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New York hatte seinen Tag hinter sich. Es schlief oder hatte sich sozusagen hinter wasserdichte Schotten geflüchtet, ob es nun kleine Wohnungen waren, geräumige Etagen oder ganze Villen. Der frühe Herbstabend war schon genügend trübselig gewesen, ehe sich die nadelspitzen Regenschauer von den peitschenden Stößen des Nordostwindes ihre wütende Schärfe geliehen hatten.
Die Fifth Avenue streckte sich vom Washington Square bis zur 110. Straße wie eine blanke Lanze und spiegelte sich in ihrem Glanz. Der Widerschein ihrer Lichterkette lief ungehindert von Straßenblock zu Straßenblock. Sie war jedes Lebens bar und bloß, – nur dann und wann surrte ein abenteuerndes Privatauto vorüber oder eine Autodroschke auf ihrer nächtigen Streife.
Schutzmann Sanders, auf seinem Rundgang von der Polizeiwache in der östlichen 76. Straße, mußte sich mit aller Kraft gegen den Wind stemmen, der aus der Querstraße gegen ihn anprallte, als er sich anschickte, von dem polizeilichen Meldetelephon von der Straßenecke aus den vorschriftsmäßigen 10-Uhr-45-Minuten-Anruf zu machen. Der Riegel von dem Telephonkasten klappte zurück, und er hob den Hörer ab. Im gleichen Augenblick flammte an dem bisher trägen Telephonschalter der Polizeiwache blendend eine Lampe auf. Er hörte den Ruck des Stöpsels und machte dem diensttuenden Beamten seine Meldung:
»Hier Sanders! Alles in Ordnung!«
»In Ordnung, Sanders!« antwortete der Beamte mit einem Blick auf die Wanduhr ihm gegenüber und buchte die genaue Zeit des Anrufes.
Immer neue Glühlampen schossen ihre winzigen Signalblitze ohne Rast und ohne Ruh, und jede personifizierte dem Mann am Telephonschalter einen anderen Polizeibeamten in Uniform oder in Zivil; denn Unbill des Wetters gehört zum Dienst, und Dienst ist höchstes Gebot.
So rasch hintereinander wurden die Lampen lebendig, und so rasch erstarben sie wieder nach geschehener Meldung und Antwort, daß der Beamte wirklich nicht mehr den Ruck hören konnte, mit dem Schutzmann Sanders seinen Hörer wieder anhängte. Er schloß den Telephonkasten wieder ab, bog um die Ecke der Fifth Avenue, prüfte die Haustüren und lugte in alle dunklen Gänge, indem er hin und wieder mit seiner Taschenlampe nachleuchtete, um sich mit doppelter Sicherheit zu vergewissern, daß kein nächtlicher Raubvogel Riß oder Spalt fände, in den er den ersten messerscharfen Keil verbrecherischer Arbeit hineintreiben könnte.
Auf halbem Straßenblock hielt er inne.
Er stand vor dem Hause James Murdocks. Die Ausgelassenheit der Musik, die zu ihm herausdrang, traf sein dienststrenges Herz, und in seinem wachen Auge blitzte ein Funke auf. Das wüste Stimmengeschwirr verriet ihm, daß da drinnen eine mehr als heitere Gesellschaft im Gange war. Sanders kannte den Ton. Es zuckte um seine festgeschlossenen Lippen.
James Murdocks Haus, fest wie sein Herr gegen jeden Sturm, woher er auch blies, beherbergte eine eigenartige ausgelassene Gesellschaft, die sich Audrey, seine mutterlose Tochter und sein einziges Kind, zu Gaste geladen hatte. Murdock war ganz der Typ des Geschäftsmannes, dem New York das Mekka ist auf der unentwegten Pilgerfahrt zum Reichtum. Seine Pilgerfahrt war glücklich gewesen und hatte ihm einen so riesenhaften Erfolg gebracht, daß es fast schien, als habe er den unerschöpflichen Goldschatz entdeckt, von dem die Märchen fabeln.
Audrey war auch ein Typ für sich, aber ganz das Gegenteil von ihrem unergründlich liebenswürdigen, schaffenden und raffenden Vater. Sie war noch sehr jung, kaum über das Backfischalter hinaus. Sie war bezaubernd hübsch, aber ohne jede Disziplin, voller Launen, verführerisch und leichtsinnig.
Der Bruchteil der Musik, den der Wind Sanders zugetragen hatte, war nur ein Hauch von den tollenden Klängen einer äthiopischen Jazz-Kapelle. Und diese Kapelle war eigentlich auch nur der Widerhall des jeder Sorge baren Chors dieser Nacht.
Audreys Gesellschaft war eine moderne Spielart eines Bacchusfestes mit pseudo-ägyptischen Kulissen. Das ganze große, elegante untere Stockwerk der Villa war dafür hergegeben. Nach vorn zu war ein breiter Streifen Sand gestreut, und darauf stand eine Leinwandpyramide und eine Sphinx aus Papiermaché. Unmassen von versteckten Glühbirnen gaben der Wüste ihr Licht. Ein nachgemachter Fluß trug eine Nachahmung der Barke Kleopatras, und Audrey selbst repräsentierte mit ihrem Kostüm die historische Königin.
Freddy Carrington hatte diese Idee gehabt. Freddy war die typische Gesellschaftspflanze. Alles, was er zu tun hatte, war, Sachen, die noch nicht dagewesen waren, auszudenken, und mitzumachen. König Salomo in all seiner Weisheit wäre auf keine so ausgefallene Idee gekommen, wie sie Freddys leeres Hirn unter dem Druck der verschiedensten und reichhaltigsten Cocktails destillierte.
Audrey und ihre Gäste standen zu Füßen der Pyramide, umgeben von ägyptischen Ballerinen, die aus dem Pariser Moulin Rouge hätten stammen können, und erwarteten die Eröffnung von König Tuts »Grabkammer«.
Harry Gregory, auch ein Salonheld, aber durchaus kein solcher Narr wie Freddy – er war in Audreys väterlichem Geschäft und Murdocks Kompagnon –, spielte die Rolle eines vielgerühmten englischen Forschers, während eine reiche junge Witwe aus der Gesellschaft, Edith Winthrop, die nichts zu tun hatte, als das Vermögen ihres verblichenen Ehegatten zu vergeuden, der griechischen Mythologie entsprungen war, und zwar im Gewande der »schaumentstiegenen Aphrodite«.
Die äthiopische Orchestermusik glitt hinüber in barbarisch wilde Rhythmen, und Gregory begann die Ausgrabung der Sargkammer des so lang verewigten Sprossen der alten Pharaonen, indem er mit der Hand gegen die eine Pyramidenseite schlug. Schweigen sank herab auf die tolle Gesellschaft, als er anhub: »Ich schreite nunmehr dazu, das Grab des Königs Tut-ench-Amon zu öffnen, meine Herren und Damen!«
Und aus der Pyramide hervor zog er einen riesigen Sarg, der auf Gummireifen lief. Auf dem Sargdeckel aber lag mit einem grotesken spatenlangen Kinnbart und wie gemeißelten Haarlocken Freddy Carrington. Er, der unbestritten tüchtigste unter allen New Yorker Bar-Amateuren, war für diese Nacht König Tut.
Die Tänzerinnen warfen sich zur Erde nieder und erhoben dumpfes Wehklagen ob des unheiligen Frevels. Ein dicker, dunkelgrüner Skorpion schwang sich, emporgeschnellt von einer unsichtbaren Feder, auf Gregorys Nase, und zwickte ihn so natürlich, daß er in ganz echtem, furchtbar komischem Entsetzen zurücktaumelte. Audrey, Edith und die ganze Schar der Gäste und Mitspieler brachen in schallendes Gelächter aus. Dieser Streich war Freddys »geistreicher« Trumpf, denn er konnte Gregory ebensowenig leiden, wie er Mrs. Winthrop gern hatte, die ihrerseits wiederum unverkennbar in Murdocks jungen Kompagnon verliebt war. Freddy kam langsam wieder auf beide Füße zu stehen, sah sich mit höchst ernster Miene um und wartete ab, was Gregory weiter sagen würde.
»O König, mögest du in alle Ewigkeit leben!« rief Gregory.
Die ganze Schar echote die Begrüßung und beugte ihre Knie.
»Wie soll denn ein Mensch in alle Ewigkeit leben, wenn ihr ihn nicht schlafen laßt?« schluckste Freddy. »Wer wagt es, die edle Gruft zu öffnen und den heiligen Weinkeller Ägyptens!? Tut! Tut–Tut. Tu–u–ut, Tututu–tuut! Tut–tuut!«
Freddy schwankte gerade genug, um herrlich stottern zu können.
Jetzt kam Audrey an die Reihe: »Oh, mächtigster aller Pharaonen,« rief sie mit ihrer hellen Stimme, »sage uns, ist dein königlicher Schatz noch unberührt von grabschänderischen Händen?« Und mit mephistophelischem Grinsen erwiderte der Narrenkönig: »Meinst du, daß ich mich dem ausgesetzt hätte bei der Hitze und bei all den verrückten Anti-Alkoholikern? Mein feuchter Schatz ist mit mir begraben. Meine Herren und Damen, ich bitte Sie, von rechts heranzutreten.«
Mit diesen Worten sprang Freddy Carrington auf und klappte sein Totenlager auseinander. Es funktionierte wie ein Patentsofa, nur daß aus der Bahre eine Bar wurde. Sie trug alle möglichen Flaschen und Zubehör und sogar das nötige Eis zum Kühlen. Freddy hatte bereits zwei riesige Silberbecher gefüllt und schüttelte die Cocktails, daß es nur so rasselte. Und immer wieder füllte er sie aus dem Inhalt seines soeben verlassenen Sarkophages, indem er zu den aufpeitschenden Klängen des Jazz den Takt schlug.