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42.
König Tut wird freigelassen

Bevor wir zur Sache kommen,« erklärte Inspektor Montrose, als der derangierte Freddy Carrington vor ihm erschien, »möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie nach Recht und Gesetz jegliche Antwort auf irgendeine meiner Fragen verweigern können. In diesem Falle bliebe mir allerdings nichts weiter übrig, als die Anschuldigungen, die gegen Sie vorliegen, der richterlichen Entscheidung zu unterbreiten und Sie so lange in Untersuchungshaft zu behalten. Ihr richtiger Name ist Frederick Carrington, nicht wahr?«

»Jawohl. Darf ich ergebenst fragen, mit wem ich die Ehre habe zu sprechen?«

»Ich bin Inspektor Montrose.«

»Bedauere außerordentlich, Herr Inspektor, daß ich Sie bei einer so offiziellen Angelegenheit kennenlernen muß. Sie nehmen mir das nicht übel. Ich weiß Ihre Freundlichkeit zu schätzen. Aber mein Schädel fühlt sich an, als ob sämtliche Pyramiden darauf lasteten. Darf ich Sie vielleicht um ein Glas Wasser und etwas Brom bitten? Und darf ich mir ferner die Frage erlauben, ob irgend etwas über die ganze Geschichte – ich meine, über meine Verhaftung – in die Zeitung gekommen ist?«

Inspektor Montrose ließ zum Polizeiarzt schicken, der alsbald erschien und Freddy Carrington ein Beruhigungspulver verabfolgte.

»Ja,« erwiderte der Inspektor trocken auf Freddys ängstliche Frage, »die Morgenzeitungen bringen die Nachricht, daß man endlich zu König Tuts Sarkophag vorgedrungen – und daß dieser Sarkophag mit reinstem Gold beschlagen sei. – Stimmt das?«

»Mein Gott, es hätte schlimmer kommen können. Aber das ist der Tod für die erhabene Frau!«

»Für wen?«

»Für die erhabene Ahnfrau! Für meine Mutter!«

»Ich bedauere lebhaft, nicht zu wissen, wer König Tuts Mutter ist,« sagte Montrose, auf den Scherz eingehend, »meine Kenntnisse über die ägyptischen Dynastien sind leider sehr beschränkt.«

Freddy sank zuerst völlig in sich zusammen, aber dann ließ er eine Stammbaumtirade vom Stapel, die alle Erwartungen Montroses übertraf. Mit zwei Sätzen hatte er seine Familie bis zur Zeit George Washingtons verfolgt, mit zwei weiteren Sprüngen war in der Zeit, in der seine Ahnen sich bemüht hatten, die Indianer aus dem Bezirk der Wall Street fernzuhalten, und sprach von New Yorks erstem Gouverneur Peter Stuyvesant und Hendrik Hudson, bis Montrose verzweifelt rief:

»Halt, halt, junger Mann! Ich bin die ganze Nacht nicht zur Ruhe gekommen wegen der Geschichten, die mit Ihrer Verhaftung zusammenhängen. Lassen Sie uns endlich zur Sache kommen!«

»Gern, sehr gern. Ich habe nichts dagegen. Sie sollten nur wissen, welchen Schock die ganze Geschichte für den Familienstolz meiner armen Mutter bedeutet.«

»Ich habe selber fünf Sprößlinge,« antwortete Montrose, »und ich habe volles Mitgefühl mit Ihren unmittelbaren Vorfahren, zumal ich mich auch von Stunde zu Stunde weniger auskenne in den Anschauungen der jungen Generation. Also: wie lange kennen Sie bereits Audrey Murdock?«

Freddy erzählte es ihm. Sie kannten sich etwa seit einem halben Jahre und hatten sich bei verschiedenen gesellschaftlichen Veranstaltungen sehr gut zusammengefunden. Er berichtete ferner, daß Audrey ihn beauftragt gehabt hätte, für tausend Dollar etwas noch nie Dagewesenes für ihre Gesellschaft auszudenken, und wie er auf seine ägyptische Idee verfallen sei.

»Sind Sie gesellschaftlich auch Harry Gregory begegnet?«

»Mehr alkoholisch als gesellschaftlich«, erklärte Freddy mit scharfer Unterscheidung. »Zur Gesellschaft gehört er nicht. Kleiner Kaufmann! Ich kann ihn nicht ausstehen, erstens mal persönlich nicht, und zweitens, weil er mir mit Mrs. Edith Winthrop in die Quere gekommen ist.«

»Gehört Mrs. Winthrop zur Gesellschaft?«

»Um Gottes willen, nein. Die richtige Neureiche. Aber ich kann mir nicht helfen, ich mag sie gern.«

Er kramte in seinen Taschen herum und holte eine Rechnung über die Orchideen hervor, die er ihr am Tag vorher hatte schicken lassen. Montrose betrachtete sie prüfend.

»Sie waren gestern abend hinter Gregory her, um ihn niederzuschießen? Hier mit dieser Pistole, nicht wahr?« Er hielt ihm die zierliche, kleine Waffe entgegen.

Freddy Carrington wurde wachsbleich. »Jawohl,« sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken, »ich hätte ihn auf der Stelle niedergeknallt; denn seine ganze Art Mrs. Winthrop gegenüber war alles eher als ehrenhaft, scheint mir.«

Inspektor Montrose spitzte die Ohren.

»Inwiefern?« fragte er sachlich.

»Weil sie ihm ganz egal ist. Sie hat sich bloß in ihn verschossen. Er ist in Audrey Murdock verliebt. Aber die interessiert sich wieder nicht im geringsten für ihn.«

»Für wen interessiert sich denn Miß Murdock?«

»Das weiß ich nicht. Aber ganz bestimmt nicht für Gregory. Sie ist überhaupt noch viel zu jung, um sich auszukennen.«

»Sie waren also gestern abend auf der Suche nach Gregory und Mrs. Winthrop?«

»Jawohl. Mrs. Winthrops Mädchen hatte mir am Telephon gesagt, daß ihre Dame in den ›Klub Versailles‹ gefahren wäre, um dort mit Harry Gregory zu tanzen. Das Mädchen hat mir auch gesagt, daß sie selber Ausgang hätte. Also bin ich zum ›Klub Versailles‹ gegangen. Auf der Straße traf ich Miß Murdock. Sie hatte nichts über und sah aus, als ob sie fröre. Wie es gewesen ist, weiß ich nicht mehr so genau. Ich weiß nur, daß ich ihr meinen Mantel umgelegt habe, und daß der Schutzmann es nicht dulden wollte. Ich glaube, das ist der Grund, weswegen er mich verhaftet hat.«

»Wieso war denn Miß Murdock in Begleitung eines Polizeibeamten?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich – ich war so ziemlich, Sie wissen schon.«

»Na, wenn Sie's nur wissen, junger Mann. Es stimmt. Aber Sie haben sich da eine hübsche Suppe eingebrockt. Trunkenheit, Störung der öffentlichen Ordnung, Widerstand gegen die Polizeigewalt bei Ihrer Verhaftung, Drohung, jemand zu erschießen, und nicht zuletzt unerlaubtes Waffentragen!«

»Ah, du großer Gott!« rief Freddy Carrington und sank in sich zusammen, als ob sämtliche Pyramiden über ihm zusammenstürzten. »Ich kann nichts weiter sagen, als daß ich Sie bitte, meiner Mutter all diese Geschichten möglichst sanft beizubringen. Wenn ich die Sache anders gedreht und Mrs. Winthrop geheiratet hätte, wäre meine Mutter ganz bestimmt noch viel entsetzter gewesen, das ist ja selbstverständlich bei so einer Familie wie meiner. Aber halten Sie es nicht vielleicht auch für besser, wenn ich mich für zeitweilig unzurechnungsfähig erklären lassen würde? Wegen Alkohol und Frauengeschichten?«

»Ich bin Polizeibeamter«, erklärte Inspektor Montrose ziemlich schroff, »und nicht Ihr Rechtsberater. Aber ich nehme an, daß Sie unschwer werden eine Kaution stellen können? Einen Augenblick, bitte.«

Er verließ das Zimmer, weil er nicht wollte, daß König Tut ihn lachen sah. Aber sein Humor war zu stark entwickelt, als daß er dieser grotesken Situation gegenüber hätte ernst bleiben können. Carrington war doch wirklich der typische Sproß einer dekadenten Familie und alles eher als ein Geier der Nacht. Für die Kriminalpolizei hieß es nur Zeitvergeudung, wenn er sich weiter mit ihm beschäftigt hätte.

Montrose schlug also lediglich in dem amerikanischen »Wer ist's?« nach, um sich zu vergewissern. Er fand natürlich den Namen und die Adresse von Freddys Mutter, deren gesellschaftliche Beziehungen und Verbindungen fast imponierend waren. Nein, ihr Sohn konnte kein Verbrecher sein. Montrose begab sich zu ihm zurück.

»Die Höchststrafe für Ihre Vergehen würde sich alles in allem auf ungefähr zwanzig Jahre Gefängnis belaufen«, erklärte er grimmig. »Aber ich will etwas für Sie tun, wozu ich gesetzlich vielleicht nicht einmal berechtigt bin. Aber Sie haben mir die volle Wahrheit gesagt, und das ist schon etwas wert. Ich setze Sie für eine Woche auf freien Fuß auf Ihr Ehrenwort hin. Ein Mann mit einem Stammbaum, wie dem Ihren, wird mir nicht durchbrennen, was?«

»Bestimmt nicht. Ich gebe Ihnen mein heiliges Wort darauf.«

»Sie werden allerdings inzwischen unter polizeilicher Beobachtung stehen und müssen sich streng jeglicher alkoholischer Getränke enthalten. Haben Sie Zutritt zu dem ›Klub Versailles?‹«

»Ja. Ich hatte die Einladung in der Tasche, als ich verhaftet wurde.«

»Sie werden sie nachher mit Ihren anderen Sachen wieder ausgehändigt erhalten. Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben sollte – was ich nicht tue –, dann würde ich Ihnen sagen, gehen Sie jetzt zu Mrs. Winthrop oder zu Murdocks oder sonst zu einem Ihrer gesellschaftlichen Freunde und schweigen sich völlig aus über Ihre Verhaftung. Aber halten Sie hübsch Balance. Unter uns gesagt, ich möchte Ihnen gern aus dieser Patsche heraushelfen. Sie werden vielleicht umgekehrt nicht ganz abgeneigt sein, auch mir einen Gefallen zu tun, was?«

»Ich danke Ihnen für Ihre liebenswürdige Rücksichtnahme. Ich bin glücklich, daß ich gerade Ihnen begegnet bin, wenn auch unter so unerfreulichen Umständen. Ich will mich nach Kräften bemühen, alles zu tun, was Sie mir gesagt haben, und mich entsprechend zu verhalten.«

» Noblesse oblige«, murmelte Montrose ein wenig müde. »Kommen Sie also in acht Tagen wieder her und berichten Sie mir, was Sie inzwischen erlebt haben.«


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