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Die »Haken-Mary« Mallory hatte Murdock und Gregory das Bureau verlassen sehen wie zwei Gespenster aus einer versunkenen Welt.
Als der »Masken-Micky« anrief, hatte sie ihm bestellt, wo er Murdock telephonisch erreichen könnte, und den Hörer wiederangehängt. Ihre Arbeit war damit getan. Sie saß und las immer und immer wieder die knappe und lebendige Schilderung ihrer angeblichen Verhaftung. Es war wie der Duft von lang, lang entschwundenen Zeiten.
Und nicht anders erschien ihr die Reproduktion der Photographie aus jenen längst versunkenen Jahren. Um ihr Bild gruppierte sich eine Reihe von kleineren Zeichnungen, die sie darstellten, wie sie einst gewesen war, flott und hübsch, die Figur schlank und geschmeidig, der Mund mit den keck geschwungenen Lippen, die Augen leuchtend und verlangend. Und dann das Bild, wie sie einem am Boden liegenden Schutzmann auf der Brust herumtritt mit fliegenden Röcken, die ihre schmalen Knöchel und die Füße und Schuhe mit den hohen Hacken sehen lassen; und die Wiedergabe der Szene, wie sie sich einem jüngeren Polizeibeamten freiwillig ausliefert, und zu guter Letzt die Wiedergabe der nächtlichen Polizeigerichtssitzung, in deren Verlauf sie dank der Macht der Bande in der Alten Mühle wieder freigelassen wurde.
Alles, alles sahen ihre furchtumschatteten Augen wieder. Die toten Jahre stiegen gespenstisch aus ihren Särgen. Ihr totes Selbst wurde wiedergeboren. Der Vorhang, der sich über die »gute alte« Zeit gesenkt hatte, war plötzlich durchwoben mit goldenen Fäden, und ihre Phantasie sah einen jungen Glanz über der Gegenwart.
Sie gedachte der Nächte, da sich Zimbelklänge und bacchischer Trommelschlag in die sanften, seufzenden Töne der Geigen und die volle Musik der Tasten gemischt hatten, da der »Masken-Micky« getanzt hatte und alle seinem Schwung gefolgt waren.
Mary Mallory sah die Bilder alle und murmelte vor sich hin: »Du großer Gott, das bin ich einst gewesen!«
Sie schüttelte den Kopf, und ihr verzagter Blick traf die Uhr. Noch fehlten zwei volle Stunden von ihrem Arbeitstage.
Ihr Gefühl und ihr Verstand revoltierten. Einst hatte das Leben ihr die schäumende, berauschende Schale unerschöpflicher Sorglosigkeit an die Lippen gehalten. Sie hatte davon getrunken, bis etwas seltsam Süßes, seltsam Geheimnisvolles ihr Herz berührt hatte. Dieses Etwas war es gewesen, um dessentwillen sie ihr »ehrbares Leben« begonnen hatte.
Die »Haken-Mary« hatte ihr Herz an einen Mann verloren, der nichts von ihrer Liebe ahnte und nie von ihr erfuhr. Um dieses Mannes willen hatte sie der Bande in der Alten Mühle den Rücken gekehrt.
Als sie in ihrer Handtasche nach ihrem Taschentuch suchte, fiel ihr Blick auf den kleinen Spiegel. Sie betrachtete sich. All die tiefen Falten, die Angst in ihren Augen, die Welke ihrer Lippen, wem hatte sie sie zu verdanken? Einzig und allein Harry Gregory, dem energischen, klugen Schurken, dem sie einst die Brieftasche »geklaut« hatte. Aber das war vor der Zeit ihrer Liebe gewesen. Gregory hatte sie wieder entdeckt, nachdem sie ihr ehrliches Leben begonnen hatte, und sie bedroht. Er hatte ihr den jungen, himmlisch zarten Traum zerstört, daß sie einst den Mann ihrer Liebe würde heimführen können.
Gregory hatte sie vor die Wahl gestellt, ins Zuchthaus zu wandern oder ihm ein schriftliches Geständnis ihres Diebstahls auszuhändigen. Darauf hatte er ihr die Anstellung mit einem Gehalt von fünfzehn Dollar die Woche angeboten. Aber von jedem Wochenlohn mußte sie ihm vier Dollar abbezahlen. Und er hatte auch die Zinsen für sein »Darlehen« in Rechnung gestellt. All die langen Jahre zahlte und zahlte sie ihm, nur um nicht wie der »Mappen-Gusset« für zehn Jahre nach Sing-Sing zu müssen.
Die monatlichen Briefe, die ihr Mann, Benny Smart, von seinem Stiefbruder aus dem Zuchthaus empfing, waren zwölf Mahnungen im Jahr an die Macht, die Gregory über sie hatte. Sie wußte, daß Gregory ein Verbrecher war. Aber er war ein Verbrecher ersten Ranges. Sie hätte ihn denunzieren können, aber das hätte dem Ehrenkodex widersprochen, der bei der »Haken-Mary« die Stelle des Gewissens vertrat. Außerdem, wer hätte ihr ein Wort von dem geglaubt, was sie erzählt hätte?
Sie hatte den Mann ihres Herzens nie vergessen, wenn auch sie von ihm und der ganzen Welt vergessen war, bis zu der Stunde, da jetzt ein junges Mädchen verhaftet worden war, die der noch nicht verglommene Glanz ihres Namens zu ihrer Zelle geleitete. Die »Haken-Mary« Mallory hatte nie gelernt, daß es gerade die Kleinigkeiten sind, die des Menschen Schicksal entscheiden, daß das Große meist nur in phantastisch gewobenen Träumen zur Entscheidung führt.
Sie schloß das Bureau ab und begab sich in das Erdgeschoß zu dem Lagerverwalter.
»Ich gehe nach Hause«, erklärte sie ihm. Ihr Portemonnaie enthielt all das Bargeld, das man ihr für die kleineren Tagesausgaben des Bureaus zu behändigen pflegte. Es war etwas weniger als dreihundert Dollar.
Der Lagerverwalter starrte sie an. »Mr. Gregory wird wenig erfreut darüber sein. Sind Sie krank?«
»Ja–a. Bestellen Sie ihm nur, er hätte mich krank gemacht. Er mag zum Teufel gehen!«
Es war nicht Mrs. Mary Mallory, die diese Worte sprach. Sie kamen aus dem Munde der auferstandenen »Haken-Mary«, die jetzt sorglos und beglückt von dem Zug aus dem Becher der Erinnerung das Geschäft verließ. Sie winkte sich eine Autodroschke und fuhr in die Stadt. Sie kaufte blind drauflos: ein Kleid, einen Hut, ein Paar Stiefel, Strümpfe, Unterwäsche, Handschuhe. Und dann fuhr sie verschwenderisch mit all ihren Paketen in dem Auto, das so lange hatte warten müssen, nach Hause. Sie gab dem Chauffeur ein fürstliches Trinkgeld. Als sie ihr schmuckes Wohnzimmerchen betrat, fiel sie über Benny Smarts Füße, der verschlafen auf dem Boden lag.
»Was is los?« In seinen hervorquellenden Augen lag ein Schimmer von Glück und erhabener Feierlichkeit.
»Na, du Kokser!« Die »Haken-Mary« zog ihn am Ohr. »Zweimal habe ich dir nun schon die Geschichte abgewöhnen müssen. Und nun bist du wieder so weit. Kümmere dich um deine Angelegenheiten. Ich habe Schluß gemacht mit dem ganzen Mist. Endgültig Schluß. Das ist los. Wenn dir's nicht paßt, scher dich zum Teufel. Du kommst ja doch nur, wenn du nichts zu fressen hast oder besoffen bist oder so.«
Sie verschwand in ihrem Schlafzimmer. Ihr überraschter Ehegatte, der langsam aus dem Dämmer der Kokaindosis, mit der er sich für die Ermordung des »Salpeter-Ede« Mut gemacht hatte, wieder zu sich kam, hörte sie die Schreibtischschublade aufziehen, in der sie Gregorys Revolver verwahrt hatte. Er lag noch an seinem Platz. Der listige, halbverrückte alte Droschkenkutscher hatte sie hübsch wieder in sein Versteck gebracht und bei dieser Gelegenheit nach Geld gestöbert, um sich ein neues Quantum »Koks« beschaffen zu können.
Die »Haken-Mary« summte eine vergnügte Melodie vor sich hin.