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Harry Gregory war dicht hinter Audrey. Er hatte Murdock zuerst gar nicht gesehen, als er ihr nacheilte. Gregory hatte nicht mehr daran gezweifelt, daß er jetzt soweit war, von dem seltenen Nektarkelch ihrer Lippen zu trinken, und es kam ihm auch nicht der leiseste Gedanke daran, daß sich ihm ihr verführerischer Mund durch die Flucht entziehen könnte. Als er die Situation begriff, hielt er mitten auf der Treppe inne.
Murdock straffte seine Züge mit seiner unbeugsamen Energie, als Audrey ihn mit einem Freudenschrei erreichte.
»Ach, scher' dich nicht um mich alten Philister,« erklärte er ihr lächelnd, »kümmere dich nur um deine Gäste. Ich wollte nur Gregory sagen, daß ich ihn sprechen möchte, ehe er geht. Aber da ist er ja selber.«
Audrey küßte ihren Vater herzlich. Ihre Gesellschaft war ja sehr schön, aber ihr geliebter »großer Papa« war doch mehr wert als alle Gesellschaften der Welt. Fast empört suchte sie es ihm klar zu machen.
»Komm doch runter, Papachen,« bat sie ihn und zog ihn bei der Hand, »es sind alles so schrecklich nette Menschen. Freddy Carrington mischt die schönsten Schnäpse. Laß doch die Geschäfte für ein paar Stunden. Es wird dir gut tun.«
»Dich vergnügt zu sehen, tut mir besser als alles andere«, gab er ihr strahlend zur Antwort. »Mein Gott, was für eine originelle Idee. Es erinnert mich an die Zeit, als ich das erstemal so gern ein Araberviertel gesehen hätte, Alt-Kairo, auf der Weltausstellung in Chikago! Aber das war lange bevor du auf der Welt warst!«
»Hast du es dir denn nicht angesehen?« fragte Audrey.
»Ach Gott, nein! Extra-Entree? Soviel Geld habe ich nicht gehabt. Aber die Arabermusik habe ich gehört, während ich auf das große Schaukelrad aufpaßte. Mein Geld hat sich gelohnt. Es lohnt sich immer. Heute habe ich alles bei mir in meinem eigenen Hause. Lauf zu, Audrey. Ich will einen Augenblick mit Gregory sprechen. Deine Gäste dürfen ihre Wirtin nicht vermissen!«
Als ihn seine Tochter verlassen hatte, stieg Gregory die Treppe hinauf und stellte sich neben ihn.
»Nur nicht den Grips bei solchen Geschichten verlieren«, sagte Murdock mit einer Geste auf die Szene unter ihm. »Immer hübsch den Kopf behalten, mein Junge. Ich muß dich in einer sehr wichtigen Sache sprechen. Die ›Universal‹-Lieferung muß gemacht werden, du weißt ja. Ich warte im Bibliothekszimmer auf dich. Aber nicht vergessen!«
»Keine Sorge, ich verliere meinen Kopf nicht. Ich komme«, sagte Gregory mit vertrauenerweckendem Lächeln. Er eilte wieder hinunter und suchte nach Audrey, zum höchsten Verdruß von Edith Winthrop. Aphrodite hatte ihren König Tut höchst sorgfältig bei seinem verwandelten Sarkophag abgesetzt, wo er eine neue Mischung für die durstige Bande braute und gleichzeitig seinen Kummer über die Ablehnung seiner fünfzehnten Liebeserklärung an die Dame seines Herzens ertränken konnte.
Aphrodite strahlte, als Gregory in ihre Nähe kam. Aber Gregory war durchaus nicht willfährig. Er ließ sich auf seiner Suche nach Audrey nicht stören. Er fand sie. Halb spielend und doch mit ziemlicher Energie entzog er sie ihrem Partner, einem schlanken »Araber« mit den richtigen Jazz-Beinen und -Füßen, die an Rhythmus der Kapelle nichts nachgaben.
Gregory fand Audrey kühl. Der allzu heiß begehrte Kelch entglitt ihm. Audrey war zwar noch immer höflich und liebenswürdig, aber Pans lockende Flötentöne waren beim Anblick von ihres Vaters Gesicht merklich dumpfer geworden. Edith Winthrops Raubtierblicke ruhten auf den beiden, aber ihr Brand glühte schwächer. Sie fühlte die Veränderung, wenn sie sich auch nicht klar war, warum Audrey sich jetzt so viel vernünftiger benahm. Als sie schließlich ihre Gastgeberin sich von Gregory trennen sah, lächelte sie befriedigt und hörte sogar Freddy zu, der ihr schlucksend einen neuen Heiratsantrag machte.
*
Schutzmann Sanders war inzwischen in die nächste Querstraße eingeschwenkt und passierte den nach rückwärts ziemlich weit vorspringenden Anbau der Murdockschen Villa. Seit vielen Stunden begegnete er hier dem ersten Fußgänger. Eine unerwartete Erscheinung. Von dem Regenschirm des Mannes strömte es wie ein Wasserfall. Sein Regenmantel reichte nicht einmal bis zu den Knöcheln, und seine Schuhe waren völlig durchweicht. Trotzdem schien er keine Miene zu machen, sich irgendwo Schutz zu suchen, ja, er kümmerte sich überhaupt nicht um das Wetter.
Sanders trat näher auf ihn zu. Für einen gewöhnlichen Spaziergänger war dies Benehmen denn doch zu sonderbar. Als er aber seine ersten Blicke auffing, wandelte sich die gespannte Aufmerksamkeit des Schutzmannes in ein verständnisvolles Lächeln. Er hob die Hand an die Mütze.
»Guten Abend, Herr Wachtmeister«, sagte Sanders. »So weit unterwegs heute nacht?«
Roger Warren, Detektiv-Wachtmeister vom Hauptpolizeiamt in der Center Street, gab den Gruß zurück.
»Jawohl, ich bin auf Kontrolle«, sagte er. »Man könnte ein Unterseeboot brauchen. Wie steht's denn auf Ihrer Wache?«
»Alles in Ordnung. Alles ganz ruhig. Nur Kleinkram.« Er begleitete seine Worte mit dem üblichen Griff nach dem Polizeiknüppel, den er unter seinem Wettermantel trug. Zeiten der Ruhe gehen, – wenigstens im Polizeidienst, – meist Zeiten fieberhafter Tätigkeit voran.
Warren wandte seinen Kopf mit einem Ruck zur Seite. Sein rascher Blick hatte etwas aufgefangen. Mit halbgeschlossenen Lidern visierte er. Sanders spitzte ebenfalls wie ein Spürhund und regte sich nicht von der Stelle. Auch er sah, was Warrens Aufmerksamkeit erregt hatte.
Ein Schatten, der tiefer war als die von den gegenüberliegenden Häusern, hing einen Augenblick lang über einem der offenen Hinterfenster des Murdockschen Hauses. Während sie spähten, huschte er nach innen, und das Schiebefenster schloß sich so leise, daß man es bei dem klatschenden Regen überhaupt nicht hören konnte.
Warren flüsterte: »Warten Sie hier. Wenn ich Sie brauche, kommen Sie nach. Ich muß in das Haus, vom Vordereingang aus.«
Wie ein Pfeil schoß er um die Ecke. Der Türschließer öffnete auf sein Klingeln, das im Lärm der Gesellschaft drinnen unterging. Warren wies auf seine Legitimationsmarke und machte ihm ein Zeichen, still zu sein. Mit raschen Sprüngen sprang er die Treppe hinauf in der Richtung des Anbaus. Er nahm mindestens drei Stufen auf einmal. Der Diener wußte nicht recht, ob er ihm folgen sollte oder nicht. Schließlich entschied er sich, es nicht zu tun. Der Mann mochte ein Polizeibeamter sein. Vielleicht. Ganz sicher war er sich nicht. Aber wie dem auch sein mochte, ob sein Eindringen gesetzlich oder ungesetzlich war, soviel war ihm klar geworden, daß der Kerl nicht von der Sorte war, die sich einen Widerstand oder auch nur ein Dazwischenmengen gefallen läßt. Aber ganz abgesehen davon, James Murdock befand sich in seinem Bibliothekzimmer. Der Mann hatte diesen Weg genommen, und er war nicht der erste Besucher, der unangemeldet eintrat, weder Fragen stellte noch Rede stand und ebenso geheimnisvoll wieder verschwand, wie er gekommen war.
*
James Murdock saß tief in Gedanken mit dem Rücken gegen seinen Schreibtisch. Sein Plan war glänzend, ausgezeichnet durchdacht und, wenn er nicht ausgerechnetes Pech hatte, über jeden Verdacht erhaben. Darin lag seine Stärke und der Schlüssel zu seinem Erfolge, sobald er einmal in einer Klemme war. Er war schon des öfteren in einer Klemme gewesen, aber so vorsichtig war er noch nie zu Werke gegangen.
Es war eigentlich ein Glück, daß er bereits eine Ladung Seide bekommen hatte, die noch vor dem welterschütternden Erdbeben in Japan gekauft war. Der einzige wunde Punkt dabei war nur der, daß diese Ware, die bereits den Zoll passiert hatte, keine »Universal«seide war.
Murdock besaß von diesem bekannten und erstklassigen Fabrikat auch nicht ein einziges Stück. Aber er kannte genau seine Maße und die Art des Gewebes. Er wußte, welchen Wert auch nur eine Kiste davon repräsentierte, und er wußte ferner, daß weder der Käufer, an den er » à la Baisse« verkauft hatte, noch die Zollbehörde, noch irgendeine polizeiliche Untersuchungsinstanz in ganz New York würden mit Bestimmtheit angeben können, ob sich zu dieser Stunde in seinem Lagerhaus etwas von dem betreffenden Material befand oder nicht. Er allein und Gregory wußten Bescheid. Und auf Gregory konnte er sich verlassen.
Damit war er finanziell gerettet. Er wußte nur zu genau, wo er sich eines genügenden Quantums der Seide versichern konnte. Er hatte den Fall gerade so weit überlegt, als eine Stimme das schicksalsschwere Schweigen brach. Sie kam hervor hinter den Vorhängen, denselben Vorhängen, auf die er gedankenvoll gestarrt hatte. Sie zitterten.
»Nicht gerührt, Murdock! Keinen Laut! Du hast mich einmal betrogen und hintergangen, Murdock, es war ein schmutziges Geschäft. Aber der Gewinn hat sich gelohnt, was? Du hast ihn genossen, gib es nur zu. Du ganz allein.«
Der Sprecher wurde sichtbar. Die Mündung seines Revolvers starrte tödlich, drohend. Die winzige Öffnung weitete sich vor den Augen des Mannes am Schreibtisch. Sie wuchs und wuchs, als ob ein böser Zauber sie vergrößerte. Murdock wurde sich der Gefahr bewußt. An den verglasten Augen des Eindringlings erkannte er den kalten, grausam boshaften Wahnsinn, den jahrelanges Brüten über eine erlittene Gemeinheit so weit steigert, daß er nichts mehr kennt als den einen und einzigen Gedanken gerechter Rache. Das dürre, ausgemergelte Gesicht des Mannes mit der Waffe verzog sich zu einem unbarmherzigen Grinsen und verriet, daß er Monate und Jahre auf diesen Augenblick gewartet hatte.
Es war wirklich gleichgültig, auf welchem Wege der Kerl ins Zimmer gekommen war. Und wenn eine ganze Polizeimannschaft schon auf dem Wege gewesen wäre, es war zu spät.
Das unbarmherzige Grinsen wurde breiter und breiter. Der Mann mit der Pistole weidete sich an dem entsetzten Blick, dem bleichen Gesicht und den zitternden Nerven seines Opfers. Darauf hatte er gewartet, und noch hatte er Zeit.
»Jetzt ist's aus, Murdock«, sagte er. Er streckte seinen Arm mit schlangenhafter Langsamkeit nach vorn, und sein Finger zuckte am Abzug des Revolvers. Durch das Haus, in dem unten die ausgelassene Gästeschar vor der Leinwandpyramide König Tut feierte, schallte entsetzenerregend ein Schuß hell und scharf über dem Getöse der äthiopischen Jazzkapelle.