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4.
Ein Zweikampf und eine falsche Aussage

Murdock drehte sich und fiel vornüber auf den Schreibtisch. Aber zu seinem größten Erstaunen fühlte er keine Wunde. Daß er noch einen dünnen Rauchfaden sehen würde, bevor sich seine Augen für immer schlossen, hatte er erwartet. Aber das überraschte ihn, daß er nicht das Eindringen der Kugel und ihren betäubenden Stoß fühlen sollte. Und er fühlte ihn wirklich nicht. Er war sich nicht klar, warum. Aber vielleicht war er bereits tot.

Ein merkwürdiges Ding mußte doch der Tod sein; denn er unterschied sich auch nicht im mindesten vom Leben. Er fühlte sogar das Klopfen seines Herzens gegen die Schreibtischkante und hörte das Echo des Revolverschusses.

Ein Echo in dem engen Raum? Er schlug die Augen auf. Der Mörder hatte nicht geschossen, zum mindesten nicht auf James Murdock. Irgendwer anderes mußte auf ihn geschossen haben. Der Eindringling war gefallen oder hatte sich hinter einem breiten Sessel auf die Erde geworfen. Das Echo, das Murdock gehört zu haben glaubte, war der erste Schuß gewesen, den der Wahnsinnige abgefeuert hatte, und er hatte auf jemand in der Halle geschossen, von dessen Waffe der erste Schuß gekommen war. Der Wahnsinnige schoß zum zweiten Male.

Der Mann in der Halle ließ sich Zeit. Er konnte sein menschliches Ziel hinter dem Sessel nicht sehen. Aber Murdock sah ihn. Seine Stirn war ihm direkt zugewandt.

Mit äußerster Kaltblütigkeit tastete sich Murdocks Hand nach dem rechten Schreibtischschubfach. Dort lag sein Revolver, ein Selbstlader mit einem Schußdämpfer. Er war darauf gefaßt gewesen, daß er eines schönen Tages in die Lage der Notwehr kommen würde. Aber die Jahre waren dahingehuscht, ohne daß er bisher seines Beschützers bedurft hätte.

Die Pistole lag an ihrem Platz. Murdock fand sie unter einem Packen vertraulicher Geschäftspapiere und einem Seidenmuster, auf dessen Rand das Wort »Universal« aufgestempelt war.

Der Mann hinter dem Sessel feuerte, und der Schütze in der Halle schoß zurück, gerade als Murdock seine Waffe erhob. Dann folgte noch ein Schuß aus der Halle. Sein Klang verschlang das äußerst leise Schnappen von Murdocks Pistole. Sein Schuß, gefeuert von einer Hand, die niemals zitterte, und gezielt mit einem Auge, das niemals bebte, traf den Mann hinter dem Sessel mitten in die Stirn.

Murdock schob seinen Revolver wieder in das Schubfach, schob die Papiere drüber und schloß es ab. Der Pulvergeruch im Zimmer mußte ohne weiteres den beiden anderen Waffen zugeschrieben werden, von denen die eine, auf ewig stumm, den Händen des Toten entglitt und auf den Teppich fiel, während die andere jetzt in der Hand Roger Warrens in der Bibliothekstür sichtbar wurde. Dem Detektiv vom Hauptpolizeiamt folgte Schutzmann Sanders auf den Fersen.

Noch ehe Sanders das Haus betreten hatte, waren bereits eine ganze Anzahl Schutzleute von ihren nahen Posten vor der Villa erschienen.

»Gehen Sie wieder hinunter, Sanders! Niemand darf herauf!« Sanders verschwand, wie ihm Warren befahl.

Der Apparat der New Yorker Kriminalpolizei war bereits in vollem Gange. Eigentlich war er schon in Tätigkeit gesetzt worden, als Roger Warren beim Durcheilen der unteren Etage mit raschem Blick die Schar der lärmenden Gäste gestreift hatte. Es war nur ein Streifblick gewesen, aber wie auf einer photographischen Platte hielt er die ganze Szene unzerstörbar fest samt den Personen, die er gesehen hatte, wie es sich späterhin erweisen sollte.

Roger Warren war ganz das Gegenteil von dem üblichen »Schutzmann« der guten alten Zeit, als noch ein mächtiger Schnauzbart, möglichste Beleibtheit, ein feistes Gesicht und politische Vetternschaft die geschätztesten Qualifikationen für sein Amt bedeuteten.

Die erste Frage, die Warren James Murdock entgegenhielt, war: »Kennen Sie den Mann?«

»Ich habe ihn in meinem Leben nie gesehen«, erwiderte Murdock ohne jedes Zögern.

»Ich auch nicht! Ich sah ihn zuerst, als er durch das Hinterfenster stieg. Das nächste, was ich von ihm sah, war sein ausgestreckter Arm mit der Pistole. Ich war unten quer durch die Halle gelaufen. Ich wäre rascher oben gewesen, wenn ich gleich den richtigen Weg gefunden hätte. Als ich die Handbewegung sah, habe ich sofort geschossen. Wenn ich nicht gefeuert hätte, wären Sie jetzt an seiner Stelle.«

»Ohne jeden Zweifel«, pflichtete ihm James Murdock von Herzen bei. »Als Sie schossen, dachte ich doch wirklich, daß der Kerl auf mich feuerte. Ich glaubte, ich wäre hin. Na, es war ja auch dicht genug dran. Er verlangte Geld von mir. Aber ich habe nichts hier, wenigstens nichts, was der Rede wert wäre. Ich trage nicht gern Geld bei mir. Das ist mir zu gefährlich.«

»Na, mein dritter Schuß hat ihm sein Handwerk gelegt«, fuhr Warren fort. »Er sah verkommen genug aus, verzweifelt, zu allem fähig. Ich muß Sie bitten zu warten, Mr. Murdock. Einen Augenblick nur, aber ich muß nach unten und Sanders meine Anweisungen geben. Außerdem muß ich an die Distriktshauptwache telephonieren. Mein Name ist Roger Warren, Kriminalbeamter. Ich bin vom Hauptpolizeiamt. Kam ganz zufällig hier vorbei. Aber selbst ein Kriminalbeamter darf keinen Einbrecher totschießen, ohne sich fürs erste wegen Mordes verantworten zu müssen. Sie wissen ja. Da es nun mal geschehen ist, muß ich dem Revier in der 76. Straße Meldung machen.«

»Selbstverständlich. Es ist ja nur eine Formsache. Übrigens, ich habe auch einen Revolver, ich glaube in meinem Bureau, aber ich habe einen Waffenschein. Sie können ihn sich ja gelegentlich ansehen. Ich danke Ihnen mein Leben. Würden Sie wohl meine Tochter zu mir heraufkommen lassen? Sie ist sicherlich in Angst um mich.«

»Sobald meine Vorgesetzten hier sind. Vorher geht es leider nicht«, gab Roger Warren mit aller Höflichkeit zur Antwort und schwang sich die Treppe hinunter, wo die aufgeregte Gesellschaft in Gruppen herumstand. Dort hielt Sanders Wache. Audrey bestürmte Warren, er möchte ihr doch erlauben, zu ihrem Vater hinaufzugehen.

»Sie müssen warten«, sagte er. »Ihr Vater ist unverletzt. Die Schüsse, die Sie gehört haben, waren die, die ich mit dem Einbrecher gewechselt habe. – Wer sind diese Herrschaften hier?«

»Meine Gäste«, erklärte Audrey und stampfte mit den Füßen. »Ach, es ist ekelhaft!«

»Schutzmann Sanders wird die Namen und Adressen notieren. Dann können Sie gehen«, sagte Warren mit einem Blick auf die launische junge Dame. »Die anderen Polizeibeamten werden im Augenblick hier sein. Wenn sie oben gewesen sind, können Sie Ihren Vater sehen.«

»Aber ich will ihn sofort sehen!« entgegnete Audrey beharrlich.

»Die Dienstboten,« fuhr Warren fort, als hätte er ihre letzte Bemerkung überhaupt nicht gehört, »müssen natürlich hierbleiben. Der Einbrecher ist durch ein offenes Fenster eingestiegen. Das bedarf der Aufklärung, sobald die Mordkommission da ist.«

Audrey fuhr vor Schreck zurück. »Die Mordkommission?« echote sie.

»Der Einbrecher«, erklärte Warren mit halber Stimme, »ist tot!«

Sanders notierte die Namen der Gäste, und einer nach dem anderen konnte das Haus verlassen. Die Gesellschaft, die in so ungebundener Heiterkeit begonnen hatte, endete in der Bestürzung über die Pistolenschüsse, die vom oberen Geschoß der Villa widergehallt waren.

Audrey war benommen und unschlüssig. Sie zog sich in den Festsaal zurück, während Warren noch bei Sanders stehenblieb und den Schutzleuten an der Tür Weisungen gab, die Gäste ungehindert passieren zu lassen. Dann rief er das Polizeirevier an und berichtete kurz, was vorgefallen war. Darauf kehrte er zu dem Bibliothekzimmer zurück. Murdock saß noch immer an seinem Schreibtisch. Er hatte sich nicht gerührt. Aber eine andere Überraschung erwartete den jungen Detektiv. Audrey war bei ihrem Vater im Zimmer und lehnte schluchzend an seine Schulter.

»Sie hat nicht warten können«, bemühte sich ihr Vater ihm zu erklären. »Sie ist die andere Treppe heraufgekommen.«


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