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In der Zwischenzeit hatte Inspektor Raynor sein Bureau erreicht und sah sich dem Problem gegenüber, das die Ermordung des »Salpeter-Ede« geschaffen hatte. Benny Smart war wider alles Erwarten glatt entkommen. Der Schutzmann an der Straßenkreuzung hatte weiter nichts vermocht, als Salomon Chatterton festzunehmen, eine Ambulanz zu beordern und den Schwerverletzten dem nächsten Hospital zuführen zu lassen, Chatterton wurde in die Polizeistation der westlichen 68. Straße verbracht. Er war Augenzeuge des Mordes an seinem Klienten und mußte sich wohl oder übel gefallen lassen, daß man ihn als nicht ganz unverdächtig betrachtete.
Trotz seiner lebhaftesten Proteste wurde er hinter Schloß und Riegel gesetzt, bis Inspektor Raynor weitere Maßnahmen getroffen haben würde, wie man ihm erklärte. Die Todesfälle im Verfolg des Winthropschen Einbruchs, die Verwundung zweier Polizeibeamter, die Erkenntnis der dauernden Gefahr, die von der verbrecherischen Brut jener Geier der Nacht und – wie in diesem besonderen Falle – des helllichten Tages ausging, mußten dazu beitragen, daß Salomon Chatterton all seine Einwendungen umsonst machte. Er wurde ohne viel Komplimente in seine Zelle verbracht.
Inspektor Raynor setzte sich sofort telephonisch mit dem Hospital in Verbindung. Einer der beiden Polizeibeamten, die sich am Bett des Sterbenden befanden, teilte ihm mit, daß der »Salpeter-Ede« noch immer nicht das Bewußtsein wiedererlangt habe.
»Weichen Sie nicht vom Platze. Notieren Sie alles, was er sagt. Vermutlich wird er den Namen seines Mörders nennen, bevor er die Augen schließt«, erklärte Raynor. »Bitten Sie die Ärzte und Schwestern, die Polizei in diesem Falle zu unterstützen. Es ist keine Rettung möglich, sagen Sie?«
»Unter keinen Umständen, Inspektor. Die Kugel ist durch und durch gegangen. Er ist ein alter Mann, und die innere Blutung konnte erst auf operativem Wege gestillt werden. Er befindet sich noch auf dem Operationstisch.«
Raynor ließ Chatterton vorführen. Der Rechtsanwalt erschien. Er war mürrisch und trotzig.
»Nehmen Sie Platz,« sagte Raynor, »ich habe Sie zu fragen, wie es kam, daß der ›Salpeter-Ede‹ erschossen worden ist?«
»Lassen Sie es sich bloß nicht einfallen, mich mit infamen Verdächtigungen zu belästigen,« schrie Chatterton voller Wut, »sonst sorge ich dafür, daß Sie Ihre Uniform ausziehen.«
»Die Uniform werde ich vielleicht aus Wunsch des Polizeichefs ausziehen müssen,« entgegnete Raynor, indem er nachdenklich seine Finger über die blanken Knöpfe gleiten ließ, »wenn ich dem Mord nicht auf den Grund komme. Auf diese Weise verliere ich vielleicht meine Knöpfe. Aber ich weiß einen anderen kleinen, blanken Knopf, einen elektrischen Knopf – vielleicht auch einen elektrischen Schalter – natürlich, es ist ein Schalter –, und der befindet sich in Sing-Sing, der für Sie unter Umständen von einer gewissen Bedeutung sein dürfte, falls es mir nicht gelingen sollte, den eigentlichen Schuldigen an diesem Mord zu fassen.«
»Soll das eine Drohung sein, he? Wollen Sie vielleicht mich mit diesem Mord belasten? Wahnsinn! Wo ich gerade den Mann gegen Kaution freigebracht habe!«
»Möglich, daß es Wahnsinn ist. Aber ich bin leider nicht bei seiner Ermordung zugegen gewesen. Sie sind ein Rechtsanwalt. Ich bin lediglich ein Polizeibeamter. Wenn Sie Ihre Aussage verweigern wollen, so können Sie es tun. Wachtmeister, führen Sie bitte diesen Herrn in seine Zelle zurück. Registrieren Sie ihn wegen Mordes an dem ›Salpeter-Ede‹. Wenn er einen Verteidiger haben will, bestellen Sie ihn her.«
»Kommen Sie!« Der Beamte packte Chatterton am Arm. Dem Anwalt wurde es rot vor den Augen. Er zuckte zurück und setzte sich wieder auf seinen Stuhl.
»Ich verweigere durchaus der Polizeibehörde nicht meine Aussage,« erklärte er, »ich wende mich lediglich gegen Ihre Einschüchterungsmethode. Was haben Sie mich zu fragen?«
»Ich bitte Sie, mir meine erste Frage zu beantworten. Wie ist es dazu gekommen, daß der ›Salpeter-Ede‹ erschossen wurde?«
»Das weiß ich nicht.«
»Haben Sie keinen Schuß gehört?«
»Nein.«
»Wo haben Sie und er sich befunden?«
Chatterton beschrieb die Lokalität. Der vorläufige Rapport, den der Inspektor vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte, stimmte mit der Schilderung des Anwalts überein.
»War der Mörder auf der Straße?«
»Mag sein. Ich habe ihn jedenfalls nicht gesehen. Aber dürfte sich das nicht aus der Richtung des Einschusses ergeben?«
»Derartige Befunde pflegt die Polizei nicht aufzunehmen, solange der Betreffende noch lebt«, erklärte Raynor. »Der ›Salpeter-Ede‹ war noch am Leben, als ich eben mit dem Hospital telephoniere. – Können Sie mir irgendeinen Hinweis geben, wer nach Ihrer Meinung ein Interesse an seiner Ermordung gehabt haben kann?«
»Ich habe den armen Kerl seit Monaten und Monaten nicht gesehen gehabt, bis heute morgen. Er hatte seine Tätigkeit, wie Sie ja wohl aus meinen Erklärungen gegenüber dem Polizeigericht entnommen haben.«
»Ja,« meinte Raynor nachdenklich, »ich erinnere mich, aber ich habe Sie, soviel ich weiß, nicht den Namen der betreffenden Firma oder ihr Domizil nennen hören. Es besteht schließlich eine gewisse Möglichkeit, daß jemand von seinen Mitarbeitern in der Fabrik in diese Mordsache verwickelt ist, falls Sie selbst nicht daran beteiligt sein sollten.«
Chatterton starrte ihn an. »Inspektor Raynor, Sie können doch nicht ernstlich glauben, daß ich einen Menschen gegen Kaution freibringe und ihn dann töte oder töten lasse. Das ist doch lächerlich geradezu.«
»Rechtsanwalt Chatterton, ich hätte auch ernstlich nicht daran geglaubt, daß meine Leute in Ihrer Wohnung einen Mann mit den sämtlichen bei Mrs. Winthrop erbeuteten Juwelen festnehmen würden. Aber nichtsdestoweniger haben wir Brownie Joe dingfest gemacht, während Sie sich vor dem Polizeigericht bemühten, den ›Salpeter-Ede‹ freizubringen. Das ist Ihnen ja auch gelungen. Dann hat ihn jemand erschossen. Also, wo war er in New Jersey angestellt?«
Salomon Chatterton wand sich. Er sah sich vor der Möglichkeit, aus dem Anwaltstande ausgestoßen zu werden, falls man seine Berufsmethoden allzu scharf unter die Lupe nahm, und das hieß für ihn, daß die fetten Honorare aufhören würden, die er von den Geiern der Nacht bei ihren verschiedenen Verhaftungen durch die Kriminalpolizei zu erhalten pflegte. Also versuchte er sich aus der Affäre zu ziehen, um sich seine berufliche Stellung zu sichern.
»Sie spielen, soweit ich sehe, auf Joseph Goodman an, Herr Inspektor?«
»Das ist bombensicher, Herr Rechtsanwalt.«
»Er ist wiederholt mein Klient gewesen. Vermutlich hat er bei mir im Bureau angerufen gehabt und hat mich, da ich dort nicht war, in meiner Wohnung aufgesucht.«
»Ganz zweifellos, mein Verehrtester. Aber wenn er in Ihr Bureau gekommen wäre, hätte ich ihn dort durch zwei andere Beamte festnehmen lassen. Es ist also Ihr Glück oder Unglück – wie Sie es nehmen wollen –, daß Sie gerade für den ›Salpeter-Ede‹ plädierten. Aber nun zum dritten und letzten Male: wo war der ›Salpeter-Ede‹ angestellt.«
»Bitte geben Sie mir das Telephonbuch. Ich werde Ihnen sofort sagen, wo die Firma ist. Aber es ist beinahe fünf Jahre her, daß ich draußen war, um mich für ihn dort einzusetzen, ich habe die Adresse wirklich nicht mehr im Kopf.«
Chattertons Zähne klapperten, als er die Seiten des Telephonbuches durchblätterte. Er wies auf den Namen: »Bosanquet, Barnum & Co., Chemische Fabrik, Hoboken, New Jersey.«
»Sie wissen es genau?« forschte Raynor. »Sie wissen, was für Sie davon abhängt!«
»Ganz genau.« Chatterton sah wieder etwas zuversichtlicher aus. »Kann ich nunmehr entlassen werden?«
»Ich bedaure, Herr Rechtsanwalt. Noch nicht. Sie wissen ja, wir müssen rigoros sein. Selbstverständlich, nicht wahr? Sie haben ja selbst oft genug erlebt, daß die Polizei ihre Fälle nicht ganz lückenlos behandelt hat. Aber in diesem Falle hier können wir uns eine solche Lücke nicht leisten.« Wieder spielten seine Finger mit den blanken Knöpfen der Uniform. »Ich möchte meinen Rock noch gern ein Weilchen anbehalten, wenn es möglich ist, und der Polizeichef ist außerordentlich streng, kann ich Ihnen nur sagen.«
Chatterton brach fast zusammen.
»Ich soll in die Zelle zurück?«
»Ich bedaure, daß ich keine andere Möglichkeit für Sie sehe. Sie sind als Zeuge, als Augenzeuge für uns von unentbehrlicher Wichtigkeit.«
»Das Gesetz sieht die Enthaftung von Augenzeugen gegen eine Kaution vor, wenn die Betreffenden eine entsprechende soziale Stellung haben.«
»Ihre soziale Stellung war für uns absolut über jeden Verdacht erhaben, bis wir Brownie Joe mit dem gestohlenen Gut verhaftet haben«, erwiderte Raynor lächelnd. »Aber ich muß befürchten, daß das Gericht den Polizeichef einer gewissen Fahrlässigkeit bezichtigen würde – und Sie wissen ja, Gerichtshöfe sind manchmal gerade höheren Polizeibeamten gegenüber recht unangenehm kritisch –, falls wir Sie gegen Kaution freilassen würden. Ich werde Sie morgen aber bereits vor den Polizeirichter bringen, denselben, vor dem Sie heute in Sachen des ›Salpeter-Ede‹ erschienen sind.« Es klopfte an der Tür, und Raynor unterbrach sich. »Herein, bitte.«
Der Schutzmann, der Salomon Chatterton an der Mordstelle verhaftet hatte, trat ein, grüßte, ging auf den Inspektor zu und beugte sich flüsternd zu ihm herab.
»Der ›Salpeter-Ede‹ ist tot. Kurz vor seinem Ableben hat er noch für einen Augenblick das Bewußtsein wiedererlangt. Der Arzt fragte ihn: ›Wer hat Sie erschossen?‹ Der ›Salpeter-Ede‹ setzte an, den Namen zu nennen, aber er kam nur bis zu den Worten, – ›Salomon Chat –‹ und war hinüber.«
Der Schutzmann grüßte und verschwand.
Inspektor Raynor gab die eben empfangene Nachricht an Rechtsanwalt Chatterton weiter und fügte hinzu: »Sie sehen also selbst, daß ich gebunden bin, Herr Rechtsanwalt.«
»Unsinn! Diese Aussage hat nicht den mindesten Wert gegen mich, das wissen Sie ganz genau. Wenn die Aussage eines oder einer Sterbenden rechtliche Bedeutung haben soll, dann muß dem oder der Betreffenden ausdrücklich erklärt werden, daß der Tod unausbleiblich bevorsteht. Erst nach Anhörung der Erklärung, daß der Tod unausbleiblich ist, darf die Frage gestellt werden, auf die der oder die Sterbende zu antworten hat, wer sie oder ihn tödlich verletzt hat«, fauchte der Rechtsanwalt.
»Über diese technischen Fragen«, meinte Raynor, »wird das Gericht zu entscheiden haben, sobald es zur Verhandlung kommt. Ich werde den Mordverdacht gegen Sie aufrechterhalten, bis ich einen Beweis finde, daß jemand anderes den ›Salpeter-Ede‹ ermordet hat. Vielleicht überlegen Sie sich die Angelegenheit und unterstützen mich mit Ihren Vermutungen.«
Er drückte auf einen Klingelknopf. Ein Polizeibeamter erschien.
»Verbringen Sie den Gefangenen in eine Zelle, Einzelhaft für vierundzwanzig Stunden. Mordverdacht.«
Inspektor Raynor handelte durchaus in den Grenzen des Rechtes. Seine Leute hatten die Umgebung der Mordstelle nach irgendeiner Waffe abgesucht, ohne etwas zu finden. Der Schutzmann hatte erklärt, daß der »Salpeter-Ede« mindestens fünf Minuten auf dem Trottoir gelegen hatte, bevor er zur Stelle war. In diesen fünf Minuten konnte die Waffe von fünf Spießgesellen wegmanipuliert worden sein. Schaum-Schmul blieb also diesmal in den Maschen des Netzes hängen, das er sich selbst gelegt hatte, dank Detektiv Roger Warren.
Aber die Festsetzung Salomon Chattertons und seine Fernhaltung von jeder Verbindungsmöglichkeit mit Murdock, und damit auch die Gewißheit, daß Brownie Joe Goodman nicht gegen eine Kaution auf Grund der Habeas-Corpus-Akte freigelassen werden konnte, waren bei aller Bedeutsamkeit doch unwichtig gegenüber den Ergebnissen, die Inspektor Raynor mit seinem nächsten Schritt erreichte.
Er ließ Detektiv Hartley rufen, einen der beiden Beamten, die Brownie Joe und Harry Gregory verhaftet hatten.
»Begeben Sie sich zu der hier verzeichneten Adresse«, sagte er und gab ihm einen Zettel mit dem Namen Bosanquet, Barnum & Co., Hoboken. »Seien Sie vorsichtig. Ja nicht die Milch verschütten! Suchen Sie herauszubekommen, ob der ›Salpeter-Ede‹ tatsächlich dort gearbeitet hat, wie lange, bei welchem Gehalt, was seine besondere Tätigkeit war, und ob er irgendwelche Streitigkeiten mit irgendeinem Angestellten gehabt hat. Vermeiden Sie aber jede Komplikation mit der New-Jerseyer Polizei. Holen Sie sich in aller Ruhe Ihre Informationen und so weiter, und kommen Sie so rasch wie möglich wieder zurück. Falls ich nicht hier sein sollte, werde ich dafür sorgen, daß Sie mich erreichen können.«
Raynor war genau so wie Montrose der Wahrheit auf den Fersen, und er ließ sich durch nichts von ihrer Verfolgung abhalten oder sich gar entmutigen. Die Spuren, die er hatte, waren recht karg. Aber er holte heraus, was er nur konnte.