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Diese »Morgenparade«, die den wirklich Unschuldigen nicht im mindesten zu beängstigen braucht, hat sich im Laufe der Jahre als unerläßlich für den New Yorker Kriminaldienst herausgestellt. Morgens punkt halb zehn Uhr müssen alle, die wegen eines Verbrechens verhaftet oder unter Verdacht festgenommen sind, antreten. Einer nach dem anderen muß auf ein kleines Podest treten und wird von einem scharfen Scheinwerfer beleuchtet. Die verschiedenen hundert Beamten des Kriminaldienstes können die Häftlinge auf diese Weise beaugenscheinigen. Sie sehen dabei nicht nur die Personen, die sie selbst verhaftet haben, sondern auch die Häftlinge ihrer Kollegen. Jeder Detektivbeamte ist bei dieser Prozedur maskiert, eine Vorsichtsmaßregel, die ihn der Gefahr überheben soll, von einem Verbrecher in Zukunft wiedererkannt und gemieden oder gar getötet zu werden.
Man hatte Yates natürlich weder gesagt, daß man ihn nach seinem Daumenabdruck identifiziert hatte, noch hatte man ihm verraten, daß sein einstmaliger Komplize in der gleichen Nacht erschossen worden war. Alles, was Yates wußte, war, daß Detektivkommissar Roxey, der Leiter des Zentralbureaus, und Inspektor Harlan vom Erkennungsdienst bei der »Parade« anwesend sein würden. Für Yates waren das nur zwei Namen, allerdings Namen von höheren Beamten, aber das war auch alles. Er kannte weder ihre Titel, noch wußte er, welche Obliegenheiten sie hatten.
Yates wurde einer besonders gründlichen, stillschweigenden Untersuchung von seiten eines jeden Kriminalbeamten unterzogen. Auch Detektiv-Wachtmeister Warren war zugegen, ebenso maskiert wie die anderen. Warren kannte Yates nicht.
Inspektor Harlan stellte seine Fragen an Yates:
»Sind Sie bereits früher einmal in Haft gewesen?«
»Jawohl.«
»Wann und wo?«
»Vor zwölf Jahren. Es muß in Ihren Akten stehen.«
»Weswegen?«
»Beteiligung an einem Überfall auf einen Kassenboten.«
»Jawohl.«
»Gesessen?«
»Jawohl, fünfeinhalb Jahre Zuchthaus.«
»Außerdem?«
»Nichts.«
»Sie sind heute nacht verhaftet worden?«
»Jawohl.«
»Wegen Verdachtes, an einem Seidenraub auf dem Hudson teilgenommen zu haben, nicht wahr?«
»Ich habe keine Ahnung, warum man mich verhaftet hat.«
»Hat man Ihnen nicht gesagt, daß Sie wegen Beteiligung an einem Verbrechen festgenommen sind?«
»Die Beteiligung an dem einzigen Verbrechen, das ich in meinem Leben begangen habe, habe ich abgebüßt«, erwiderte Yates mit einer erstaunlichen Gleichgültigkeit. »Soll ich jetzt meine Schuld vielleicht noch ein zweites Mal büßen? Wenn Sie Beweise für Ihren Verdacht haben, bitte ich, mich unter Anklage zu stellen.«
Man kümmerte sich nicht weiter um Yates grimmige Blicke. Die Untersuchung nahm ihren Fortgang, ungestört und unbarmherzig.
»Sie sagten vorhin, Sie wären verurteilt worden wegen Teilnahme an einem Überfall auf einen Kassenboten?«
»Jawohl.«
»Wer war sonst noch daran beteiligt?«
»Nur ein einziger Mensch.«
»Können Sie sich auf seinen Namen besinnen?«
»Jawohl.«
»Wollen Sie ihn mir nennen?«
»Bernard Gusset. Wir nannten ihn ›Mappen-Gusset‹.«
»Wieviel hat er bekommen?«
»Zehn Jahre.«
»Ist er aus dem Zuchthaus raus?«
»Das weiß ich nicht. Ich bin dreiundeinhalb Jahre vor ihm herausgekommen. Wie soll ich das wissen? Sie wissen ja selber, daß ich ihm keine Briefe schreiben konnte, wo man meine Handschrift im Zuchthaus kennt.«
»Die Geschichte heute nacht – – –«
»Verzeihung. Ich bestehe auf meinem Recht als Staatsbürger. Ich verlange, daß ich meinen Rechtsbeistand zuziehen darf. Es scheint mir noch überhaupt nicht raus zu sein, ob ich zu Recht verhaftet bin.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Was ich sagen will? Ich bin mit einem Freund fischen gefahren. Das ganze Fischzeug war ja im Boot. Ich habe das Recht, fischen zu gehen. Ich hatte auch das Recht, das Boot zu benutzen. Wir waren halbwegs auf dem Fluß, soviel ich weiß, als irgendwer auf uns schoß. Ich ging natürlich über Bord. Etwas Geld hatte ich ja bei mir. Der Hudson ist schließlich doch voll von Halunken. Konnte ich wissen, wer auf uns schoß? Wenn ich hätte warten wollen, bis ich's erklärt bekam, schwämme ich jetzt im Hudson mit 'nem Taschenkrebs an jedem Ohr. Mehr habe ich nicht zu sagen. Aber ich verlange, meinen Rechtsanwalt zu sprechen.«
»Wer ist Ihr Rechtsanwalt?«
Yates gab den Namen eines Mannes, der sehr oft im Polizeigericht erschien. Es gab Polizeigefangene, die ihn bezahlten, aber gewöhnlich bevorzugten ihn die, die nichts hatten, denn er übernahm ihre »Fälle« ohne Gebühren –, wenigstens ohne Gebühren von ihnen direkt.
Yates wurde nunmehr in seine Zelle zurückgebracht. Die Kriminalpolizei erkannte sofort aus seinem ganzen trotzigen Benehmen, daß seine Angaben wohlpräpariert waren. Es bestand kein Zweifel, daß ihn die Verteidigung gegen eine Kaution frei bekommen würde, wenn man ihn ohne eklatantere Beweise in Haft zu halten versuchte. Man war sich auch klar darüber, daß die Beschaffung einer solchen Kaution mittlerweile bereits im Gange war. Man wußte, daß Yates seine Chancen kannte, als er sich dazu hergab, das wagehalsige und doch für seine Begriffe harmlose Geschäft des Überfalls auf den Kapitän des Schleppers zu besorgen. Und man wußte nicht minder, daß sich das Geschäft für ihn reichlich gelohnt haben mußte. Irgendeiner der Rechtsanwälte würde natürlich beim Besuch anderer Gefangener auch von der Verhaftung Yates' erfahren, und so würde sein eigener Anwalt sehr bald erscheinen, um sich Gewißheit zu verschaffen und seinen Klienten zu sehen verlangen.
Kurz und gut, die Kriminalpolizei war sich all der Dinge wohl bewußt, die Yates den Rücken steiften. Man hegte nicht den geringsten Zweifel an der Tatsache, daß man den richtigen Mann gefaßt hatte, aber ebenso sicher schien es, daß sich irgendwo in New York unter den fünf Millionen Menschen derjenige befand, der den eigentlichen Profit aus diesem jüngsten, riesenhaften Warenraub einheimste. Aber es wäre ein hoffnungsloser Versuch gewesen, den »Drahtzieher« dieses und gewiß noch zahlreicher anderer Kapitalverbrechen durch ein weiteres Verhör Yates ausfindig machen zu wollen. Daß die Ausführung der verschiedensten Räubereien in der letzten Zeit einen gemeinsamen Ursprung haben mußte, bewies die absolute Gleichheit mancher Momente.
Roger Warren kannte Yates nicht. Bekannt war ihm lediglich die Tatsache, daß Yates' ehemaliger Komplize der Mann war, den er in der vorangegangenen Nacht in der Villa Murdocks erschossen hatte.
Als er die Tatsache eines Seidenraubes erwähnen hörte, traf es ihn wie ein elektrischer Schlag. Daran waren nicht nur seine Gedanken an das junge Mädchen schuld, das ihm gestern abend seine Wunde verbunden hatte, auch nicht das Wort »Seide« allein, wohl aber seine Erinnerung an zwei Gesichter, die sich ihm eingeprägt hatten, als sein Blick die »ägyptische« Gästeschar bei seinem Eintritt in das Murdocksche Haus gestreift hatte.
Und eines dieser beiden Gesichter war das Harry Gregorys. Warren fragte sich trotz aller äußeren Unwahrscheinlichkeit, ob nicht Gregory der langgesuchte Kopf der Bande sein könnte, der eine ganze Fülle von Verbrechen zuzuschreiben war. Damen der Gesellschaft waren ihrer Juwelen im Werte von Hunderttausenden von Dollars beraubt worden, vornehme Klubs, in denen gespielt wurde, Kassenboten und Angestellte bedeutender Firmen mit beträchtlichen Lohnbeträgen waren angefallen worden. Schwere Einbrüche in Geschäften und das »Aufknacken« von Geldschränken mit dem kompliziertesten Mechanismus und besonderen Alarmsignalen bewiesen, daß nur »Kenner« ihre Hand dabei im Spiele haben konnten.
Warren begab sich eilends zu der Zelle, in der Yates wenigstens für die achtundvierzig Stunden, bis die Kautionsangelegenheit geregelt sein würde, sitzen mußte. Er band sich wieder seine Maske vor, trat an die Tür und rief:
»Kommen Sie mal her, Yates.«
Der Untersuchungsgefangene schritt gemächlich zur Tür.
»Sie werden vermutlich bald wieder hier rauskommen,« erklärte Warren ganz offen, »ich wüßte nicht, woraufhin man Sie hier festhalten könnte.«
»Das ist mir nichts Neues.«
»Ich habe Sie nicht verhaftet. Ich habe persönlich nicht das geringste Interesse daran, ob Sie hier sind oder nicht. Ich möchte nur gern ein paar Sachen über den Gusset hören.«
»Ich bin kein Spitzel!« gab Yates wütend zur Antwort.
»Wenn ich das nicht wüßte, hätte ich mir den Weg erspart. Ich wollte Sie bloß ein paar Sachen fragen. Diese alte Geschichte, die ist doch klipp und klar erledigt? Na also. Aber Gusset hat's erwischt heute nacht. Aus. Er muß halb verhungert gewesen sein, sonst hätte er das Ding nicht gedreht. Na, ihr beide seid doch damals gefaßt worden. Habt eure tüchtige Ladung abgekriegt. Aber Sie haben doch die Sache nicht selber gemacht. Sie haben doch Gusset bloß geholfen. Er hat die Pinke bekommen. Ist ins Kittchen gekommen und eben erst wieder raus. Aber er muß doch keinen roten Heller mehr gehabt haben. Wo ist denn die ganze Pinke hingekommen?«
»Ich hab' mein Teil bekommen. Das habe ich auch vor Gericht zugegeben. Im ganzen ein lumpiger Tausender. Gusset hat seins auch bekommen, fünf, glaube ich. Aber das Rindvieh hat das meiste davon so einem Rechtsverdreher in den Rachen geschmissen, damit er ihn rauspauken sollte. Ich hab' ihm gleich gesagt, daß er keine Chance hätte. Wer den Rest bekommen hat, weiß ich nicht. Wir haben ja beide bloß das Ding gefingert. Wir beide waren nur gekauft für die Sache, und wenn Sie mich nach meiner Ansicht fragen, dann sage ich Ihnen, daß unser Mann auch bloß gekauft war. Kapiert?«
»Natürlich. Haben Sie Beweise dafür?«
»Wie kann ich denn? Es war ja doch ein glattes Geschäft. Ich habe die Tasche keine zehn Minuten in den Fingern gehabt. Ich hab' sie weitergegeben. Dazu war ich denn doch zu schlau, um damit auszurücken. Und warum? Weil ich selber 'ne Kugel in 'n Bauch gekriegt hätte. Und der nächste hat die Tasche auch bloß weitergegeben. Den, der die übrigen vierzig von den fünfzig Tausenden in die Finger bekommen hat, den hat keiner von uns zu Gesicht gekriegt. Aber fünfundeinhalb Jahr Kittchen für einen lumpigen Tausender war ein bißchen viel. Ich sage: danke schön. Ich hab's büßen müssen. Ich bin fertig mit der ganzen Geschichte. Und darum will ich hier wieder raus!«
»Ich will ein gutes Wort für Sie einlegen, Yates. Haben Sie keine Bange.«
Warren verließ ihn und begab sich unverzüglich in das Amtszimmer des diensttuenden Kriminalinspektors, der schon auf ihn gewartet hatte; denn der Polizeichef hatte nach ihm verlangt.
Der Chef saß an seinem Pult. Vor ihm lagen der Rapport, den Warren über die Vorgänge in der Murdockschen Villa gemacht hatte, und ein ergänzender, vertraulicher Bericht von Distriktsinspektor Montrose.
»Nehmen Sie Platz, Warren«, sagte der Chef.
»Ich muß Sie etwas fragen. Halten Sie folgendes für möglich?«
Warren beugte seinen Kopf immer weiter vor und ließ sich kein Wort entgehen. Was er hörte, war für ihn von allergrößter Bedeutung.
»Es gibt nichts in der Welt, was zu merkwürdig wäre, um wahr zu sein«, meinte sein Gegenüber.
»Ganz gewiß«, erwiderte Warren ohne Zögern. »Ich glaube nicht nur, was Sie da eben sagten, sondern ich bin überzeugt davon.«
Er dachte an Audrey Murdock, an seine Wunde, an das Stückchen Seide, mit dem sie seinen Arm verbunden hatte, und dachte vor allem an das unheimlich genial verbrecherische Gesicht des Mannes, den er für all die verschiedenen Verbrechen für verantwortlich hielt. Er hatte keine Ahnung davon, daß er Gusset in Wirklichkeit gar nicht getötet hatte, und er hatte noch weniger eine Ahnung davon, daß der Mann, der ihm jetzt eben seine Fragen gestellt hatte, darüber bereits Bescheid wußte. Und noch viel weniger konnte er wissen, daß der luchsäugige Inspektor Montrose dem Polizeichef ein paar Worte gesagt hatte, die nicht in seinem offiziellen Bericht Platz gefunden hatten.
Auch davon hatte er keine Ahnung, daß er beim Verlassen dieses Raumes das restloseste Vertrauen der höchsten Beamten der Kriminalpolizei mit sich trug, und daß er ebenso um jener wenigen Worte Inspektor Montroses willen unter all seinen Kollegen dafür ausersehen worden war, einen Fall zu lösen, der unlösbar geschienen hatte.
Er wußte nicht mehr, als daß der Chef vielsagend lächelte, sich seine Zigarre anzündete und, in seinen Sessel zurückgelehnt, sagte:
»Na, nun erzählen Sie mir mal, was sich gestern in der Villa Murdock alles begeben hat. Inspektor Montrose hat mich mehr als neugierig gemacht.«