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6.
Noch ein Umweg

Während Warren seinen Mantel wieder anzog, erschien das Fähnlein Polizeioffiziere von der Distriktshauptwache. Audrey verschwand aus dem Bibliothekzimmer, blieb aber in Reichweite.

Polizeiinspektor Montrose, Kommissar Marsh und Polizeiarzt Dell waren die Neuankömmlinge. Warren berichtete in aller Kürze die näheren Umstände und stellte sich Kommissar Marsh formell als Mörder. Selbstverständlich wurde er sofort entlastet, aber nichtsdestoweniger war es doch Vorschrift, daß er sich am nächsten Morgen in offizieller Gerichtsverhandlung verantworten und rechtfertigen mußte.

»Soll ich Ihren Arm untersuchen?« fragte Doktor Dell.

»Miß Murdock hat einen ersten Verband gemacht, Herr Doktor, aber wenn Sie wollen –«

»Ich glaube, ich sehe mir lieber den Kerl da etwas an. Wollen Sie Urlaub für den Rest der Nacht, Warren?«

»Ich bin sowieso um Mitternacht fertig«, gab Warren zur Antwort. »Es muß doch ziemlich so weit sein. Wenn nichts weiter vorliegt, möchte ich aber gern nach Hause.«

»Gehen Sie getrost. Doch nein, es ist schon besser, wenn Sie bei unseren ersten Feststellungen noch dabeibleiben.«

Es ging rasch.

»Die Kugel ist mitten durch die Stirn ins Gehirn gegangen und hat den sofortigen Tod verursacht«, erklärte Doktor Dell. »Wie oft haben Sie schießen müssen?«

»Dreimal; ich glaube, ich habe ihn mit dem letzten Schuß getroffen.«

»Ihr erster Schuß ging wohin?«

»Ich habe auf seinen rechten Unterarm gezielt. Er hielt ihn ausgestreckt und wollte gerade feuern.«

Doktor Dell hob den rechten Arm des Toten hoch. »Sie haben ihn dicht am Ellbogen getroffen. Aber das kann ihn nicht gehindert haben, Ihren Schuß zu erwidern, scheint mir. Wie oft hat er auf Sie geschossen?«

»Zweimal. Ich stand draußen in der Halle.« Warren ging zur Tür hinaus und bezeichnete ungefähr die Stelle, wo er gestanden hatte.

Kommissar Marsh und Inspektor Montrose untersuchten die gegenüberliegende Zimmerwand. Sie fanden zwei Kugeln, die im Kalk steckten, und zogen sie heraus.

»Ihr zweiter Schuß«, fuhr Doktor Dell weiter fort, »hat ihm den rechten Oberarm gebrochen. Grund genug, daß er kein drittes Mal auf Sie feuern konnte. Ich werde den Leichnam fortschaffen lassen.«

Inspektor Montrose wandte sich nunmehr an James Murdock.

»Sie haben also den Mann vorher nicht gesehen gehabt, wie Sie wohl schon Detektiv Warren gesagt haben?«

»Niemals«, antwortete Murdock. »Er erschien ganz unerwartet. Ich hatte auch nicht den mindesten Verdacht, daß ein Verbrecher im Hause sein könnte. Er forderte Geld von mir.«

»Erinnern Sie sich genau seiner Worte?«

Murdock zögerte. »Ich glaube kaum. Ich war zu erschrocken bei dem Anblick des bewaffneten Mannes. Und dann – schoß er auf mich, oder ich glaubte vielmehr, daß er geschossen hätte. Ich war nicht getroffen, aber ich hatte das Gefühl, als ob ich tot sein müßte. Ich war völlig konfus, in meinen Gedanken, meine ich. Tatsächlich, ich glaubte, ich wäre tot, bis ich schließlich mein Herz unverändert klopfen fühlte.«

Diese Mischung von Wahrheit und Dichtung wirkte durchaus überzeugend auf die Zuhörer. Murdocks ganze Art zu sprechen, schaltete jeden Verdacht aus.

Inspektor Montrose nickte. »Das hätte ja gerade noch gut geklappt«, sagte er. »Na, nun wollen wir uns mal das Hinterfenster näher ansehen.«

Der Riegel war weggebrochen. Das Stemmeisen lag draußen auf dem Boden. Bei dem tobenden Wind in der Stadt und dem Lärm der Gesellschaft im Hause, war es durchaus verständlich, daß das Aufbrechen des Fensters nicht gehört worden war.

Entgegen den sonstigen Gepflogenheiten wurde der Körper des Toten zum Hauptpolizeiamt beordert. »Ein Fall in der Fifth Avenue muß mit aller Sorgfalt behandelt werden«, erklärte Inspektor Montrose. »Es wird sich schon herausstellen, wer der Mann gewesen ist, wenn ihn unsere Leute sehen. Außerdem können sie seine Fingerabdrücke nehmen. Auf alle Fälle ist er besser in der Hauptpolizei aufgehoben.«

Warren war schon unten an der Tür und bereit, mit den anderen Beamten das Haus zu verlassen, als Audrey die Treppe herabeilte. Sie hatte ihre Gesellschaftstoilette mit einem Straßenkleid vertauscht. Der Regensturm tobte ja noch immer.

»Sie müssen mir schon erlauben, Sie mit meinem Auto zu fahren, wohin Sie wollen«, sagte sie zu Warren.

Er lächelte. »Aber mir fehlt ja nichts. Meinen besten Dank.«

»Sie sind verwundet,« erwiderte sie.

»Ich gehe direkt nach Hause. Ich lebe mit meiner Mutter zusammen.«

»Dann fahre ich Sie eben nach Hause. Ich habe mein Auto schon bestellt. Ich habe auch Papa gesagt, daß ich Sie fahre, und er war ganz damit einverstanden.«

Warren gab nach. Nicht ganz ungern. Er war ja jetzt »außer Dienst«, und was mehr bedeutete, es war für ihn eine nicht unwillkommene Gelegenheit, einmal für einige kurze Minuten in »erster« Gesellschaft zu sein. Audreys Auto fuhr vor dem Haupteingang vor, und sie stiegen ein, gerade als am Hintereingang der Tote von dem Polizeiwagen zur Leichenhalle abgeholt wurde.

Während der Leichenwagen unten vorgefahren war, hatte man den Toten einen Augenblick unbeaufsichtigt gelassen. Diesen Augenblick benutzte Gregory, um sich heimlich in das Bibliothekzimmer zu schleichen und einen Blick auf den Erschossenen zu werfen.

*

Warren wohnte im zweiten Stock eines bescheidenen Etagenhauses in der 89. Straße, nicht weit vom Broadway. Die Fahrt ging Audrey viel zu rasch. Sie fuhr sehr geschickt ihren kleinen Wagen und stellte während der ganzen Zeit eigentlich nur eine Frage:

»Tut Ihnen Ihr Arm sehr weh?«

»Nicht der Rede wert. Nur ab und zu sticht's ein bißchen. Ich werde ihn zu Hause neu verbinden.«

Audrey ließ das Auto vor der Tür stehen und begleitete Warren hinauf. Mutter Warren war in der Küche beschäftigt, aber als sie die Tür öffnen hörte, kam sie sofort heraus und begrüßte ihren Sohn mit einem herzlichen Kuß.

»So eine schreckliche Nacht! Ich habe mich wirklich geängstigt, Roger.«

Er erwiderte ihren Kuß. »Es ist nichts passiert, Mutter. Bin ich denn zu spät? – Darf ich dir Miß Audrey Murdock vorstellen? Sie hat mich in ihrem Auto mitgenommen. Ich habe bei ihr zu Hause einen Einbrecher dingfest machen müssen.«

»Das ist aber nett von Ihnen«, sagte Warrens Mutter, zu dem jungen Mädchen gewandt.

»Aber nicht doch«, meinte Audrey, als sie ihr die Hand schüttelte. »Wir allein haben zu danken. Ihr Sohn hat meinem Vater das Leben gerettet. Der Einbrecher hätte ihn beinahe getötet.«

»Getötet? Mein Gott, was passiert jetzt nicht alles!« sagte Warrens Mutter entsetzt. »Aber jetzt müssen Sie eine Tasse Kaffee mit uns trinken. Ich lasse Sie nicht eher wieder fort. Ich bin gerade dabei, ihn zu machen.« Damit eilte sie wieder in die Küche.

Ein kaum hörbares Winseln und ein aufgeregtes Kratzen hinter einer zweiten Tür machten Audrey vor Schreck aufhorchen. Es klang, als ob sich jemand vor Schmerzen in seinem Bett wälzte.

»Um Gottes willen, was ist los?« fragte Audrey und trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als sie das unheimliche Geräusch vernahm. Aber Roger Warren lächelte nur:

»Das ist der beste Freund, den ich in der Welt habe. Es ist ›Wachtmeister‹, mein Hund.«

Warren ging zur Tür und öffnete sie. Ein großer Polizeihund sprang auf den jungen Detektiv zu, stellte sich hoch und legte ihm mit unterdrücktem Freudengebell die beiden Vorderpfoten auf die Schultern.

»Jawohl, das ist Wachtmeister«, wiederholte er. »Ich habe ihm das laute Bellen abgewöhnt. Es stört sonst die anderen Leute im Hause.«

Der Hund lag jetzt auf allen Vieren und ließ seinen Herrn nicht aus den Augen.

»Geh zu dem Fräulein, Wachtmeister,« wandte sich Roger an ihn, »und sage ihr guten Abend, aber hübsch leise, hörst du?«

Der Hund tappte auf Audrey zu und legte folgsam seine erhobene Pfote in ihre behandschuhte Rechte. Audrey lächelte und freute sich darüber, wie gehorsam und intelligent das Tier war.

»Wau, wau, wau«, bellte er ganz leise und vorsichtig.

»Ich freue mich, deine Bekanntschaft zu machen, Wachtmeister«, erklärte Audrey mit einer gewissen Feierlichkeit. »Ist er nicht ein famoser Kerl?« sagte sie lobend, als der Hund sich wieder zu seinem Herrn wandte. »Er bellt wirklich so leise, als ob er einen Dämpfer in der Kehle hätte.«

»Ich habe ihn auch von klein auf dressiert«, erklärte ihr Warren. »Paß mal auf, Wachtmeister! Zeig mal der Dame, was du tust, wenn ich dir sage, dort steht ein Mann in der Ecke, der mir was tun will. Ich bin der Mann, Wachtmeister. Achtung!«

Warren stellte sich in die Ecke. Wachtmeister legte sich flach auf den Bauch, den Kopf auf den Tatzen, und wandte keinen Blick von seinem Herrn. Warren scharrte mit dem Fuß. Der Hund spitzte seine Ohren und knurrte leise. Warren trat zur Seite. Der Hund hob den Kopf und knurrte lauter. Warren machte einen Ruck mit seinem Körper, und schon war Wachtmeister aufgesprungen und packte ihn mit seinen scharfen Zähnen hinten am Rockkragen. Er warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihn und zog ihn nieder auf die Erde. Dann ließ er ihn los, knurrte drohend, begab sich wieder an seinen früheren Platz und ließ den am Boden liegenden Mann nicht aus den Augen. Warren erhob sich und zog sich in seine Ecke zurück. Solange er ruhig stehenblieb, machte der Hund auch seinerseits nicht die leiseste Bewegung.

»Genug jetzt, Wachtmeister«, sagte Warren.

Audrey klatschte begeistert Beifall. »Er versteht wirklich jedes Wort, was Sie sagen«, meinte sie, als sich Warren wieder auf seinen Stuhl setzte.

»Nicht nur, was ich sage«, gab er ihr zur Antwort und streichelte dabei Wachtmeisters Kopf. »Manchmal kommt es mir vor, als ob er meine Gedanken lesen könnte. Ein Hund kann sich natürlich nicht so verständlich machen wie ein Mensch. Aber das tut seiner Klugheit keinen Abbruch. Außerdem hat er ein gutes Gedächtnis. Was er einmal gelernt hat, behält er auch. Man muß ihm nur den richtigen Unterricht geben. Selbstverständlich könnte er bei allem Verstand und allem Geschick nicht schreiben lernen, aber wenn ich ihm einen Bleistift zeige und ihm erkläre, daß der Bleistift mir gehört, daß ich ihn brauche und daß ihn niemand wegnehmen darf, dann wird er eben unter keinen Umständen zulassen, daß ihn jemand wegnimmt.«

Audrey sah bald auf den Hund und bald auf seinen Herrn. Merkwürdig, welchen Ausgang ihre Abendgesellschaft genommen hatte. Sie konnte nicht umhin, zwischen dem jungen Polizeibeamten und Freddy Carrington ihre Vergleiche anzustellen. Welch breite Kluft bestand doch zwischen den beiden. Und wenn Freddy Carrington hundert Jahre alt würde, er würde niemals zustande bringen, was für Roger Warren eine Selbstverständlichkeit bedeutete. Warren war nicht nur ein unerschrockener, blitzschnell handelnder Polizeimann, der sein Leben für das ihres Vaters in die Schanze geschlagen hatte, er war ohne Zweifel ein kluger Mensch, der viel gelernt und auch jenseits seines Berufes über manches nachgedacht hatte.

Audrey fühlte eine plötzliche, ganz seltsame Verlegenheit. Ob nun Warren es bemerkte oder nicht, jedenfalls war er viel zu taktvoll, es ihr zu zeigen. Er überbrückte das Schweigen, das jetzt entstand, und fuhr ruhig fort:

»Was Ihnen Wachtmeister eben gezeigt hat, ist bei weitem nicht alles, was er kann. Sie müßten ihn mal außerhalb dieser engen Etage in der freien Natur sehen! Es ist wirklich eine Schande, daß ich ihn hier in diesem Gefängnis halten muß. Aber mir bleibt keine andere Wahl. Und du hast mich doch auch so lieb, was, Wachtmeister?«

Wachtmeister sprang bei diesen Worten wieder auf seinen Herrn zu und liebkoste ihn mit seinen Pfoten.

»Möchten Sie gern, daß er ein bißchen mehr Freiheit hat? Das ließe sich leicht machen. Mein Vater hat sicher nichts dagegen. Wir haben ein Landhaus auf Long Island. Wenn Sie wollen, fahre ich Sie und Wachtmeister hinaus. Sie müssen es sich ansehen. Wenn es Ihnen gefällt, kann er ja ein paar Tage mit mir draußen bleiben. Wenn er will natürlich. Glauben Sie, daß er will?«

Jetzt war es an Roger, sich verlegen zu fühlen. Was Audrey zu ihrem Vorschlag bewogen hatte, verstand er sehr wohl. Sie dachte natürlich nur an den Hund und sein Wohlergehen, von dem er ja selbst eben gesprochen hatte. Aber Roger dachte an all die möglichen Komplikationen, die sich aus ihrem Vorschlag ergeben könnten.

Er war in erster Linie und vor allem anderen Polizeibeamter. Seine Berufspflicht hatte ihn mit ihr zusammengeführt. Seine Berufspflichten waren etwas Unabänderliches, und ganz abgesehen von der Entwicklung, die diese Nacht vielleicht für sein Leben bringen würde, in seinem Berufsleben konnte eine Freundschaft mit James Murdocks Tochter keinen Platz beanspruchen, und wenn auch seine Gefühle noch so unabänderlich sein mochten. Er fühlte sich wirklich stark zu ihr hingezogen. Er hatte es von dem ersten Augenblick an gefühlt, als sie seinen Arm berührte und ihm seine Wunde verband. Er bewunderte ihre Jugend, ihre Schönheit trotz all ihres launenhaften Eigensinns, mit dem sie sich seinem Befehl widersetzt hatte, ja, vielleicht gerade deshalb.

Warrens Hand spielte wieder zärtlich mit dem Kopf seines Hundes. »Hast du gehört, Wachtmeister, was Miß Murdock eben gesagt hat? Nett von ihr, was, alter Junge? Möchtest du wohl ein paar Tage mit ihr ins Freie?«

»Aber natürlich,« rief Audrey dazwischen, »ich, ich meine, wir, mein Vater und ich, meine ich, rechnen selbstverständlich damit, daß Sie auch kommen, wenn es Ihnen paßt.«

»Wir verstehen, nicht wahr, Wachtmeister?« Roger sah seinen Hund an. »Was sagst du dazu?«

»Wau, wau, wau«, bellte der Hund, stand auf, tappte gemächlich zu Audreys Stuhl, legte seine Schnauze in ihren Schoß und sah sie mit großen Augen an.

»Er sagt ja«, erklärte Warren.

Seine Mutter erschien wieder im Zimmer. »Sie denken gewiß, ich würde nie fertig werden mit meinem Kaffee? Aber er war übergekocht, während ich vorhin hier drin war, und Sie wissen ja, dann schmeckt er bitter. Wollen Sie bitte hier Platz nehmen, Miß Murdock?«

»Sehr liebenswürdig von Ihnen, aber ich glaube, ich muß jetzt machen, daß ich wieder nach Hause komme. Mein Vater wird sich schon wundern, wo ich solange stecke. Ich habe ihm versprochen, nur Ihren Sohn nach Hause zu fahren und rasch wiederzukommen. Ich würde gern bleiben, aber es ist wirklich schon zu spät. Ihr Sohn hat mir aber eben versprochen, daß ich Wachtmeister ein paar Tage mit zu uns aufs Land nehmen darf.« Damit wandte sie sich zur Tür.

»Ich begleite Sie hinunter«, sagte Warren.


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