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38.
Der Verrückte, sein Opfer und andere

Der »Salpeter-Ede« verließ mit seinem Genossen das Polizeigericht in der 54. Straße und ging – wie es sich sehr bald herausstellen sollte – einer dunklen Zukunft entgegen.

»Ich muß zu meiner Wohnung«, erklärte Chatterton. »Begleite mich ein Stückchen. Ich will die Untergrundbahn nehmen. Aber nun sage mir bloß, wie man dich eigentlich geklappt hat, Ede?«

»Der Warren ist zwischen geplatzt. In Zivil. An der Schmiere und all den anderen vorbei. Irgendwo muß 'n Loch gewesen sein. Der Kerl ist verdammt gerissen. Ich war schon die Feuertreppe wieder 'runter und in meiner Bude, bevor die Jungens anrückten. Hastewaskannste. Die Brillanten habe ich sicher gemacht. Die Schmiere wird sie dir schon bringen. Mach' nur, daß du nach Hause kommst. Aber da muß was nich stimmen. Das beste is, scheint mir, ich mache mich dünne.«

»Aber was denn? Mit fuffzig Tausend Dollar Kaution, Ede? Bleib bei der Stange. Ich werde das Ding schon schaukeln. Was heißt hier sich dünne machen? Dann packen Sie dich glatt und du –«

Mitten in Chattertons Satz packte das Schicksal den »Salpeter-Ede«, ohne viel Aufhebens und mit Hilfe jenes Stoffes, dem er selbst so zugetan war, und der die Seele jeder Ladung Pulver ist. Aus dem Nichts heraus kam eine Kugel, und sie traf den »Salpeter-Ede« »mittschiffs«. Er stürzte zu Boden, einen Schuß in der Magengegend, und zuckte zu Füßen Salomon Chattertons, dessen Schrecken noch durch die Tatsache erhöht wurde, daß er den Schuß nicht gehört hatte.

Der Mörder, der den tödlichen Schuß aus dem sicheren Schutz irgendeines Hauseinganges abgefeuert hatte, schob die schwere Pistole mit dem Schußdämpfer in den noch sichereren Schutz einer tiefen Tasche, verschwand aus der Straße, sprang in eine Autodroschke und ließ sich, so rasch es ging, zur nächsten Hochbahnstation fahren.

»Die ›Haken-Mary‹,« grinste er vor sich hin, »hahaha! Die habe ich verfehlt, haha! Aber wenn ich treffe, treff' ich. Und diesen Esel, den Warren, habe ich hübsch hinters Licht geführt. Hahaha!«

Benny Smart bezahlte das Auto, stieg die Treppe zur Hochbahn hinauf, fuhr ein paar Stationen und nahm dann eine neue Droschke zum »Klub Versailles«. Dort hatte er ein langes Gespräch mit dem »Masken-Micky«.

»Wer sucht, der findet«, ist eine alte, aber darum nicht minder zutreffende Weisheit. Benny Smart hatte einen Revolver mit Schußdämpfer, den die echte »Haken-Mary« auf Gregorys Pult gefunden hatte, an sich genommen und war auf die Suche nach Warrens Gefangener gegangen. Er hatte damit gerechnet, Audrey Murdock bei ihrer Einlieferung in das Polizeigericht des Distriktes, in dem sie verhaftet worden war, zu treffen. Aber vergeblich.

Das Weitere ist hier bereits geschildert worden. Benny Smart hatte nicht im entferntesten daran gedacht, sich irgendwie von dem Racheplan abhalten zu lassen, bei dessen Ausführung sein Stiefbruder Gusset sein Leben hatte lassen müssen.

Der Wahnsinn nimmt die mannigfachsten Formen an. Der Mordwahn macht die von ihm Besessenen halb listig und verschlagen und halb leichtsinnig. Gusset war leichtsinnig gewesen, sein Stiefbruder nicht. Der »Masken-Micky« fand alles, was ihm Benny Smart erzählte, von allerhöchstem Interesse. Ihre Unterhaltung spielte sich während der gleichen Zeit ab, in der sich Warren mit dem Chef der Polizei in der Zentrale besprach. Die Kunde von der Ermordung des »Salpeter-Ede« war noch nicht zu ihnen gedrungen.

Salomon Chatterton hatte in Benny Smarts Hirn einen neuen Mordgedanken aufgerührt. Sein salbungsvoller Alibibeweis für den »Salpeter-Ede« hatte dessen Schicksal besiegelt. Nachdem Benny verzweifelt nach Audrey Murdock Umschau gehalten hatte, war er zu dem Polizeigericht in der 54. Straße gegangen, weil er hoffte, daß sie vielleicht im Zusammenhang mit dem Einbruch bei Edith Winthrop dorthin verbracht worden sei. Und dort erfuhr Benny aus den Erklärungen des Rechtsanwaltes, wie der »Salpeter-Ede« seinen Genossen hinter das Licht geführt hatte. Auch die Geier der Nacht haben ihren Ehrenkodex, und danach war die Handlungsweise, mit der der »Salpeter-Ede« den nichts ahnenden Komplicen in den Tod gelockt hatte, ein todeswürdiges Verbrechen.

Benny Smart hatte Gregorys Revolver. Er wartete auf Audrey Murdock. Gleichzeitig war er entschlossen, bei der ersten Gelegenheit auch Warren über den Haufen zu schießen, von dem er fürchtete, daß er ihn wegen seines mißlungenen Attentates auf Audrey Murdock hinter dem Purpurvorhang im »Klub Versailles« verhaften lassen würde.

Inspektor Montrose wurde also zum Lebensretter Audrey Murdocks dadurch, daß er sie erst ins Gefängnis und dann in eine Zelle in der Hauptpolizei gesperrt hatte. Inspektor Montrose hatte sich für zehn Uhr beim Polizeichef anmelden lassen. Der betreffende Sekretär hatte ihm versprochen, die Zeit für ihn frei zu halten und ihm außerdem die ersehnten Fingerabdrücke und Photographien der »Haken-Mary« herauszulegen.

»Himmelkreuzdonnerwetter,« sagte Inspektor Montrose halb vor sich hin, »was ist denn los mit mir? Das ist doch nicht dieselbe ›Haken-Mary‹, die ich heute nacht in den Fingern gehabt habe? Sind denn das zwei? Was ist denn dem Warren da passiert? Ist er nicht ganz bei Troste? Aber er war doch klar bei Verstande, als er Gregory und Grove festgemacht hat. Die beiden sind unten. Mrs. Winthrop und ein Vertreter der Versicherungsgesellschaft sind bereits unterwegs, um die Juwelen zu identifizieren. Der Kerl hat das Stück blaue Seife tatsächlich bei sich gehabt. Aber, weiß der Himmel, mit dem Frauenzimmer kenne ich mich nicht aus. Diese Person ist das gerissenste und geschmeidigste Geschöpf, das mir je begegnet ist. Wenn sie nicht die richtige ›Haken-Mary‹ ist, dann kann sie es mit ihr zum mindesten an Abgefeimtheit aufnehmen. Ich weiß nicht, wie wir uns da 'rausfinden sollen?«

Inspektor Montrose gab seine Schilderung in allen Einzelheiten. Da Warren noch nicht erschien, studierte der Polizeichef Abschriften der Protokolle von den beiden Verhören, denen Audrey Murdock in der vergangenen Nacht unterzogen worden war. Als er damit fertig war, sah er eine ganze Weile den Inspektor an und erklärte schließlich:

»Man kann diese Mordsache Murdock so und so betrachten. Der eine Gesichtspunkt ist der: Sie und ich kennen uns doch recht gut in New York aus. Wenn uns jemand fragen würde, gäben wir beide, glaube ich, ohne Zögern zur Antwort, daß wir diese ganze Stadt sogar ausgezeichnet kennen. Stimmt's oder stimmt's nicht?«

»Aber ohne Zweifel.«

»Aber trotz alledem, es gibt eine ganze Masse Quadratmeter New-Yorker Bodens, die keiner von uns in all den Jahren seiner Tätigkeit je mit Augen gesehen hat, und genau so liegt es nach meiner Ansicht mit dieser Mordaffäre. Genau so wie wir trotz aller Kenntnis New Yorks eben stellenweise absolut nicht orientiert sind, stehen wir hier in diesem Fall vor Lücken, die weder Sie noch ich auszufüllen imstande sind. Wir kennen eben nicht die Wege, die Audrey Murdock mit dem Revolver verbinden, mit der der ›Mappen-Gusset‹, wie wir zwei als einzige in der Welt wissen, von ihrem Vater erschossen worden ist.«

»Das muß ich zugeben«, meinte Inspektor Montrose.

»Ich kann auch nicht anders. Ich muß es angesichts der Tatsache, die ich vor mir habe. Aber Warren ist ein famoser Detektiv. Ich hätte ihn sonst ganz gewiß nicht mit der Geschichte persönlich betraut. Ich denke, wir überlassen es ihm, die Lücke auszufüllen.«

»Hat er eine Ahnung, daß ich hinter Murdock her bin?«

»Selbstverständlich nicht. Und wir wollen ihm auch nichts davon sagen. Aber der Junge hat einen blitzhellen Kopf. Und zuverlässig ist er und pflichttreu. Weiß der Himmel. Er hat doch wirklich die Murdock verhaftet. Haben Sie mir nicht erzählt, daß sie sich in ihn verschossen hat?«

Montrose lachte vergnügt. »Und wie! Sie hat es mir, ohne daß sie sich recht darüber klar war, heute nacht offen zugestanden.« Er berichtete, wie das Verhör Audreys abgeschlossen hatte.

»Ich habe wirklich Angst gehabt,« fuhr Inspektor Montrose fort, »Warren würde sich in die Person verlieben. Aber er hat's bleiben lassen. Er hat sie verhaftet. Vielleicht hat er sie aber auch erst verhaftet, nachdem er sich in sie verliebt hat. Weiß der Himmel, dieser Fall scheint mir höchst heikel und kompliziert. Aber ich muß das letzte Glied für meine Beweiskette haben.«

»Schön. Wir werden es schon kriegen. Warren soll es uns schaffen, ohne daß er es merkt. Er hat die Person verhaftet. Er muß die Mordfrage auf sich nehmen. Das liegt zunächst jenseits von Ihrer Aufgabe.«

»Sie ist seine Gefangene«, bestätigte Inspektor Montrose mit einem verschmitzten Lächeln.

»Bis beide, ihr Vater und sie, falls sich ihre Schuld ergibt, Ihre Gefangenen werden«, gab der Polizeichef lächelnd zurück. »Aber Warren ist fällig. Ich möchte ihn lieber allein sprechen und der Sache auf den Grund gehen.«

»Ich kann nichts mehr sagen, und wenn Sie mir Ihren Posten anböten«, erwiderte Montrose. »Das einzige, was ich gegen Murdocks Tochter habe, sind die Fingerabdrücke auf dem Revolver. Aber ich kann so wenig beweisen, daß sie sie bereits im Hause gemacht hat, wie ich beweisen kann, daß Murdock die Waffe überhaupt in seiner Villa gehabt hat, als Gusset erschossen wurde. Ich weiß nur, daß die Kugel, mit der Gusset erschossen worden ist, haarscharf in die Waffe paßt.«

Damit verließ er den Polizeichef, dem Warren gemeldet wurde.


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