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21.
Ein Geniestreich

Roger Warren rief sofort James Murdock an und teilte ihm mit, daß er ihm die Geschäftspapiere zurückbringen würde. Murdock wartete in seinem Bureau auf ihn. Die »Haken-Mary« geleitete ihn zur Tür, aber Warren zollte ihr scheinbar keine größere Aufmerksamkeit, als man sie eben einer Angestellten zu erweisen pflegt, die in so unmittelbarer Nähe ihres millionenschweren Chefs beschäftigt ist. Mit einem Lächeln händigte er seinem Gegenüber das Material aus. Das Lächeln galt dem abwesenden Gregory. Warren wußte ja jetzt einwandfrei, daß Gregory ein Halunke war.

»Es war wirklich gut, daß ich das Zeug mitgenommen hatte,« sagte er zu Murdock, »es hat mir in der Kriminalabteilung außerordentlich bei der Feststellung genützt, daß James Murdock ein ehrlicher Geschäftsmann und kein Dieb ist. Ich danke Ihnen ganz besonders dafür.«

Diese Worte enthielten den stärksten Schlag, den Murdock je in seinem Leben erhalten hatte. Wenn man ihm gesagt hätte, daß er ein Dieb sei, hätte er nicht mit der Wimper gezuckt. Dazu steckte er schon viel zu lange in diesem Beruf. Er hatte sich nicht umsonst mit aller Energie darauf trainiert, keine Muskel zu verziehen, wenn man ihn wegen Anstiftung oder Teilnahme an irgendeinem Verbrechen beschuldigen sollte, ja selbst nicht, wenn man ihn auf frischer Tat abfassen würde.

Aber in diesem Augenblick war er doch so überrascht worden, daß er zusammenzuckte. Aber als der vollendete Schauspieler, der er nun einmal war, wußte er die Sache zu seinen Gunsten zu drehen. Er schob mit einem raschen Ruck Warren ein Telegramm hin, das von einem Mitglied des Senats in Washington, einem gewissen Overton I. Sylvanus, dem Vertreter eines der mittleren Weststaaten, unterzeichnet war. Es war aus Washington selbst datiert und im Telegraphenbureau des Kapitols in der gleichen Morgenstunde aufgegeben, in der Warren seinen ersten Besuch in der Murdockschen Firma gemacht hatte. Es lautete:

»Erwarte dich baldmöglichst hier zwecks Besprechung.«

Warren reichte es Murdock zurück. Senatoren der Vereinigten Staaten pflegen in der Regel keine Besprechungen mit Seidendieben abzuhalten. Dieser Umstand bekräftigte seine ursprüngliche Auffassung von Murdocks Ehrenhaftigkeit, die durch die Liebe zu seiner Tochter noch verstärkt wurde. Aber gleichzeitig bekräftigte sich dadurch auch sein ursprünglicher Verdacht gegen Gregory.

Murdocks nunmehr folgende, höchst geschickte Worte taten das Weitere. Sie waren rasch, scharf und bestimmt, wie sie sich für einen Mann von so weittragenden Geschäften geziemten. Außerdem sollten sie natürlich dazu dienen, den eben bewiesenen Mangel an Geistesgegenwart wieder wettzumachen.

»Sie haben mir das Leben gerettet, Mr. Warren«, erklärte Murdock. »Dafür bin und bleibe ich Ihr Schuldner. Auch Audrey fühlt sich dafür tief in Ihrer Schuld. Sie hat es mir ausdrücklich gesagt. Sie hat für Sie die allergrößte Bewunderung. Ich habe sie niemals mit solcher Hochachtung von einem Manne reden hören. Was Sie da eben gesagt haben, hat mich ehrlich betroffen gemacht. Sie konnten ja nicht ahnen, daß ich gerade daran dachte, Sie um einen Gefallen zu bitten, einen fast noch größeren Gefallen, als den Sie mir erwiesen haben, als Sie mir das Leben retteten.«

Warren war vollkommen konsterniert, aber er verlor den Kopf nicht. Murdock stand auf und schloß vorsichtig die Tür.

»Dies Telegramm«, er wies mit dem Kopf darauf hin, »ist für mich von allergrößter Bedeutung. Senator Sylvanus und ich sind alte gute Schulkameraden, und unsere Freundschaft ist stets die gleiche geblieben. Ich habe ihm früher schon einmal behilflich sein können. Das war, als er seine politische Laufbahn gerade begonnen hatte. Jetzt bittet er mich wieder, nach Washington zu kommen. Ich kann es ihm unter keinen Umständen abschlagen. Das ist der Punkt, der mich bekümmert.«

Wieder machte Murdock eine kleine Pause. Und wieder, wenn auch nur für einen Augenblick, stand der junge Detektiv vor einem Rätsel.

»Ich habe den Kerl nicht gekannt, der vorgestern in mein Haus eingedrungen ist«, fuhr Murdock fort. »Audrey meinte schon in der gleichen Nacht, daß sie nicht glaubte, es wäre ein gewöhnlicher Einbrecher gewesen. Sie ist der festen Überzeugung, daß er mich hat töten wollen. Ich habe ihr gesagt, daß ihre Nerven überreizt wären. Sie hat das heftig bestritten. Je mehr ich mir die Geschichte überlege, um so mehr komme ich zu der Überzeugung, daß sie nicht so ganz unrecht gehabt haben mag. Der Kerl ist gekommen, um Geld von mir zu erhalten. Aber vielleicht hat er doch noch ein anderes Motiv gehabt, denn ich habe fast niemals bares Geld bei mir. Ich habe keine blasse Ahnung, wer der Mann gewesen ist. Ich kenne auch seine Vergangenheit nicht. Das einzige, was ich von ihm weiß, ist, daß er Geld von mir gefordert hat, daß er mich mit Flüchen überhäufte, weil ich reich sei, und – – ich erinnere mich jetzt genau an eine Äußerung, auf die ich mich zuerst absolut nicht besinnen konnte. Sie erinnern sich vielleicht noch, wie mich Inspektor Montrose danach fragte?«

Warren nickte.

»Der Kerl sagte wörtlich: »Murdock, Sie sind reich. Sie sind immer reich gewesen und haben Ihr Geld genossen. Sie allein!« Diese Worte hat er gebraucht, das kann ich unbedenklich beschwören. Heute wundere ich mich natürlich darüber, wieso der Kerl überhaupt meinen Namen wußte, und wieso er überhaupt gerade auf mich verfallen ist. Aber das hat an sich keine Bedeutung. Ich erwähne es auch nur, weil es mit dem zusammenhängt, was ich Ihnen jetzt auseinandersetzen möchte. Was ich Ihnen jetzt sage, Warren, beweist mein restloses Vertrauen zu Ihnen. Ich würde es nicht einmal meinem Kompagnon Gregory anvertrauen.«

»Das weiß ich zu schätzen.«

»Schön. Die Sache betrifft nicht mich persönlich. Sie betrifft Audrey. Ich kann sie unmöglich mit nach Washington nehmen. Es ist ja nur eine Spritztour. Außerdem würde sie sich sicherlich nichts aus der Reise machen. Wenn nun jemand irgendwelche bösen Absichten gegen mich gehegt hat, und wie möglich das ist, wissen Sie ja besser als ich, wer kann dann wissen, ob nicht irgendeiner von den Komplizen dieses Mannes, den Sie ja erschossen haben, meiner Tochter nach dem Leben trachten wird, sobald ich fort bin. Die Rache geht manchmal die merkwürdigsten Wege.«

»Jetzt wissen Sie,« fuhr Murdock fort, »wo ich hinaus will. Ich könnte mich ja natürlich auch an Gregory wenden. Unter uns gesagt, Gregory ist ein außerordentlich fähiger junger Mann. Allerdings, wenn ich ihn nicht sozusagen aus der Gosse geholt hätte, stünde er heute nicht da, wo er steht. Ich habe sofort erkannt, der Junge hat Möglichkeiten, und ich habe richtig spekuliert. Er hat sich gut gemacht im Geschäft. Er ist wirklich ein sehr fähiger junger Mensch. Ich kann mich ihm unbesehen anvertrauen. Aber Gregory hat während der Geschäftszeit alle Hände voll zu tun, und vorher oder nachher will er gern sein eigener Herr sein. Außerdem ist er wie so viele junge Leute, die sich hochgearbeitet haben. Er ist nicht von dem Schlage, von dem wir Geschäftsleute vor zwanzig, dreißig Jahren gewesen sind. Die ganze Generation ist schließlich heute nicht mehr so, mit ein paar Ausnahmen natürlich. Ich will Gregory gewiß nichts Böses nachsagen, aber in einem Falle, wo es sich um Audrey handelt, möchte ich doch gern doppelt vorsichtig sein.«

Murdocks Stimme senkte sich zu einem Flüstern.

»Ich habe Gregory bereits gesagt, daß ich ihn keinesfalls zum Schwiegersohn haben möchte. Ich habe es ihm unumwunden ins Gesicht gesagt. Er hat eine Schwäche für Audrey. Aber Audrey kann ihn nicht ausstehen. Also möchte ich sie natürlich nicht seinem Schutze anvertrauen, während ich fort bin. Darf ich Sie nun fragen, ob Sie sich in den paar Tagen nach Möglichkeit um sie kümmern wollen? Sie hat inzwischen ja auch Ihre Mutter kennengelernt. Sie hat dieselbe Sympathie für sie wie für Sie, Mr. Warren. Wie stellen Sie sich zu meinem Vorschlag?«

Warren schüttelte Murdock ohne Zögern die Hand. Auf diese Weise waren seine Möglichkeiten, mit Audrey zusammengekommen, höchst willkommen vergrößert. Außerdem stand die Erfüllung von Murdocks Wunsch durchaus im Einklang mit seinen übernommenen Pflichten als Kriminalbeamter. Von Murdock war es darum ein nicht minder großer Geniestreich. Der fähige, entschlossene, sonst so kluge junge Detektiv konnte ja nicht im Traume darauf verfallen, daß er sich in allernächster Nähe des »Drahtziehers« befand, den aufzuspüren und dingfest zu machen, er sich zum Ziele gesetzt hatte.

Er konnte so wenig darauf kommen, wie Senator Sylvanus, dessen telegraphische Bitte an Murdock, nach Washington zu kommen, nur eine Antwort auf einen Brief Murdocks war, ahnen konnte, daß sein Freund auf dem Wege zum Gipfel seiner »geschäftlichen« Karriere begriffen war. Wie einst der große Alexander wollte Murdock mehr als nur eine Welt erobern. Ihm galt es, einen gewaltigen verbrecherischen Streich zu führen, einen Streich, der ihm in seinem Berufe den gleichen Titel des Genies sichern sollte, den man den Finanzgrößen des Landes zusprach, die weltumspannende Eisenbahnen geplant und gebaut, Gebirge zerklüftende Minen angelegt oder sonst irgendwelche Leistungen von ähnlicher Monumentalität vollbracht hatten.

Murdocks Eitelkeit kannte keine Grenzen. Er machte ihr mit der gleichen Leichtigkeit einen Senator dienstbar, wie er um ihretwillen einen »Dummkopf« von Detektiv ausnutzte.

»Würden Sie wohl heute nacht bei uns draußen sein können?« fragte er Warren. »Ich will heute nachmittag für ein paar Stunden auch noch hinausfahren. Aber ich muß sehr bald wieder zur Stadt zurück, denn ich will den Zwölf-Uhr-Zug nach Washington erreichen. Raum haben wir genug. Mrs. Winthrop wird als Audreys ›Ehrendame‹ fungieren.«

Ganz beiläufig erwähnte Murdock auch noch, daß Gregory vermutlich mit ihnen zusammen essen würde, was für Warren den Ausschlag gab. Er wollte sich nur noch die offizielle Erlaubnis zum Verlassen des Stadtgebietes holen.

Warren rief das Hauptpolizeiamt nicht von Murdocks Geschäft aus an. Er fürchtete doch, daß »Haken-Mary« Mallory den Versuch machen könnte, sein Gespräch irgendwie zu überhören. Er berichtete dem Polizeichef persönlich, was sich ereignet hatte, und bekam selbstverständlich die erbetene Erlaubnis.

Der Polizeichef wandte sich darauf wieder zu Inspektor Montrose, der gerade wieder bei ihm war. Die beiden ventilierten die Frage, ob es nicht ratsam wäre, Murdock sofort in Haft zu nehmen.

»Ich muß die Waffe haben,« erklärte der Inspektor, »ich nehme an, daß sie sich in seinem Bureau befindet. Wenn ich ihn aber verhafte und der Revolver findet sich nicht, dann bin ich mein bestes Beweisstück los. Wie denken Sie darüber?«

»Ich stehe auf dem Standpunkt, daß er heute noch nicht zur Verhaftung reif ist. Lassen Sie ihn getrost nach Washington fahren.«

»Ich habe ein bißchen Angst, daß er uns auskneift. Solch kluger Vogel ist zu allem imstande. Ich habe ihn bisher auch nicht aus den Augen gelassen,« fügte er mit grimmigem Lächeln hinzu, »seit die Kugel gefunden ist, bewachen zwei meiner Leute seine Villa. Auf seinen Wegen zum Geschäft folgen ihm auch zwei. Sie stehen jetzt gerade vor dem Geschäftshaus.«

»Lassen Sie sie mit ihm zusammen nach Washington fahren«, schlug der Polizeichef vor. »Warren hat mir gerade gesagt, daß Murdock den Zwölf-Uhr-Zug nimmt. Ihre Leute können sich ja heute nachmittag in aller Ruhe die Schlafwagenplätze besorgen und vor ihm im Zuge sein. Sie können sich auch Plätze im Rauchwagen nehmen, ohne daß er merkt, mit wem er zusammen ist. Lassen Sie den einen Murdock bitten, ihm ein Hotel zu empfehlen. Das ist der beste Anknüpfungspunkt.«

»Eine glänzende Idee«, erklärte Inspektor Montrose zustimmend. »Ich werde doch noch mit der Verhaftung warten.«

Auch das Verbrechergenie kann nicht auf jede Kleinigkeit bedacht sein. Die Ausführung seiner Pläne im großen verschlingt reichlich geistige Kraft. Die Kriminalpolizei machte sich in gewissem Sinne Murdocks eigenes Prinzip zunutze. Sie besorgte das Denken an Kleinkram für ihn.


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