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33.
Die »Haken-Mary« übertrifft sich selbst

Kennen Sie eine gewisse Edith Winthrop«, fragte Inspektor Montrose, nachdem Kommissar Roxey sein Telephongespräch beendet und ihm ein paar Worte zugeflüstert hatte.

»Ja.«

»War sie eine von den Gästen aus Ihrer Gesellschaft?«

»Jawohl.«

»Sie kennen sich gesellschaftlich sehr genau?«

»Wir besuchen uns gegenseitig.«

»Wann hat sie Sie zuletzt besucht?«

»Sie war bei uns in unserem Landhaus vorgestern.«

»Wer war noch da?«

»Mein Vater, Mr. Gregory, meines Vaters Kompagnon, und Mr. Warren, der Detektiv.«

»Was hat Warren draußen gewollt?«

»Danach fragen Sie, glaube ich, am besten meinen Vater.«

Montrose stutzte. Zog Warren an zwei Strängen zu gleicher Zeit? Hatte er sich, nachdem er dieses Mädchen wegen Mordes verhaftet hatte, auch die Festnahme Murdocks zum Ziel gesetzt? Die Sache schien ihm nicht ganz geheuer. Wenn dem aber so war, dann wäre er von dem jungen Detektiv zum zweiten Male übertrumpft worden, und das entsprach durchaus nicht den Plänen des Inspektors.

»Wie kommen Sie auf diesen Gedanken?«

»Wegen der Worte, die mir mein Vater gesagt hat.«

»Erinnern Sie sich, was er in bezug auf Warren zu Ihnen gesagt hat?«

»Mein Vater hat mir gesagt,« erwiderte Audrey mit einer Herablassung, die fast majestätisch wirkte, »er hätte Warren gebeten, für meine Sicherheit zu sorgen, bis er von seiner Besprechung mit Senator Sylvanus in Washington zurückkäme.«

Montrose mußte ein Lachen unterdrücken. »Mir scheint, Warren hat sein Versprechen gehalten. Sie befinden sich in Sicherheit.«

»In einer Beziehung schon, aber in einer anderen scheine ich hier alles eher als sicher zu sein.«

»Polizeimenschen sind nie das Richtige für Sie gewesen, was?«

Montrose suchte sie durch einen geschickten Zug zu fangen. Außerdem hoffte er, sie würde endlich ihre Ruhe verlieren. Aber die überlegene Art, mit der sie ihm jetzt antwortete, erstaunte ihn von neuem.

»Ich bitte um Verzeihung. Das zu beurteilen, habe ich noch nicht lange genug Gelegenheit gehabt.«

Inspektor Montrose sah sie verdutzt an. »Ja, ja, es geht doch nichts über das Vergnügen, neue Bekanntschaften zu machen, was? Es sei denn, daß man alte Bekannte wiedertrifft, nicht?« gab er spöttisch zurück. »Ich möchte aber jetzt gerne von Ihnen wissen, aus welchem Grunde Ihr Vater sich mit seiner Bitte gerade an einen Kriminalbeamten gewandt hat.«

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Ich war nicht dabei, als mein Vater Mr. Warren seine Bitte aussprach. Aber ich kann mir denken, welcher Gedanke meinen Vater dazu bestimmt hat.«

»Wollen Sie ihn nicht äußern?«

»Doch. In der Nacht, in der der Einbrecher in unserem Hause von Mr. Warren erschossen worden ist, habe ich lange nicht einschlafen können. Mein Vater sah, daß noch Licht in meinem Zimmer war, als er zu Bett gehen wollte, und kam noch zu mir herein. Er fragte mich, ob ich nicht wohl wäre. Ich erklärte ihm, daß ich nur Angst um ihn hätte. Ich kann mich auf die ganze Unterhaltung nicht mehr besinnen; aber ich habe ihm gesagt, daß ich das Gefühl hätte, als ob der Einbrecher nicht nur gekommen wäre, um ihn zu bestehlen, sondern um ihn zu ermorden.«

Die »Haken-Mary« mochte in ihrer Verbrecherjugend Maienblüte die Kriminalpolizei noch so sehr überrascht haben mit ihren Aussagen, ihre eben gemachte Erklärung benahm Montrose tatsächlich beinahe den Atem. In seinen kühnsten Träumen hätte der Inspektor nicht daran gedacht, daß sie ein so weitreichendes Zugeständnis machen würde.

»Und was hat Ihr Vater darauf erwidert?« knurrte er.

»Das weiß ich nicht mehr genau. Er erklärte mir nur, daß er meine Idee für Unsinn hielte, und ich vermutlich nervös wäre. Ach ja, er versprach mir, eine Seereise mit mir zu machen, sobald er seine Geschäfte so weit erledigt hätte.«

»Und was soll diese Unterhaltung mit der Bitte Ihres Vaters an Detektiv Warren zu tun haben?«

»Das weiß ich auch nicht; denn ich bin nicht dabei gewesen, wie die beiden miteinander gesprochen haben, aber ich nehme an, daß mein Vater Angst hatte, es könnte mir während seiner Abwesenheit irgend etwas zustoßen.«

»Hatte er die Absicht, längere Zeit fortzubleiben?« fragte Montrose geschickt weiter.

»Ich glaube, er sagte, er wollte binnen zwei Tagen wieder zurücksein.«

»Wie sind Sie darauf gekommen, daß der Einbrecher die Absicht gehabt haben sollte, Ihren Vater zu ermorden?« Montrose fühlte nur zu gut, daß sein Ziel immer näher rückte. So viel Glück hatte er kaum erwartet.

»Ich weiß nicht. Eigentlich ohne allen Grund.«

»Warum haben Sie mit ihm darüber gesprochen?«

»Frauen handeln nicht immer aus Überlegung. Es gibt schließlich Gefühle, flüchtige Gedanken, Ahnungen.«

»Hat vielleicht irgendein besonderer Umstand Ihre Ahnungen verstärkt, so daß Sie Ihre Furcht Ihrem Vater gegenüber äußerten?« Er bohrte sich langsam vorwärts, um schließlich etwas über die Anwesenheit der Waffe in der Murdockschen Villa zu erfahren.

»Nein. Ich hatte nur so das Gefühl.«

»Geht Ihr Gefühl auch sonst manchmal mit Ihnen durchs«

»Leider, ja. Sogar sehr oft.« Ihr Gesichtsausdruck verlor etwas von seinem unnahbaren Stolz. Sie mußte an Roger Warrens Umarmung und an seinen ersten Kuß denken.

Montrose lachte höhnisch. Er mußte an die Zeit denken, als Warren zum ersten Male die »Haken-Mary« festgenommen hatte. Er war damals Unterkommissar in dem gleichen Revier gewesen.

»Sie sind nach der Schießerei und gegen das ausdrückliche Verbot Detektiv Warrens zu Ihrem Vater hinaufgegangen, nicht wahr?«

»Jawohl.«

»Warum?«

»Ich wollte wissen, ob mein Vater wirklich außer aller Gefahr war.«

»Aus keinem anderen Grunde?«

»Nein.«

»Warren hat Sie oben angetroffen, als er zurückkam?«

»Ja.«

»Wo?«

»Ich saß auf meines Vaters Schoß und weinte.«

»Geweint haben Sie?«

»Jawohl, vor Freude, daß er nicht getötet worden war, und daß Detektiv Warren den Mann erschossen hatte, der ihn sonst doch sicherlich getötet hätte.«

»Hat Ihnen Ihr Vater das so dargestellt?«

»Gewiß. Was hätte er mir denn sonst sagen sollen? Detektiv Warren hat doch auch dasselbe gesagt. Und die Zeitungen genau so.«

»Die Zeitungen müssen ja Bescheid wissen«, sagte Montrose trocken. »Und was haben Sie darauf getan?«

»Ich wollte zunächst Mr. Warren meinen Dank aussprechen.«

»Und haben Sie ihm gedankt?«

»Ich habe mein möglichstes getan. Mein Herz war mehr als voll. Als ich ihm die Hand schütteln wollte, merkte ich, daß sie blutig war. Mr. Warren war verwundet worden. Also versuchte ich, ihm meine Dankbarkeit dadurch zu zeigen, daß ich ihm den Arm verband.«

»Sie sind also zu Ihrem Arzneischrank gegangen und haben eine Binde geholt, nicht wahr?«

»Nein. Ich nahm das erste beste, was mir als Binde geeignet schien. Es war ein Seidenmuster, das zufällig bei meinem Vater auf dem Schreibtisch lag. Sie wissen ja, er ist in dieser Branche.«

»Das weiß ich, jawohl. Aber dann sind Sie wieder nach unten gegangen, bevor Kommissar Marsh und ich im Hause anlangten, nicht wahr?«

»Ich glaube, ich verließ das Bibliothekzimmer gerade, als Sie die Stufen zur Tür heraufkamen.«

»Sie sind die hintere Treppe hinabgegangen?«

»Nein. Ich bin durch die Halle oben zu dem Treppenabsatz, von dem man die unteren Räume überblicken kann, gekommen.«

»Und warum sind Sie gerade in diesem Augenblick verschwunden?«

»Es tat mir leid, daß ich Mr. Warrens Befehl nicht gehorcht hatte. Mein Vater hatte ihn für mich um Verzeihung gebeten. Er sagte ihm, ich wäre seine einzige Tochter und manchmal ziemlich eigenwillig und übermütig.«

»Haben Sie nicht etwas mit nach unten genommen, was Sie nicht bei sich hatten, als Sie hinaufgingen?« fragte Inspektor Montrose scharf.

Audrey schwieg einen Augenblick.

»Hat man Sie früher schon mal ›geschnappt‹?« forschte Montrose weiter, in der Absicht, sie mit dieser plötzlichen Frage zu überrumpeln.

Sie sah ihn völlig erstaunt an und schwieg abermals.

»Vielleicht helfen Sie Ihrem Gedächtnis etwas auf die Sprünge«, stichelte der Inspektor. »Vielleicht erinnern Sie sich dann, daß Sie Roger Warren vor einigen Jahren verhaftet hat, als Sie einen Schutzmann niedergeboxt hatten und gerade auf ihm herumtrampelten, he? Oder haben Sie nicht zu ihm gesagt: ›Du gefällst mir schon besser, mein Junge. Von dir lasse ich mich ruhig mitnehmen?‹ Stimmt's?«

Audrey traute ihren Ohren nicht. Wieder überschlich sie das Gefühl restloser Unwirklichkeit. Konnte Roger Warren diesem Manne eine solche Unwahrheit gesagt haben? War denn die ganze Welt weiter nichts mehr als eine einzige ungeheuerliche Lüge?

»Na, erinnern Sie sich jetzt?« wiederholte Montrose, der ihr Stocken wohl bemerkte und es zu seinem Vorteil wahrnehmen wollte.

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Na, das ist schon ein bißchen besser, als glatt zu leugnen, daß man Sie jemals geschnappt hat.«

»Ich weiß nicht, was das bedeuten soll: geschnappt hat?«

»Festgenommen. Verhaftet.«

»Ich danke vielmals. Sie sollten wirklich ein Lexikon für Polizeiausdrücke drucken lassen und es Ihren zukünftigen weiblichen Gefangenen zum Lesen geben, bevor Sie sie verhaften. Das würde Ihnen viel Zeit sparen«, entgegnete Audrey.

»Sie haben mir noch immer nicht die Frage beantwortet, die ich Ihnen vor ein paar Minuten gestellt habe«, fuhr Montrose fort. »Ich habe Sie gefragt, ob Sie irgend etwas mit nach unten genommen haben, was Sie nicht bei sich hatten, als Sie zu Ihrem Vater in sein Zimmer hinaufgingen?«

Abermals zögerte Audrey, wenn sie auch den Blicken der vier Männer weder auswich noch sich vor ihrer forschenden Strenge beugte. Es war ihr, als wollten diese Blicke ihr die Seele aus dem Leibe reißen, um die Wahrheit zu ergründen. Audrey hatte Schreckliches durchgemacht seit der Stunde ihrer Verhaftung. Dank Inspektor Montroses höhnischen Fragen, die sich auf ihre angeblich erste Festnahme bezogen, war es ihr nunmehr zur Gewißheit geworden, daß Roger Warren nicht der ritterliche Beschützer war, den er gespielt hatte, sondern ein verkappter Teufel. Und wenn dieser härteste Schlag auch alles niedergeschmettert hatte, was sie an Gefühl besaß, noch war ihr Stolz nicht ganz zu Boden getreten. Und darum allein errötete sie jetzt und zögerte mit ihrer Antwort. Die Beharrlichkeit des Inspektors, den tiefsten Inhalt ihrer Gefühle aus dem heiligen Schrein ihres Herzens hervorzuzerren, brachte ihr Blut zur Empörung. Sie überhörte, daß er sie zum zweiten Male fragte. Was kümmerte es sie, daß die vier Polizeibeamten ihr Erröten für nichts anderes hielten als einen Trick, Tatsachen zu verschleiern, daß ihr stoisches Schweigen doppelt zu ihren Ungunsten ausgelegt wurde?

»Also, Sie leugnen nicht, daß Sie etwas mit nach unten genommen haben, was Sie beim Hinaufgehen nicht bei sich hatten?« wiederholte Inspektor Montrose geduldig seine Frage zum dritten Male.

»Nein.«

Er näherte sich dem ersehnten Ziel. Der Beweis, daß sich Murdocks Pistole zur Zeit der Erschießung Gussets in seinem Bibliothekzimmer befunden hatte, bedeutete das letzte, schlüssige Glied seiner Kette. Er zeigte Audrey die Waffe mit dem Schußdämpfer.

»Haben Sie dies hier schon einmal gesehen?«

»Ich weiß nicht.«

»Ich habe es Ihnen aber bereits gezeigt gehabt, gleich nach Ihrer Verhaftung, auf der Polizei. Kommissar Marsh war Zeuge. Sie haben bereits zugegeben, daß Sie das Ding in der Hand gehabt, daß Sie ihm etwas zugeflüstert und ihm zugelächelt haben. Stimmt's?«

»Ich bin so in Angst gewesen, daß ich meine Sinne nicht beisammenhatte«, erklärte Audrey. »Ich weiß nicht, ob das meines Vaters Pistole ist, und auch nicht, ob es dieselbe ist, die Sie mir gezeigt haben, als ich kaum wußte, ob ich noch lebte oder nicht.«

Das klang fast wie ein Vorwurf, wenn nicht schon mehr wie eine Anschuldigung, daß der Inspektor versuchte, sie auf den Leim zu locken. Ihr listiges Ausweichen war recht geschickt, aber für Montrose war es weiter nichts als eine typische Erscheinung bei einem solchen Frauenzimmer, für das er Audrey ganz ehrlich hielt.

»Es ist dieselbe Pistole, die Ihr Vater in seinem Schreibtisch gehabt hat, und die Sie in Händen hatten. Ihre Fingerabdrücke beweisen es. Außerdem haben wir einen Augenzeugen dafür, daß Sie die Waffe in der Hand gehabt, mit ihr geflüstert und ihr zugelächelt haben«, wiederholte er mit aller Strenge. »Sie sind wegen Mordes verhaftet. Sind Sie sich darüber klar oder nicht?«

»Alles hätte ich in meinem Leben erwartet, aber das nicht«, antwortete sie.

»Das kann ich mir denken,« sagte Montrose trocken, »ich hoffe, Sie werden es Detektiv Warren nicht übelnehmen, daß er Sie nicht vorher davon in Kenntnis gesetzt hat.«

Audreys Hände krampften sich ineinander, halb im Zorn und halb in Qual. Sie fühlte irgendeine Drohung, etwas Lauerndes hinter den undurchdringlichen Blicken der vier Männer.

»Ich will ganz offen mit Ihnen sein,« fuhr Inspektor Montrose fort, »aber ich verlange dieselbe Offenheit von Ihnen. Es gibt nur zwei Wege. Wenn ich den einen gehe – und ich will ihn gehen, wenn Sie mir die Möglichkeit dazu geben –, dann kann ich Sie als Zeugin für den Staatsanwalt betrachten. Wenn Sie sich weiter weigern, auszusagen, dann muß die Mordanklage bestehen bleiben, und Sie kommen vor Gericht und müssen sich auf Ihre glatte Verurteilung gefaßt machen. So liegt die Geschichte.«

Audrey war stumm. Wenn sie sich auch getragen fühlte vom Bewußtsein ihrer völligen Unschuld, ihr Herz schlug darum doch schwächer, angesichts der ganzen Art Inspektor Montroses und seiner strengen Worte.

»Sie haben die Wahl, die Wahrheit zu sprechen, die volle Wahrheit und nichts als Wahrheit«, fuhr er fort. »Sie haben zu gestehen, daß Sie etwas mit nach unten genommen haben, als Sie in der Nacht, in der Gusset erschossen wurde, das Bibliothekzimmer ihres Vaters verließen, etwas, das Sie nicht bei sich hatten, als Sie hinaufgingen. Wenn Sie die Wahrheit sprechen wollen, können Sie das nicht leugnen; oder ist es nicht Wahrheit?«

»Jawohl.«

»War es offen zu sehen?«

»Nein.«

»Sie haben bisher die volle Wahrheit gesagt. Schutzmann Sanders hat bezeugt, daß er Sie hat die Treppe herunterkommen sehen. Er hat auf meine Frage hin erklärt, daß Sie nichts in der Hand gehabt haben. Also war ich zu der Annahme berechtigt, daß Sie es verborgen getragen haben. Stimmt das oder stimmt es nicht?«

In diesem Augenblick versanken alle ihre Ängste und bösen Befürchtungen. Ihr Gesicht bekam seine alte Lebendigkeit. Ihr Blick verlor das Unstete. Aus ihren glänzenden Augen schimmerte eine Klarheit, die auch die festesten Schleier des Verdachtes durchdringen und lösen mußte. Ihr Kopf hob sich voller Stolz.

»Ja!«

Diese eine Silbe klang wie ein Trommelwirbel.

»Was ist es gewesen?« fragte Inspektor Montrose, als ob er sich wappnen wollte gegen den bezwingenden Ton ihrer Stimme. Er war zu sehr Polizeibeamter, um seiner Pflicht nicht bis zu den äußersten Grenzen seiner Amtsbefugnis zu genügen.

»Ich verweigere die Aussage darüber, was ich verborgen gehalten habe!« erwiderte Audrey.

In diesen Worten lag alles eher als ein höhnischer Trotz gegenüber der Polizeigewalt. Es lag etwas Unfaßbares in ihrem Ton, eine klingende Selbstaufopferung, wie sie sich aus den tiefsten Tiefen der verbrecherischen Seele mitunter aufschwingt und der schmählichsten Erniedrigung strahlend standhält.

»Sie haben es gut verborgen gehalten«, forschte Montrose weiter.

Audreys Lächeln war sanft und hart zugleich. Sie sprach, als ob ihre Antwort niemandem anders gelte als ihr selbst.

»Ja. Ich habe es so gut verborgen gehalten, daß kein Polizeibeamter, nicht einmal der, der mich verhaftet hat, es je wird wiederfinden können.«

Inspektor Montrose war nicht halb so verblüfft wie die anderen. Er hatte nicht umsonst dem Chef der Polizei gegenüber behauptet, daß dies junge Mädchen in der Nacht, in der Gusset erschossen worden war, ihr Herz an Roger Warren verloren hatte.

In diesem Augenblick läutete das Telephon auf seinem Pult, und man meldete ihm, daß Warren ihn zu sehen wünschte. Die Situation wurde dadurch noch verwickelter, als sie an sich schon war. Für ein paar Sekunden war Inspektor Montrose völlig verwirrt. Was er an Beweisen in Händen hielt, erschien ihm zart wie die Flamme einer Kerze, die nur zu leicht auf dem Gang durch ein weites, dunkles Haus verlöschen mochte. Aber der Inspektor war an seine Instruktionen gebunden, die er vom Chef der Polizei direkt empfangen hatte. Er war nicht minder an sie gebunden wie Roger Warren, der seiner »Vermutung« hatte folgen sollen, um die nötigen Beweise gegen Gregory und seine Spießgesellen zu finden.

Inspektor Montrose entschloß sich trotz Warrens Kommen, das Verhör der »Haken-Mary« fortzusetzen. Als er sich mit einer erneuten Frage an sie wenden wollte, erkannte er an ihrem Gesichtsausdruck, daß eine weitere Komplikation bevorstand. Sie wartete denn auch gar nicht erst seine Frage ab, sondern brachte die ganze Angelegenheit auf ein anderes Geleise, indem sie die Initiative ergriff und erklärte:

»Ich verlange einen Anwalt zum Schutz meiner Rechte. Oder habe ich vielleicht keine Rechte mehr?«

Montrose machte eine Verbeugung und lächelte ironisch.

»Ihr Wunsch ist durchaus in Ordnung. Selbstverständlich haben Sie Rechte. Aus diesen Rechten heraus hat Sie Detektiv Warren wegen Mordes verhaftet. Aus diesen Rechten heraus sind zwei tapfere Polizeibeamte in Inspektor Raynors Distrikt – der Herr sitzt hier zu meiner Rechten – niedergeschossen worden, als kurz nach Ihrer Verhaftung verbrecherische Gesellen Ihre Freundin Edith Winthrop ausgeraubt haben. Aus diesen Rechten heraus haben diese beiden Polizeibeamten nicht nach dem Recht gefragt, zu ihren Frauen und Kindern heimgehen zu dürfen. Ich glaube, Sie haben Mrs. Winthrop Ihre Freundin genannt. Bevor Sie auf Ihren eigenen Rechten bestehen, sind Sie vielleicht gewillt, der Polizei dieser Stadt zu helfen, daß sie die Rechte ihrer Bürger schützen kann. Sind Sie jemals in der Wohnung von Mrs. Winthrop gewesen, und haben Sie jemals den Safe gesehen, der ausgeraubt worden ist?«

»Das Gesetz«, erwiderte Audrey mit flammenden Augen, »wird alle diese Dinge zu entscheiden haben. Es wird zuerst und vor allem zu entscheiden haben, ob ich die ›Haken-Mary‹ bin oder nicht!«

»Sie haben es nicht bestritten, als Roger Warren den Befehl zu Ihrer Verhaftung erteilte, nicht wahr?«

»Ich habe nicht nötig, etwas zu bestreiten, was ich nicht bin. Und wenn es selbst nötig gewesen wäre, ich hätte keine Gelegenheit dazu gehabt. Man hat mich aus dem Vorraum des Klub Versailles herausgezerrt, ohne daß ich auch nur hätte ein Wort sagen dürfen. Man hat mich der Erniedrigung vor einer Menschenmenge ausgesetzt, man hat mich ohne Aufenthalt in Ihr Zimmer zum Verhör geschleppt. Man hat mich in aller Eile in das Gefängnis gebracht und ebenso rasch wieder hierher.«

»Sie haben Ihre Identität vor keinem der verschiedenen Beamten bestritten.« Inspektor Montrose sah in Audreys ganzer Art nur eine billige theatralische Pose. Aber nichtsdestoweniger hatte sie das Recht, einen Rechtsberater zu verlangen.

»Sie haben Ihre Behauptungen aufgestellt,« gab Audrey zurück, »ich hatte keine Macht über Sie.«

Inspektor Montrose fühlte nur zu gut, daß die glimmende Flamme der Kerze, mit der er das Dunkel hatte durchleuchten wollen, aus Mangel an Nahrung dem Verlöschen mehr als nahe war. Aber er vertraute auf Warren. Der Chef der Polizei vertraute ihm ja nicht minder. Da Warren zurückgekommen war und in dem gleichen Gebäude einen Stock über ihm auf eine Besprechung wartete, schloß Montrose sein Verhör ab.

»Bringen Sie die Gefangene nach unten«, befahl er. »Lassen Sie ihr etwas Anständiges zum Frühstück holen. Ich muß sie nachher noch sehen. Inzwischen mag sie sich irgendeinen Anwalt kommen lassen, der sich ihrer Sache annehmen will.«


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