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7.
Die Sünden der Väter

Nachdem die Gäste alle das Haus verlassen hatten und die Dienstboten sich zu einem aufgeregten Klatsch über den Einbruch und nicht minder über Audreys Gesellschaft ins Souterrain zurückgezogen hatten, begab sich Gregory zurück in das Bibliothekzimmer. Er fand Murdock noch immer an seinem Schreibtisch sitzend.

»Setz dich einen Augenblick, Harry. Ich bin gleich soweit.«

Gregory gehorchte. »Wo ist Audrey?« fragte er. »Ich habe sie ja nach dem ›Theater‹ gar nicht mehr gesehen?«

Murdock berichtete ihm alles. Gregory runzelte die Stirn. Sein älterer Kompagnon bemerkte nicht die finstere Wolke, die über sein Gesicht huschte, denn er war gerade dabei, die bewußte Schreibtischlade aufzuschließen. Seine Geschichte wies noch immer eine Lücke auf, und Murdock war nicht der Mann, der auch nur die kleinste Lücke offengelassen hätte, solange er überhaupt eine Möglichkeit sah, sie zu schließen. Und die Möglichkeit hatte er in diesem Fall.

Er nahm die verschiedenen Papiere aus dem Schubfach und legte sie auf den Schreibtisch. Dann zog er die Selbstladepistole mit dem Schußdämpfer hervor und holte aus dem hinteren Ende des Faches einen Kasten mit Patronen.

Murdock schraubte den Schußdämpfer von der Revolvermündung und säuberte sorgfältigst den Lauf der Pistole, bis keine Spur einer Entladung mehr zu entdecken war. Dann entfernte er die leere Patronenhülse und ersetzte sie durch eine volle. Den Schußdämpfer aber schraubte er nicht wieder an. Dazu war er zu klug. Er steckte ihn mitsamt dem schmutzigen Taschentuch in seine Hosentasche, tat die Waffe wieder in das Schubfach, häufte die Schriftstücke darauf und schloß es ab, alles mit ausgesuchtester Sorgfalt.

Während der ganzen Zeit sprach Murdock keine Silbe. Auch Gregory schwieg, bis er zu Ende war. Jetzt stand er auf, ging auf den Zehenspitzen zur Tür, lugte in die Halle hinaus, um auch ganz sicher zu sein, daß niemand horchte, und trat wieder an den Schreibtisch.

»Also du und nicht das Detektivjüngelchen hast Freund –«

Murdocks gebieterisch erhobene Hand hieß ihn schweigen.

»Keine Namen, wenn ich bitten darf«, sagte er streng. »Jawohl, ich habe ihn erschossen. Was blieb mir anderes übrig? Kann man wissen, ob dieser Mr. Warren ihn getroffen hätte? Wenn ich ihn nicht getötet hätte, wäre er womöglich nur festgenommen worden. Aber ganz abgesehen davon, hat er nicht den Versuch gemacht, mich zu ermorden? Sonst hätte der Detektiv ganz sicher nicht zuerst auf ihn geschossen. Zweimal hat er übrigens zurückgefeuert. Ich habe nicht nur mein Leben, sondern genau so auch das Leben des Detektivs verteidigt. Stimmt's? Laß ihn sich doch einreden, er hat ihn erschossen. Was tut das weiter zur Sache? Wenn ich ihn nicht erschossen hätte, hätte er vielleicht erst den Detektiv und obendrein mich auch noch getötet.«

Gregory überlief ein Schauer. »Ich kann Polizeibeamte nicht ausstehen«, gestand er zynisch. »Aber es scheint doch, als ob sie einem manchmal ganz nützlich sein können … wie alles Ungeziefer!«

Murdock legte seine Hände breit auf den Schreibtisch und betrachtete sie in nachdenklicher Verdrossenheit, indem er die Finger bald spreizte und bald schloß. Schließlich ballte er sie zur Faust, als ob er irgend etwas damit zermalmen wollte. Dann wandte er sich mit einem grimmigen Lächeln an seinen Kompagnon.

»Ich fürchte, ich werde langsam alt, Gregory.«

Wieder schwieg er für ein paar Sekunden gedankenvoll. Dann zog er seine Uhr aus der Tasche. »Ehe wir zum Geschäftlichen kommen, laß uns die Zeit vergleichen«, sagte er.

Gregory warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Beide stimmten genau überein.

»Wir müssen die ›Universal‹-Seidenlieferung machen«, fuhr Murdock fort. »Lies, was ich heute nachmittag geschrieben habe. Morgen oder spätestens übermorgen werden wir die Antwort darauf haben.«

Er sah Gregory mit einem nicht mißzuverstehenden Lächeln an. »Das ist alles, was ich dir zeigen wollte. Ich hätte dich sonst vorhin nicht gestört, aber du warst nicht mehr im Bureau, als der Brief kam, und du solltest wissen, was ich geantwortet habe.«

Gregory las die beiden Briefe mit aller Aufmerksamkeit und nickte beifällig.

»Verstanden?« fragte ihn Murdock.

»Absolut,« erwiderte Gregory, »wir müssen liefern und uns den Empfang bestätigen lassen. Weiter gar nichts.«

»Stimmt auffallend«, pflichtete ihm Murdock von Herzen bei. »Das wäre alles, für heute wenigstens, denke ich. Audrey wird übrigens gleich zurück sein. Eigentlich müßte sie schon da sein. Ich würde dich nicht drängen, aber – Geschäft ist Geschäft!«

Gregory streckte ihm seine Hand entgegen. Murdock erhob sich von seinem Stuhl und schlug ein. Sie sahen sich einander fest in die Augen und lächelten. Sie waren beide Geschäftsleute und gegen alle Gefahren gewappnet, die ihnen der Seidenhandel bringen mochte.

Murdock setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Er hörte, wie Gregory den Motor seines Autos anließ und von dannen fuhr. Als Audrey nach Hause kam, fand sie ihren Vater noch immer in Gedanken versunken und völlig vertieft in seine Pläne.

Sie war bei glänzender Laune. Ihre Heiterkeit wäre noch vollkommener gewesen, wenn sie nicht im Arbeitszimmer ihres Vaters noch Licht gesehen hätte. Hatte er vielleicht auf sie gewartet und sich geängstigt, daß sie so lange ausgeblieben war? Auf den Zehenspitzen schlich sie sich nach oben und lugte in das Zimmer.

»Aber Vater,« rief sie ihm zu, »was in aller Welt läßt dich so lange bei der Arbeit sitzen? Es ist wirklich an der Zeit, ins Bett zu gehen und zu schlafen!«

Murdock blickte überrascht auf. Ein Lächeln legte sich um die harten Falten auf seiner Stirn. James Murdock mochte sein, was er wollte, in seiner tiefen, ehrlichen Zuneigung zu seinem Kinde lag etwas unbedingt Versöhnliches. Und diese Vaterliebe leuchtete auch jetzt in seinem Lächeln.

»Eine Sünde und Schande,« schalt Audrey weiter und drohte ihm scherzend mit dem Finger, »daß du in deinem Alter noch so arbeitest! Habe ich nicht recht?«

»Mein Kind,« gab er ihr zur Antwort, »ich habe immer die Erfahrung gemacht, daß der Geschäftsmann, der am Abend ein paar Schritte mehr tut als nötig, am nächsten Morgen seinen Konkurrenten mindestens eine Meile voraus ist. Das ist nun einmal das ganze Geschäftsgeheimnis: den anderen voraus sein! Wenn dich die andern erst mal überholt haben, kommst du so leicht nicht wieder an die Spitze. Dann muß man eben hinterher laufen. Ich habe mein Leben lang geführt und will's auch in Zukunft!«

Audrey mußte an ihre Gesellschaft denken. Sie hatte Unsummen gekostet. Wer hätte daran gedacht, daß sie so enden würde. Dasselbe Zimmer, in dem sie jetzt stand, war Zeuge eines schrecklichen Dramas gewesen. Ein Menschenleben war ausgelöscht worden, so rasch und unversehens, wie Freddy Carrington die Lichter ausgedreht hatte, um der Nillandschaft einen besseren Effekt zu geben.

»Geh du nur ruhig zu Bett«, sagte Murdock. »Ich bin fast fertig. Ich komme wirklich sehr bald nach. Gute Nacht.«

Audrey trat auf ihn zu, schlang ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn. Dann ging sie zu Bett. Aber schlafen konnte sie nicht. Ihre Gedanken wanderten zurück zu ihrem Vater im Bibliothekzimmer. Sie sah den Toten vor sich mit seiner schrecklichen Wunde und sah den grauenvollen Blutfleck, den sie auf dem Teppich hinterlassen hatte.

Zu welchem Zwecke war der Mann wohl in ihr Haus eingedrungen? Warum mochte ihr Vater wohl in seinem Arbeitszimmer geblieben sein, statt an ihrer Gesellschaft teilzunehmen? Ihr Vater war ein reicher Mann. Er hatte einen jungen Kompagnon, der ihm eine ganze Menge Geschäfte abnahm und auf den er restlos vertraute. Warum arbeitete er bis tief in die Nacht?

Wieso war jener Mann in ihres Vaters Haus eingebrochen? Es handelte sich doch ganz gewiß nicht um ein gewöhnliches Verbrechen. Dazu ist die Fifth Avenue zu gefährlich, denn was die Privatwächter auch vielleicht versäumen, besorgt die Polizei.

Audrey setzte sich in ihrem Bett auf. Wenn es kein gewöhnlicher Verbrecher gewesen war, dann mußte der Mann doch einen besonderen Grund gehabt haben, um unter so ungewöhnlichen Umständen in ihres Vaters Haus einzusteigen? Dieser Grund aber mußte stärker sein als der Hang zur Freiheit, ja stärker als die Sorge um sein Leben.

In der Halle klangen Schritte. Audrey hörte sie nicht. Sie war in einer anderen Welt. Sie hörte nicht einmal, wie sich die Tür öffnete. Sie sah auch nicht die Blicke ihres Vaters, mit denen er ins Zimmer lugte, um sich zu vergewissern, ob sie vielleicht eingeschlafen sei, ohne das Licht auszumachen.

Audrey hatte ihre Gedanken bis ins Letzte zu Ende gedacht. Es gab für sie nur einen einzigen Grund, weshalb der Mann bei Gefahr seines Lebens – – –

»Aber Audrey! Schläfst du denn noch nicht?«


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