehmen. Widerspruch gibt's einfach nicht. Aber es wird dem Hund ganz gut tun. Die Straßen sind wirklich nichts für ihn.«

»Sehr schön, Warren. Ich hoffe, Sie verstehen mich. Sie haben den Keil schon angesetzt. Lassen Sie nur Miß Murdock getrost die Freundschaft mit Ihrem Hunde pflegen. Sie werden auf diese Weise schon etwas mehr herauskriegen über Gregory oder den ›Masken-Micky‹ oder sonstwen, der in die Geschichte verwickelt ist. Gussets Einbruch scheint mir doch ein zu merkwürdiges Zusammentreffen mit all dem anderen zu sein, als daß es auf einen bloßen Zufall zurückzuführen wäre. Ja, wenn er nicht ein Komplize von Yates gewesen wäre! Aber Yates werden wir wohl laufen lassen müssen. Keine Beweise! Zu dumm. Sehen Sie sich mal hier diese Registrierkarten durch.«

Der Polizeichef griff in einen der Kartothekkästen und reichte Warren mehr als ein Dutzend Karten. Sie bezogen sich auf eine ganze Reihe Kapitalverbrechen, auf Juwelendiebstähle in der allerersten Gesellschaft, auf Beraubungen und Ermordungen von Kassenboten oder von Angestellten, die mit den Lohngeldern für ihre Firmen unterwegs waren, auf Geschäftseinbrüche und Sprengung von Geldschränken oder Safes. Nirgends handelte es sich um Werte unter 25 000 Dollar, während in einigen Fällen die Verluste über eine viertel Million betrugen. Eine Reihe der betreffenden Verbrecher befanden sich im Gewahrsam der Polizei, einige waren bereits verurteilt. Aber es waren ausnahmslos Leute von durchaus mittelmäßigem Intellekt.

»Da steckt ein Drahtzieher dahinter«, erklärte der Polizeichef ganz beiläufig, als ob er von etwas gänzlich Nebensächlichem redete. »Wenn es sich um Verbrecher handelte, die jeder auf eigene Rechnung arbeiten, würden nicht all diese verschiedenen Dinge so glatt aufgezogen und erledigt werden. Wenn Ihr Freund Gregory den ›Masken-Micky‹ so gut kennt, wie kommt er dann dazu, auf einer Tanzgesellschaft in einem Millionärhaus in der Fifth Avenue zu sein. Und wie kommt der ›Masken-Micky‹ dahin? Und wie ist es möglich, daß Gusset ausgerechnet in ein Zimmer eingedrungen ist, in dem sich, wie Sie mir sagen, ein Stück von genau derselben Seide befunden hat, die unmittelbar nach seinem Tode auf dem Hudson geraubt worden ist? Sie haben genügend Leitfäden in Ihrer Hand. Außerdem haben Sie gesellschaftlichen Zutritt zu dem Hause, in dem diese beiden Galgenvögel allem Anschein nach ihr Nest gebaut haben. Sie sind der einzige Kriminalbeamte in ganz New York, Roger Warren, der sich dort sehen lassen kann, ohne Verdacht zu erregen. Ich lasse Ihnen vollkommen freie Hand. Sie können tun und lassen, was Sie wollen. Wenn Sie Geld brauchen, wenden Sie sich an mich. Und halten Sie mich persönlich auf dem laufenden. Wenn Sie Unterstützung oder Hilfe brauchen, jeder Kriminalbeamte in New York oder in sonst einer Stadt steht Ihnen zur Verfügung. Ich decke Ihnen den Rücken. Aber bringen Sie die Sache vorwärts! Wenn Sie irgendwelche Vermutungen haben, lassen Sie sich nicht abschrecken. Folgen Sie ihnen getrost. Vermutungen führen gar nicht so selten zu Gewißheiten.«


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