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41.
Vom Bekannten zum Unbekannten

Für gewöhnlich pflegen sich die Inspektoren der New-Yorker Kriminalpolizei nicht damit abzugeben, persönlich die Spuren irgendwelcher Verbrechen zu verfolgen, die sich in ihren Distrikten und sozusagen in ihrem Hoheitsgebiet abspielen. Aber sowohl Inspektor Montrose wie Inspektor Raynor sahen sich genötigt, ihre ganz persönliche Aufmerksamkeit der Tötung des »Mappen-Gusset«, dem Einbruch bei Mrs. Winthrop und der darauf erfolgten Ermordung des »Salpeter-Ede« zuzuwenden.

Da beide letzten Endes die Verantwortung für die Vorgänge in ihren Bezirken trugen, und da sie beide nun einmal persönlich mit den zwei ersten Verbrechen in Berührung gekommen waren, mußten sie schließlich konsequenterweise, entweder selbst oder mit Hilfe besonders tüchtiger Unterbeamter trotz aller Schwierigkeiten, Enttäuschungen und unablässigen Verschiebungen der Situation die noch so dürftigen Spuren verfolgen.

Montrose hatte seine Spuren. Aber sie waren recht unvollständig. Infolgedessen war er den Punkten nachgegangen, die ihm zunächst sehr viel versprechend erschienen waren, und hatte die vermeintliche »Haken-Mary« gründlichst verhört.

Aber der Vergleich der Fingerabdrücke hatte seine Hoffnungen zerschlagen. Montrose schaltete also die ganze Audrey-Murdock-Episode aus seinen Berechnungen aus, ohne dabei auch nur einen einzigen Augenblick seine Aufmerksamkeit von James Murdock abzulenken.

»Himmelkreuzdonnerwetter«, sagte er zu sich selbst, als er die Photographie der echten »Haken-Mary« in die Hand nahm. Er war durchaus nicht wütend, sondern im Gegenteil hocherfreut; denn er erkannte im ersten Augenblick, daß es die Photographie der Person war, mit der er in Murdocks Bureau gesprochen hatte.

»Das nenne ich Glück. Jetzt werde ich ihn doch unter Dach und Fach bringen. Ich dachte schon, ich säße fest. Aber wenn ich ihn jetzt nicht erwische, dann quittiere ich meinen Dienst und fange mein Leben von vorn an.«

Montrose begab sich nach unten in Kommissar Roxeys Bureau. Er hörte von ihm, daß bisher keine Nachricht von der Rückkehr James Murdocks nach New York eingelaufen wäre, obwohl ein ganzes Korps Kriminalbeamter mit der Bewachung sämtlicher Ankunftsstellen der Stadt beauftragt sei.

»Aber ich habe seinen Kompagnon Gregory«, fügte Roxey befriedigt hinzu. Er berichtete ihm von der Verhaftung Harry Gregorys und »Brownie Joe Goodmans« durch Inspektor Raynors Leute in der Wohnung Salomon Chattertons.

»Fein,« erklärte Montrose, »das wird mir weiterhelfen. Haben Sie zufällig ein paar Platzpatronen, die in eine 7,50-Selbstladepistole passen? Sie müssen aber ganz echt aussehen. Sie müssen auch explodieren, wenn mit der Waffe geschossen wird, wenn ich auch nicht möchte, daß jemand dadurch zu Schaden kommt. Ich denke, so ein paar Platzpatronen auf Aluminium angepinselt, werden genug Krach und Qualm machen, daß man sie von einer echten Patrone nicht unterscheiden kann, was?«

Roxey hatte keine zur Hand, aber binnen einer Stunde waren sie von geschickten Handwerkern der Kriminalabteilung hergestellt. Sie glichen täuschend echten Patronen, obwohl sie vor dem Aluminiumanstrich ebensogut als Bleistifte in James Murdocks Bureau hätten Verwendung finden können.

Montrose nahm vorsichtig die scharfen Patronen aus dem Revolver Murdocks, der noch immer den Schußdämpfer trug, und ersetzte sie durch die Platzpatronen. Nachdem er von drei verschiedenen Beamten noch einmal Fabriknummer, Modell und Kaliber der Waffe hatte kontrollieren lassen, nahm er sein Amtsauto und fuhr zu der Seidenfirma Murdock & Co. Er kam dort ungefähr zu der gleichen Zeit an, in der Gregory auf freien Fuß gesetzt wurde.

Inspektor Montrose begrüßte die echte »Haken-Mary«, der er verständnisinnig zulächelte.

»Ich komme, um Ihnen die Pistole wiederzubringen«, sagte er, als sie sich in Murdocks Privatbureau befanden und die Tür hinter sich geschlossen hatten. »Ich habe sie auf der Polizei gehabt. Aber Mr. Murdock hat einen ordnungsgemäßen Waffenschein für den Revolver. Ich befand mich deswegen im Irrtum. Also wollte ich ihn Ihnen lieber zurückgeben. Tun Sie ihn nur ruhig wieder in den Schreibtisch zurück, als ob ich gar nicht hier gewesen wäre. Das geht ja doch keinen Menschen was an, was? Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß!«

Mrs. Mallory seufzte erleichtert auf, als sie den Revolver in die Schieblade zurücktat.

»Wirklich?« fragte sie. »Sie sind so freundlich zu mir gewesen, daß ich mein Versprechen bestimmt gehalten hätte, aber ich hätte doch Angst, daß mir was passieren würde, wenn Mr. Murdock das Ding vermißte. Er ist zum Glück noch gar nicht wieder hier gewesen.«

Das Klingeln des Telephons unterbrach sie. Sie ging an den Apparat und beantwortete die beiden Fragen, die Murdock von seinem Grundstücksbureau aus an sie stellte. Dann hängte sie wieder ab.

»Das war er«, sagte sie. »Er ist in einem seiner anderen Bureaus. Er hat mir nicht gesagt, wo. Aber er sagte, er käme gleich 'rüber mit Mr. Gregory.«

»Na, dann sage ich Ihnen jetzt lieber Adieu«, meinte Montrose mit einem verschmitzten Lächeln. »Aber vergessen Sie nicht, wenn Sie jemals einen Freund brauchen, Inspektor Montrose wird sich stets Ihrer Freundlichkeiten erinnern.«

»Nein, ich werde es nicht vergessen«, sagte Mrs. Mallory, und die ewige Angstwolke wich vor ihrem Lächeln. »Manche Polizeibeamte sind doch wirklich echte Männer«

Diese Worte von ihr verfolgten den Inspektor. Sie waren für ihn der beste Beweis, daß sie eine alte »Nummer« war. Auf der ganzen Fahrt zu seinem Distriktsbureau in der 67. Straße ging ihm ihre Bemerkung nicht aus dem Kopf. Er dachte daran, wie Warren sie einst verhaftet hatte, und wie sie sich dem »netten Kerl« anvertraut hatte. Diese halb sentimentale und halb groteske Weiberlaune belustigte ihn von neuem, und er gedachte der »guten alten Zeit«, da diese ungekrönte Königin der Brownie-Joe-Bande in der Alten Mühle ein nur allzu leibhaftiges Gespenst im New-Yorker Nachtleben gewesen war.

Aber Männer der Polizei haben keine Zeit für Träumereien, und so ließ auch Inspektor Montrose all solche Erinnerungen hinter sich, als er sein Bureau betrat. Seit fast dreißig Stunden hatte er nicht geschlafen. Er bestellte sich eine Tasse Kaffee, zündete sich eine Zigarre an und empfing Detektiv Deans telephonischen Rapport über seine Begegnung mit James Murdock in dessen Bureau am Broadway.

»Na schön,« meinte er, »da gibt's nichts zu flennen, Dean. Jetzt gehen Sie nur mit Daniels und ruhen Sie sich aus. Heute abend um zehn Uhr brauche ich Sie aber wieder.«

Er beschrieb ihm in aller Eile die Straßen, das Haus und die Lage von Mrs. Mary Mallorys Wohnung in jenem halb vergessenen Winkel New Yorks. Es handelte sich um den Haupteingang zu demselben Hause, das Warren durch die kleine Allee von der Seite her betreten hatte. Aber davon wußte Inspektor Montrose nichts. Er gab Dean Anweisung, das Haus zu bewachen und ihn auf dem laufenden zu halten.

Inspektor Montrose wußte nicht mehr, als daß Mary Mallory eine Angestellte von James Murdock und Harry Gregory war, daß der »Masken-Micky« alias Michael Le Mar, einstmals ebenfalls ein Mitglied der Brownie-Joe-Goodman-Bande, jetzt den »Klub Versailles« leitete, jenes Geiernest, um dessen Bewachung er Kommissar Marsh gebeten gehabt hatte, und daß dort Murdocks Tochter von Warren am Abend vorher unter Mordverdacht verhaftet worden war.

Aber bei Kenntnis all dieser Einzelheiten wußte er doch nicht minder, daß noch das verbindende Glied fehlte. Er gab zunächst Anweisung, daß man ihm den Gefangenen, der unter dem Namen König Tut eingeliefert worden war, zwecks Aufnahme eines Protokolls vorführen möchte.

Allmählich gewannen also die Verdachtsmomente, die von drei verschiedenen Seiten zusammenliefen, festere Form, um schließlich zur Festnahme des Geierkönigs zu führen.


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