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5.
Ein Umweg

Warren nickte nur. Er hatte das junge Mädchen gleich beim ersten Blick erkannt. Er sah sie, wie sie war, jung, hübsch anzusehen, verführerisch, aber eigensinnig, launenhaft, leichtsinnig. Aber er befand sich in ihrem Hause, und sie war bestraft genug durch den Anblick des Toten zu ihren Füßen. Das hätte er ihr gern erspart gehabt. Mit dem Leichnam im Zimmer, mußte sie empfinden, in welch schwerer Gefahr ihr Vater geschwebt hatte. Auch von diesem Gefühl hätte er sie lieber verschont gesehen. Er ließ von neuem seine Blicke auf ihr ruhen. Murdock fing sie auf und, gerissen wie er war, tat er das Seine, um für sich den besten Nutzen daraus zu ziehen. Er hatte sich alles überlegt. Er wußte, daß er den Mann getötet hatte. Er wußte auch, daß er Grund genug gehabt hatte, ihn zu töten. Aber er hatte eine falsche Aussage gemacht, und da er nun einmal gelogen hatte, mußte er seine Lüge möglichst zu erhärten suchen. Also begann er:

»Meine Tochter, Mr. Warren! Jawohl, meine Tochter. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, nicht wahr, Audrey? Ein kleiner Dickkopf wie ihr Vater und noch nicht recht daran gewöhnt, Order zu parieren!«

Warren bemühte sich, ihm beizustimmen, aber sein Lächeln war nicht ganz echt. Er lehnte sich gegen eine Ecke des Schreibtisches, als ob ihn eine plötzliche Müdigkeit überkäme. Seine Augen ruhten nicht ohne Wohlwollen auf dem jungen Mädchen, die ihr tränenbenetztes Gesicht noch immer an des Vaters Schulter barg.

»Audrey, mein Kind,« fuhr Murdock fort, »das ist Mr. Warren, ein Kriminalbeamter von der Hauptpolizei. Er war zufällig hier in der Nähe. Er hat den Einbrecher ins Haus steigen sehen, und ist ihm gefolgt. Wenn er nicht gewesen wäre, läge jetzt dein Vater hier an Stelle des Toten. Übrigens, Mr. Warren, ich habe Ihnen noch gar nicht gratuliert zu Ihrer glänzenden Schießleistung. Was für einen Revolver benutzten Sie eigentlich?«

»Einen Polizeirevolver, Mr. Murdock, Kaliber 0,75.«

»Einen Selbstlader?«

»Nein, einen ganz gewöhnlichen Revolver.«

Murdock nickte nur. Er wußte jetzt, was er wissen wollte. Seine eigene Waffe war vom gleichen Kaliber. Ein Grund mehr, daß die Polizei nicht erfahren würde, daß er und nicht Warren den Mann getötet hatte.

Audrey machte sich langsam aus den Armen ihres Vaters los. Sie stand auf und ging um den Schreibtisch herum auf Warren zu. Sie griff nach seiner Hand. Er zog sie zurück. Ihr Blick verriet ihr Erstaunen, aber dann sah sie seine Hand. Sie war feucht und rot.

»Ach, Sie sind verletzt?« Sie wurde blaß, als sie den Blutfleck auf seinem Regenmantel und die Tropfen von seiner Hand rinnen sah.

»Nur eine Schramme«, sagte er, um sie zu beruhigen. »Der Polizeiarzt wird gleich kommen. Darf ich Sie um einen Schluck Wasser bitten, Mr. Murdock?«

Murdock ging in die Halle hinaus, wo er Gregory begegnete, der sich ebenfalls die andere Treppe hinauf gestohlen hatte. Er hielt den Finger an die Lippen und nickte seinem jüngeren Kompagnon verständnisinnig zu.

Währenddessen bestand Audrey darauf, daß Warren seinen Mantel ablegte und half ihm dabei. Die Dankbarkeit, daß er ihrem Vater das Leben gerettet hatte, und das Gefühl der Reue über ihren Ungehorsam gegen sein Verbot, in das Bibliothekzimmer zu gehen, verdoppelten ihre Besorgtheit.

Ihre Hand suchte nach dem ersten besten Gegenstand, der als Bandage zu verwenden war. Es war das Stück Seide, das auf Murdocks Schreibtisch liegengeblieben war, als er die Pistole wieder in das Schubfach getan hatte. Audrey verband geschickt die Wunde. Eine von des Einbrechers Kugeln hatte Warrens rechten Oberarmmuskel dicht unter der Schulter gestreift. Sie steckte die Binde mit ein paar Nadeln fest, die sie aus dem Blumenbüschel an ihrem Kleide zog. Für Warren war es eine härtere Prüfung als der Zweikampf mit dem Einbrecher, wenn auch aus einem etwas anderen Grunde.

Aber sie beide vergaßen den Toten. Sie vergaßen ganz den merkwürdigen Anlaß, der sie zusammengeführt hatte. Als Murdock eilig mit einem Glas Wasser zurückkam, standen die Zwei und sahen einander halb verstohlen an. Warren dankte und trank pflichtschuldigst. Murdock konnte nicht ahnen, daß der verwundete Kriminalbeamte inzwischen einen weitaus kräftigerenden Zug aus himmlischem Gefäße getan hatte. Was er hingegen wußte, war, daß sein Geheimnis gesichert war, und daß Audrey ihm dabei geholfen hatte, es gegen Entdeckung zu schützen.


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