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Hotel Raleigh!« rief Murdock dem Mann zu, der ihm am Bahnhofsausgang eine Autodroschke besorgt hatte und drückte ihm ein Trinkgeld in die ausgestreckte Hand. »Und Sie? Kommen Sie nur mit mir mit, alter Knabe! Sie haben mir gestern abend leider Ihren Namen vorenthalten, nicht?«
»Mein Name ist Dean, Ingenieur Dean. Und der Ihrige?«
»James Murdock. In der Seidenbranche. Aus New York. Ach, kommen Sie nur. Die Droschke kostet für zwei nicht mehr als für einen. Wollen Sie lange hier in Washington bleiben?«
Damit rollten die beiden außer Sicht. Detektiv Daniels, der das Ziel der Fahrt hatte nennen hören, wandte sich gemächlich zur Straßenbahn. Er würde die zwei ja im Hotel wiederfinden.
»Wie lange kann ich nicht genau sagen. Es handelt sich um eine große Sache. Aber ich bin von den anderen abhängig. Ich kann nicht wissen, was die vorhaben. Vielleicht klappt's, und vielleicht geht's schief.«
Daniels betrat die Hotelhalle und spielte den typischen knickerigen Reisenden. Selbst die Hilfe des Liftboys, der ihm aufmerksam seine Reisetasche abnehmen wollte, wies er ab. Murdock und Dean begaben sich gerade in das Frühstückszimmer. Daniels ließ sich ein Zimmer geben, trug seine Handtasche selbst hinauf und kam rasch wieder nach unten. Dann zog er sich zurück und schickte ein Telegramm an Inspektor Montrose, das für den Aufnahmebeamten absolut nichtssagend war, aber für den Empfänger alles enthielt, was er wissen wollte. Darauf frühstückte Daniels in aller Eile sehr einfach in einem Automaten-Restaurant in der Nachbarschaft. Als er wieder ins Hotel zurückkam, vergrub er sich hinter einer Zeitung und wartete auf seinen Kompagnon und Murdock.
Sie erschienen sehr bald, um in einem Auto zum Kapitol zu fahren. Daniels begab sich mit der Straßenbahn eben dahin. Murdock ging in das Gebäude hinein. Dean erwartete seinen Kollegen auf der Außentreppe.
»Ich habe an den Inspektor telegraphiert,« brummte Daniels, »daß alles in bester Ordnung ist und daß Sie unseren Mann in der Schere haben.«
»Sehr schön. Aber jetzt müssen Sie sich mal seiner annehmen. Ich muß etwas außer Sicht bleiben fürs nächste. Da kommt er.«
Dean versteckte sich hinter einer der großen Säulen. Daniels schlenderte, anscheinend ganz in seine Zeitung versunken, an Murdock vorbei und beobachtete, wie er auf das Senatsgebäude zuschritt. Er ließ ihn nicht aus den Augen. Murdock traf einen stattlichen Herrn, mit dem er in angeregtester Unterhaltung und vergnügt zurückkam.
»Wer ist dieser gut aussehende Herr?« fragte Daniels einen Diener in der Wandelhalle des Kapitols.
»Das ist Senator Sylvanus. Ein großes Tier. Mitglied des Finanzausschusses«, erwiderte der Befragte.
»Schönsten Dank. Ich habe mir gleich gedacht, daß es wer Besonderes sein mußte«, erklärte Daniels. Der Lift schnellte seine Beute außer Sicht.
Der Senat trat um zwölf Uhr zusammen, und vorher erschienen denn auch Murdock und Sylvanus wieder. Daniels hatte inzwischen wieder mit seinem Partner gewechselt. Es war also Dean, der jetzt auf und ab ging, als ob er irgend jemand abpassen wollte. Plötzlich stand er Murdock Angesicht zu Angesicht gegenüber.
»Halloh,« rief Murdock, »na, wie klappt denn Ihre Geschichte?«
»Ich suche meinen Mann«, erklärte Dean mit einer Mischung von Falschheit und Ehrlichkeit, die Murdocks würdig gewesen wäre. »Hören Sie mal, das ist aber hier ein fabelhaftes Gebäude!«
»Darf ich Sie bekannt machen mit Senator Sylvanus«, sagte Murdock. »Ein alter Jugendfreund von mir. Darf ich vorstellen, Mr. Dean, Ingenieur aus New York. Hat hier Geschäfte. Habe ihn zufällig auf der Reise kennengelernt.«
Murdock sorgte dafür, daß das Alibi seines Lebens keine Lücke aufwies. Wenn Dean und Daniels nicht ausdrücklich auf Inspektor Montroses Veranlassung auf ihren Posten geschickt worden wären, hätten sie aller Wahrscheinlichkeit nach angenommen, daß es sich um einen völlig unberechtigten Verdacht gegen Murdock handelte. Schließlich pflegen Senatoren sich nicht mit Verbrechern an einen Tisch zu setzen.
Senator Sylvanus wechselte die üblichen liebenswürdigen Redensarten mit Mr. Dean. Dann ging er mit Murdock wieder zum Senatsgebäude. Daniels verfolgte die beiden aus der Ferne. In das Gebäude hinein wollte er nicht, da Fremde gewöhnlich von den Angestellten ausgefragt werden, wenn sie sich in den Wandelgängen herumtreiben, und Daniels hatte keine Lust, lange Erklärungen abzugeben. Seine Instruktion lautete ja schließlich nur, Murdock nicht aus den Augen zu lassen, mit Inspektor Montrose in Fühlung zu bleiben, und Murdock nach New York zu folgen, falls er wider Erwarten rasch dorthin zurückkehren sollte.
All dies geschah an dem gleichen Morgen, an dem Audrey, Roger Warren und Mrs. Winthrop von Murdocks Landsitz nach New York zurückkehrten, während Wachtmeister ziemlich untröstlich in seiner improvisierten Hundehütte bleiben mußte.
In Senator Sylvanus' privatem Amtszimmer zündeten sich die beiden Freunde ihre Zigarren an.
»Weiß Gott, James, dir sieht man deine Jahre auch nicht an«, sagte der Senator. »Aber wir wollen lieber über die chinesische Anleihe reden, was? Na, sie ist sozusagen durch. Der Ausschuß hat die Sache empfohlen. An Unterstützung fehlt's nicht, und die Sanktionierung von seiten der Regierung ist eigentlich selbstverständlich. Ich weiß es direkt aus der Kommission für auswärtige Angelegenheiten.«
»Meinen besten Dank. Wie hoch wird die Verzinsung?«
»Ich denke, ungefähr sieben Prozent. Das Dumme bei der Sache ist nur, daß die Anleihe vermutlich vielfach überzeichnet werden wird. Wenn du natürlich deine Liberty-Bonds und andere Staatspapiere, die du bei mir in der Bank liegen hast, loswerden und in die Chinesische Anleihe umsetzen könntest, dann hättest du bei der gleichen Sicherheit einen hübschen Profit an Zinsen. Aber ich weiß eigentlich nicht recht, wie man das anstellen soll.«
Murdock hatte einen beträchtlichen Packen Wertpapiere in der Bank, die Senator Sylvanus in derselben Stadt im mittleren Westen gehörte, in der Murdock mit ihm seine Jugend verlebt hatte. Diese Bank lag genügend weit entfernt von allzu neugierigen New-Yorker Bankiers und ihren argwöhnischen Beamten, die zuweilen gestohlene Wertpapiere auszuspionieren trachten. Murdock verkaufte niemals seine Wertpapiere direkt, weder die von ihm gekauften noch die, die er sich aus zahlreichen Diebstählen sicherte. Er hielt sein Konto tadellos rein, indem er mit Scheinkäufen und Verkäufen operierte. Zunächst sandte er einen Vertrauensmann zum Bureau seiner eigenen Grundstücksgesellschaft oder Versicherungsfirma und ließ von ihm die nötige Summe in bar abheben. Von dem Mittelsmann, von dem er sich die gestohlenen Wertpapiere verkaufen ließ, ließ er sich formell eine Quittung ausstellen für einen Scheck, der genau auf den Wert der betreffenden Papiere zum Tageskurs lautete. Der Scheck war auf den Mittelsmann ausgestellt, der ihn auch einlöste, aber für sich natürlich nur einen kleinen Bruchteil von dem Betrage erhielt.
Den Barbetrag hatte der Vertrauensmann an Murdock auszuhändigen, der bereits die gestohlenen Papiere in Händen hatte. Es hing natürlich von dem Vertrauensmann ab, ob er das Geld ablieferte oder nicht. Aber falls er sich nicht dazu entschloß, lief er Gefahr, wegen eines Verbrechens, meistens aber sogar wegen des Doppelverbrechens Einbruch und Mord, denunziert zu werden. Da der Vertrauensmann nur zu gut zu wissen pflegte, daß Murdock unzweideutige Beweise für seine Schuld hatte und ihn mit einem einzigen Wort ins Zuchthaus bringen konnte, zog er es selbstverständlich vor, den Betrag an Murdock auszuhändigen. Außerdem wurde er nicht schlecht dafür bezahlt.
Auf diese und keine andere Weise mehrte sich natürlich Murdocks Konto an »erstklassigen« Wertpapieren auf der Bank, deren Präsident der Senator Owen I. Sylvanus war. Sie waren Freunde seit undenklichen Zeiten. Murdock suchte und fand bei ihm Rat in allen finanziellen Fragen. Dies war auch der äußere Grund für seine Reise nach Washington.
Der innere Grund war, einige letzte Tatsachen auszuspüren, die er für die Ausführung des sonst bis in alle Einzelheiten vorbereiteten, gigantischen Verbrechens wissen mußte.
Und Murdock war am Werke, während er dem Senator gegenüber saß und ihm beistimmend zunickte. Er wollte für keinen Heller Chinesische Anleihe kaufen. Er wollte Bescheid wissen, wie die finanzielle Transaktion vorgenommen werden sollte, ob man lediglich ein Bankkonto für die fremde Großmacht eröffnen würde, wie es ja so häufig geschieht, oder ob die glitzernden Goldbarren, fein säuberlich in starkwandige Fässer gepackt, über See verfrachtet würden, wie es ja nicht minder häufig geschieht, wenn das Edelmetall zur Stabilisierung der Valuta des Anleihestaates benötigt wird.
Murdock saß tief in seinen Sessel gelehnt und sah aus dem Fenster, während der Senator ihm alles mögliche erzählte. Er sah einen Mann die Straße heraufkommen. Zehn Minuten später sah er denselben Mann die Straße wieder hinabgehen.
Es war der gleiche Mann, den er in die Hotelhalle hatte treten sehen, als er mit Dean ins Frühstückszimmer gegangen war. Murdock beobachtete den Mann noch ein drittes Mal und kam zu dem Resultat, daß er ein Kriminalbeamter sein müsse. Dabei fiel ihm ein, daß er einer ähnlichen Gestalt bei der Ankunft des Zuges auf dem Bahnsteig begegnet war.
Murdock war sich klar darüber, daß man ihn beobachtete. Warum, wußte er nicht, kümmerte sich aber auch nicht weiter darum. Daniels entfernte sich schließlich wieder. Murdock lachte in sich hinein.
»Ich will dir sagen, was für mich das beste wäre,« sagte er zu dem Senator, »gib mir ein paar Empfehlungszeilen an den betreffenden Finanzsekretär, und ich werde mich mit ihm über die ganze Sache unterhalten. Ich muß mein möglichstes tun, daß ich mich in die Anleihe reinschlängele. Ich möchte das gern schaffen, ehe sie zur allgemeinen Subskription kommt.«
Senator Sylvanus schrieb ihm den erbetenen Brief. Dann begab er sich mit Murdock durch den Tunnel vom Senat zum Kapitol. Murdock hatte diesen Tunnel nie zuvor gesehen. Es dürfen ihn auch nur Senatoren und deren Freunde in ihrer persönlichen Begleitung benutzen. Eine kleine Untergrundbahn verbindet die beiden Staatsgebäude miteinander. Als Murdock wieder ans Tageslicht kam, nahm er sich rasch ein Auto und fuhr zum Hotel. Er bezahlte seine Rechnung, und bat darum, sein Gepäck für den New-Yorker Schnellzug um 3 Uhr nachmittags bereit zu halten.
Dean und Daniels verloren eine Unmenge Zeit mit dem Absuchen des Kapitols. Daniels hatte keine Ahnung, daß Murdock das Senatsgebäude verlassen haben konnte, bis sich Dean erkundigte.
Aber im Hotel fanden sie natürlich seine Spur wieder. Das hatte Murdock ja gerade beabsichtigt. Er besorgte jetzt wieder das Denken für die Polizei. Furcht hatte er nicht im geringsten. Aber er war zur Zeit außerordentlich beschäftigt und wollte sich nicht stören lassen in seinen Vorbereitungen für eine Sache, über die die ganze Welt noch staunen würde.
Bevor Murdock seinen Brief an den Finanzsekretär abgab, rief er im Hotel an und ordnete an, daß ein Gepäckträger vom Hotel mit seinem Gepäck an den Bahnhof kommen solle, wo er ihn punkt 3 Uhr an der Autoeinfahrt für den New-Yorker Schnellzug treffen möchte.
»Ich werde gerade genug Zeit haben, um den Zug noch zu erwischen«, fügte er hinzu. »Wenn jemand nach mir fragen sollte, sagen Sie bitte, ich nähme den Drei-Uhr-Zug nach New York. Ich nehme an, daß sich ein Herr danach erkundigen wird. Bestellen Sie ihm bitte, daß ich ihn leider nicht mehr sprechen könnte, aber er möchte, falls die Sache sehr dringend sei, denselben Zug nehmen, damit wir sie unterwegs besprechen.«
Murdock besorgte noch immer das Denken für den Kriminalbeamten, den er gesichtet hatte. Außerdem stieg ihm der Verdacht auf, daß auch Mr. Deans Ingenieurtätigkeit nicht ganz im Rahmen der üblichen Beschäftigung New-Yorker Ingenieure liegen dürfte. Murdock lachte abermals in sich hinein. Es machte ihm Spaß, Kriminalbeamte festzunageln. Er hatte Warren festgenagelt, und den hier oder vielmehr die beiden, da sie ja doch immer paarweise auf Jagd ziehen, wollte er nicht minder aufsitzen lassen.
Er begab sich nunmehr auf seinen Weg zu dem Finanzsekretär. Er wies sein Empfehlungsschreiben vor und wurde von Instanz zu Instanz weitergereicht, bis er schließlich das letzte Glied für seine Kette fand.
Er plauderte mit dem Beamten, sprach ihm von seinem Dilemma und dem Gespräch mit Senator Sylvanus und steuerte schließlich die Unterhaltung auf die Mittel und Methoden, mit denen Goldsendungen wohl meist von den Staatstresors aus zu den Schiffen gebracht werden, die diese wertvolle Fracht in sicherem Depot nach Übersee bringen sollen.
Um genaue Daten der Verfrachtung bemühte er sich hier nicht weiter. Er wußte, daß er diese Einzelheiten von einem »hilfsbereiten« Beamten seiner Bank in New York erfahren würde. Dieser Mann war durchaus nicht unehrenhaft, wenigstens beabsichtigte er nicht, es zu sein. Er gehörte zu den zahlreichen klugen und gewitzten Leuten, die sich aus reiner Liebhaberei mit den Ereignissen der »großen Finanz« beschäftigen und für die darum doch die Frage, woher sie das Geld zum Leben nehmen, kein geringeres Problem ist. Das Gehalt des betreffenden Beamten war durchaus anständig, aber es reichte bei weitem nicht aus für seine Bedürfnisse. Also stellte er sich gern Mr. Murdock als »vertraulichen Berater« – in seinen Abendstunden natürlich – zur Verfügung und versorgte ihn gegen eine gewisse Beteiligung mit »internen« Informationen.
Dean und Daniels, die Murdock schon aus den Augen verloren zu haben fürchteten, waren herzlich froh, als sie erfuhren, daß er im Begriffe stünde, nach New York zurückzufahren, und daß er einen Herrn zu einer Besprechung im Zuge erwarte, da seine Zeit in Washington zu begrenzt sei.
Der Schnellzug hatte nur Salonwagen. Die beiden Detektive besorgten sich ihre Fahrkarten, und während sich Daniels am hinteren Ende des Zuges auf die Lauer begab, versteckte sich Dean ganz vorn. Murdock erschien kurz vor der Abfahrt. Daniels sah ihn durch das Stationsgebäude der Sperre zuschreiten, seinen Handkoffer in der Hand. Die beiden Detektive bestiegen also in aller Hast den Zug.
Murdock wandte sich sofort zum Bahnhofseingang zurück und verschwand unbeobachtet. Er nahm sich ein Auto und fuhr zurück zur Stadt. Dort wechselte er das Auto und ließ sich nach Baltimore und zum dortigen Hafen fahren.
Die Detektive verließen voller Wut den Zug und erstatteten Inspektor Montrose einen Bericht, der ihn in die schönste »Donnerwetter«-Stimmung versetzte.
Murdocks Genie war völlig Herr der Situation, wenigstens nach seiner Auffassung. Er nahm den Dampfer, der um Mitternacht von Baltimore nach New York fährt. Dean und Daniels suchten das ganze Kapitol nach ihm ab, jetzt mit Hilfe der Washingtoner Kriminalpolizei, mit der sich Inspektor Montrose sofort telephonisch in Verbindung gesetzt hatte.
Die Suche war natürlich vergeblich. Murdock schlief den Schlaf des Gerechten in seiner Kabine. Er schlief, während Roger Warren die Hermesfigur durch die Tür des »Klub Versailles«, dieses Geiernestes, das keinem anderen als Murdock gehörte, schmetterte, und Schutzmann Sanders sein Kommando »Festnehmen!« zurief.
Edith Winthrop, die auf Harry Gregory gewartet hatte, ahnte nichts von der kritischen Situation, in der sich die junge Liebe Warrens und Audreys befand, und als Gregory schließlich erschien, wußte er nichts von dem, was sich ereignet hatte, obwohl doch in der gleichen Minute Schutzmann Sanders in der Polizeistation seinen Häftling und – noch einen zweiten ablieferte.