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35.
Freie Hand für Warren

Wohl kaum haben je vier Männer von gleicher Stellung und gleicher Verantwortlichkeit das Kommen eines Menschen mit stärkerer Spannung erwartet, als Roxey, Montrose, Raynor und Marsh jetzt Roger Warren entgegensahen. Die ganze Nacht hatten sie im Kampf gestanden gegen eine Verbrecherbande, ohne daß sie wußten, wer eigentlich das Haupt dieser mit abgefeimtesten Mitteln arbeitenden Maschinerie war. Und noch wußten sie nicht einmal, was in dem Hirn des unerschrockenen jungen Detektivs vorging, der mit kühnen Schlüssen sein Netz um Murdocks Kompagnon, Harry Gregory, gespannt hatte. Jeder der vier Männer hatte einen anderen Grund, auf Warrens Bericht begierig zu sein, wenn sich auch die vier Gründe an manchen Punkten trafen.

Kommissar Roxey war natürlich neugierig, zu erfahren, ob die Verhaftung zweier weiterer Verbrecher in der Winthropschen Einbruchsgeschichte, von der ihm Warren ja bereits telephonisch Meldung gemacht hatte, vielleicht irgendwie mit der außerordentlich kühnen Seidenräuberei auf dem Hudson in Verbindung stünde, und ob ferner die gestohlenen Juwelen wiedergefunden wären. Inspektor Montrose wollte wissen, was Warren wohl dazu veranlaßt hatte, die »Haken-Mary« unter Mordverdacht in seinem Distrikt einliefern zu lassen. Er nahm selbstverständlich an, daß diese Sache mit der Erschießung des »Mappen-Gusset« zusammenhing, und daß Warrens Arbeit sich mit der Aufgabe deckte, die er sich selbst gestellt hatte, nämlich den Vater der Person zu verhaften und seines Verbrechens zu überführen.

Kommissar Marsh, der selbstverständlich nicht »riechen« konnte, daß Murdock so gut wie des Mordes überführt war, brannte darauf, zu erfahren, wie es Warren wohl geglückt sein mochte, die »Haken-Mary« im Klub Versailles dingfest zu machen, von dem er und Montrose allein wußten, daß er unter der Leitung von Michael Le Mar alias »Masken-Micky« stand. Außerdem erwartete Kommissar Marsh, daß sich durch den Gefangenen, der sich selbst als König Tut bezeichnet hatte, in bezug auf Gregory und Mrs. Winthrop nunmehr interessante Neuigkeiten ergeben würden, zumal die »Velvet-Mary« den jungen Mann als einen gewissen Freddy Carrington identifiziert hatte.

Inspektor Raynor seinerseits wollte gern die Antwort auf die Frage, die er sich immer wieder vorlegte, wie es Warren in aller Welt nur fertiggebracht hatte, in dem Hause der Mrs. Winthrop zwei der an dem Juwelenraub beteiligten Banditen dingfest zu machen, während seine eigenen Leute auf ihren Posten waren, ohne daß es ihnen trotz allen Suchens gelungen wäre, diese Verbrecher zu verhaften.

Nachdem Warren Audrey Murdock das erste tröstende Wort, das er nach all den Ereignissen hatte sprechen können, gesagt hatte, begab er sich unverzüglich zu der Besprechung mit den vier Herren. Trotz der seelischen Keulenschläge, die er empfangen hatte, und trotz der ziemlich langen Bewußtlosigkeit, die ihm der Kampf mit den Verbrechern eingetragen, erschien er voller Elastizität, als ob sich überhaupt nichts Besonderes ereignet gehabt hätte.

Seine Augen waren stahlgrau und blickten nicht minder energisch als die Inspektor Montroses bei dem Verhör Audreys. Seine ganze Art war die eines Mannes, der keine Zeit hat, sich mit Kleinigkeiten lange abzugeben. Er grüßte und setzte sich auf einen Wink Kommissar Roxeys.

»Ich muß mich knapp und kurz fassen,« sagte er, »und wir haben knapp und kurz zu handeln, vorausgesetzt, daß ich Ihr gemeinsames Einverständnis finde. Ich habe den ›Salpeter-Ede‹ und einen zweiten Verbrecher in die Polizeistation in der 86. Straße verbringen lassen, in Ihren Distrikt also, Inspektor Raynor. Die Juwelen habe ich nicht. Einer Ihrer Leute, den Sie in dem Haus postiert haben – Snyder ist sein Name –, hat mir von Ihrer Mutmaßung gesprochen, daß einer der Verbrecher vom Hof aus durch den Keller mitsamt dem Schmuck auf und davon ist, nachdem er den Juwelenkasten fortgeworfen hat. Ich stehe zu dieser Auffassung durchaus nicht im Widerspruch. Aber angenommen, Inspektor Raynor hat mit seiner Annahme absolut recht, dann darf ich wohl mit seiner Zustimmung rechnen, daß wir uns so rasch wie irgend möglich an die Arbeit machen, den Schmuck wiederzubekommen.«

Raynor nickte zustimmend und Roxey ebenfalls.

»Ob sich der Schmuck nun noch in dem Hause befindet oder nicht,« fuhr Warren fort, und seine Worte flossen rasch und wohlüberlegt, »so dürfte es äußerst schwer fallen, sie auf dem Wege einer üblichen Streife oder der üblichen Nachforschung wieder zur Stelle zu schaffen. Das geht zu langsam.«

»Schön. Aber wie?« riefen Roxey und Raynor wie aus einem Munde. »War noch jemand an der Sache beteiligt?« fügte Raynor hinzu.

»Ohne Frage«, entgegnete Warren ohne Zögern.

»Wer?«

»Im Hof oder auf der Straße hat jemand Schmiere gestanden.«

»Aha, sie haben also den Schmuckkasten von der Feuertreppe in den Hof hinuntergeworfen. Er hat den Kasten weggeworfen und ist durch den Keller auf und davon, meinen Sie?« fragte Raynor.

»Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber die Sache kommt schließlich auf dasselbe hinaus. Wir werden den Kerl schon fassen, und wir werden ihn mit dem Schmuck fassen, falls Sie meine Auffassung teilen. Sie haben ja dasselbe Interesse daran wie ich. Aber Sie fragten mich nach dem Wie? Folgendermaßen: Sie rufen Wachtmeister Snyder und die anderen Leute ab. Der Kerl, der Schmiere gestanden hat, ist weder festgenommen noch erschossen worden. Beweis: Er ist entwischt. Hat er die Juwelen, dann kommt er nicht zurück. Also ist eine Bewachung des Hauses sinnlos. Hat er sie nicht, dann wird er wiederkommen, um sie zu holen, aber ich verwette meinen Kopf, daß er nicht kommen wird, solange Polizisten in dem Hause sind. Also vergeuden wir nur unsere Zeit, wenn wir es bewachen.«

Der Fuchs, der das ganze Verbrechen geplant hatte, war noch nicht in die Falle gegangen, die ihm Warren gestellt hatte; aber so sicher wie Warren ein guter Detektiv war, so sicher hielt er in Gedanken längst die zweite Falle für ihn bereit.

»Inspektor Raynor,« fuhr er fort, »ich war nämlich in dem Hause, bevor Ihre Leute erschienen.« Mit kurzen Strichen schilderte er seinen Kampf mit den Verbrechern, wie er in der Besenkammer festgesessen hatte, und was sich dann später ereignete, als Gregory und Mrs. Winthrop das Haus betraten.

»Ich habe halb Glück und halb Pech gehabt,« erklärte er, »ich habe den ›Salpeter-Ede‹ gefaßt und den Fahrstuhlführer, aber Harry Gregory ist mir zwischen den Fingern durchgerutscht, Wachtmeister Snyder war ein kleines bißchen zu penibel.«

Warren beschrieb den enttäuschenden Zwischenfall mit ziemlich kläglicher Miene und fuhr dann fort: »Wenn ich in das Haus hineingekommen bin und die Bande überrascht habe, so lag das einzig und allein an der Tatsache, daß ich im Gesellschaftsanzug war. Der Kerl auf der Straße hat mich zweifellos für irgendeinen Gast gehalten. Der Fahrstuhlführer vermutlich ebenfalls, zumal er mich vorher mit Mrs. Winthrop zusammen heruntergefahren hatte. Andernfalls hätte der Aufpasser ganz gewiß ein Warnungssignal gegeben und der Fahrstuhlführer auch, denn der Bursche war mächtig auf dem Quivive. Hier, Sie können sich die Quittung ansehen!«

Er schob den Hut zurück, so daß das Pflaster auf seinem Kopf sichtbar wurde. »Eine scharfe Nacht,« bemerkte Warren lächelnd, »darf ich Sie bitten, Inspektor Raynor, den Halunken in die Zentrale zu spedieren für die Morgenparade morgen früh – nicht heute schon –, es ist nämlich derselbe Galgenvogel, den Kommissar Roxey und Kommissar Harlan an dem Morgen nach der Räuberei auf dem Hudson in der Parade hatten. Jawohl, Leonard Grove, der unschuldige Austernfischer, der an nichts Böses gedacht hat, na, Sie wissen schon. Wir haben geglaubt, Harold Yates wäre der Kerl gewesen, der den Kapitän des Schleppers niedergeknüppelt hat, aber gerade umgekehrt. Yates war der Mann mit dem Motorboot, das Grove von dem Schlepper geholt hat. Grove ist der Mann, dem der Überfall zur Last fällt. Sehen Sie sich die Fingerabdrücke auf dem Bleiknüppel an, mit dem er mich getroffen hat. Vergleichen Sie nur einmal die Fingerabdrücke des Fahrstuhlführers mit denen, die von Grove am Tage nach dem Seidenraub genommen worden sind. Die Geschichte klappt ausgezeichnet. Ich habe übrigens noch etwas für Sie, Inspektor Montrose, in der Gusset-Angelegenheit. Aber dafür fehlt mir jetzt die Zeit. Ich habe nicht ganz das, was Sie vielleicht erwarten. Ich werde es Ihnen beim Chef nachher ausführlich erklären. Sagen wir um halb elf. Können Sie mich um diese Zeit beim Chef treffen?«

»Jawohl,« sagte Montrose, »ich hoffe, Sie haben Stoff wegen der ›Haken-Mary‹, was?«

»Wir müssen diesen Punkt aufschieben,« sagte Warren, »ich muß die Minuten zusammennehmen, wenn ich die Winthrop-Juwelen zu fassen kriegen soll.«

»Warum soll denn der Grove nicht doch schon heute vormittag in der Zentrale abgeliefert werden?« fragte Inspektor Raynor.

»Ich möchte gern vermeiden, daß die noch nicht gefaßten Brüder aus der Seidenraubaffäre Wind davon bekommen, daß ich ihnen auf den Fersen bin. Ich hoffe, Sie verstehen mich. Außerdem fürchte ich, daß ich in diesem Falle die Winthropschen Diamanten nicht fassen kann. Ich möchte Sie bitten, Inspektor Raynor, vier Detektive mit der Beobachtung des Bureaus und der Privatwohnung eines gewissen Rechtsanwaltes zu betrauen. Ich weiß zwar noch nicht, welcher Rechtsanwalt es sein wird, aber diese Schwierigkeit wird überwunden sein, wenn das Polizeigericht um 9 Uhr aufgemacht hat. Welcher Anwalt auch immer für Leonard Grove bei Ihnen erscheinen wird – der Bursche ist zu überwachen. Dieser Trumpf zählt doppelt!«

»Wieso?« fragte Roxey begierig.

»Aus folgendem Grunde: Der Kerl, der Schmiere gestanden hat, wußte nicht, daß ich ein Kriminalbeamter war, der Fahrstuhlführer ebensowenig. Der Aufpasser hätte sich natürlich nicht mehr in das Haus gewagt, nachdem Inspektor Raynors Leute erschienen waren, wenn wir einmal annehmen wollen, daß er nicht durch den Keller bereits entwischt war. Der Fahrstuhlführer konnte wiederum nicht wagen, das Haus zu verlassen. Erstens wußte er nicht genau, ob ich nicht wieder zum Vorschein kommen würde, und zweitens wäre jeder Versuch, auszukneifen, von Wachtmeister Snyder und seinen Leuten als Verdachtsmoment betrachtet worden. Die beiden Kerle hatten also ihre Bewegungsfreiheit verloren dank der Raschheit, mit der Inspektor Raynors Bezirk gearbeitet hat. Vermutlich hat mir die Geschwindigkeit seiner Leute das Leben gerettet; denn die Kerle hätten mich sonst sicher auf der Treppe endgültig ›erledigt‹.«

»Ihre Beweisführung, Warren, scheint mir bombensicher«, bemerkte Roxey. »Aber nun weiter.«

»Die Kautionssumme für die Freilassung des ›Salpeter-Ede‹ ist ohne Frage bereits gestellt. Der Anwalt, der seine Verteidigung zu führen hat, ist ebenso sicher bereits über die Verhaftung orientiert. Der Kerl, der Schmiere gestanden hat, wird den Anwalt schon davon benachrichtigt haben, daß Wachtmeister Snyder den ›Salpeter-Ede‹ abgeführt hat. Der Anwalt, der die Kaution für den ›Salpeter-Ede‹ hat, wird auch eine Kaution für Leonard Grove parat haben. Wenn Sie aber Ihrerseits dem Polizeirichter ein Licht aufstecken, weswegen Grove eben erst verhaftet worden war, ohne daß der Anwalt weiß, was eigentlich los ist, dann können wir sicher sein, daß die übrige Bande nichts wittert.«

»In demselben Augenblick,« erklärte Warren weiter, »in dem Inspektor Raynor seine Leute aus dem Hause abruft, wird sich der Aufpasser hineinbegeben, vorausgesetzt, daß die Juwelen noch drin sind. In diesem Fall steht er vermutlich auch jetzt dort Schmiere, und deshalb will ich –«

»Aber er wird Sie diesmal kennen! Wie wollen Sie über diesen Berg wegkommen?« unterbrach ihn Inspektor Raynor.

»Ich habe gar nicht diese Absicht«, erwiderte Warren. »Ihre eigenen Leute, Inspektor Raynor, sollen den Aufpasser dingfest machen, und zwar im Bureau oder in der Privatwohnung des Anwaltes, während er vor dem Polizeigericht in Sachen ›Salpeter-Ede‹ und Grove erscheint, und in derselben Zeit werde ich mir ›Salpeter-Edes‹ Wohnung ein bißchen näher ansehen.

»Ob er vorher in das Haus zurückgeht oder nicht, er wird sich schon einfinden, um die Juwelen der Winthrop Harry Gregory auszuhändigen. Dieser Gregory hat nämlich nicht nur den Seidenraub auf dem Hudson inszeniert, sondern auch den Einbruch; und Sie können sich darauf verlassen, daß sich auch Gregory einfinden wird, um die Diamanten von dem Aufpasser zu bekommen.

»Gregory war doch schon dabei, die hintere Treppe zu der Wohnung des ›Salpeter-Ede‹ hinaufzusteigen, als Wachtmeister Snyder seine Absicht durchkreuzte. Gregory hat Grove ohne Zweifel bei dem Einbruch verwandt, da er sich nach den Erfahrungen bei dem Hudson-Raub so gut auf ihn verlassen konnte, und sind zwei Größen einer dritten gleich, dann sind sie auch untereinander gleich. Wir haben den Banditen Grove gefaßt. Wir werden auch den anderen Halunken packen.«

»Gregory hat natürlich sein Alibi, daß er zur Zeit des Einbruchs mit Mrs. Winthrop im ›Klub Versailles‹ gewesen ist. Wenn wir ihn mit seinem Aufpasser zusammenpacken, während der Anwalt sich die Lunge aus dem Hals schwatzen wird, dann muß er sich aber schon ein besseres Alibi besorgen. Ich werde selbstverständlich möglichst rasch ebenfalls vor dem Polizeirichter erscheinen. Aber bis ich dort nötig bin, möchte ich mich lieber im Dunkel halten. Um aber die Sache glatt abzuwickeln und den Haupthalunken hereinzulegen, bitte ich darum, Inspektor Raynor, betreffend ›Salpeter-Ede‹ und den Fahrstuhlführer nur ein ganz kurzes Protokoll aufnehmen zu lassen, und zwar ohne die Erklärung, daß er mit Grove identisch ist.«

Inspektor Raynor sprang auf.

»Weiß der liebe Himmel, Warren, Sie haben die Sache geschafft,« rief er, »ich werde ganz nach Ihren Wünschen handeln.«

»Dieser Beschluß ist einstimmig«, erklärte Roxey nach einem fast minutenlangen Schweigen.

»Vor mir aus gewiß«, ergänzte Inspektor Montrose.

»Von mir aus ebenfalls«, erklärte Kommissar Marsh.


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