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30.
»Festgenagelt«

Während Audrey vorläufig unter Mordverdacht festgesetzt wurde, hatten sich Inspektor Montrose und Kommissar Marsh zu Kommissar Roxey zur Kriminalabteilung des Hauptpolizeiamtes auf den Weg gemacht. Sie trafen dort auch Inspektor Raynor vom vierten Distrikt. Die vier Beamten setzten unverzüglich und gemeinsam ihre Bemühungen fort, ein klares Bild von dem Einbruch bei Mrs. Winthrop zu gewinnen. Gleichzeitig prüften sie die Berichte aus verschiedenen anderen Polizeirevieren, in denen das nächtliche Geiervolk sein Unwesen getrieben hatte.

»Das ist mal wieder eine böse Nacht«, meinte Kommissar Roxey. »Von dem Einbruch ganz zu schweigen, Raynor hat mir gerade erzählt, daß an der 123. Straße von einer Autodroschke in rasender Fahrt auf zwei Schutzleute, die ruhig an der Ecke standen, geschossen worden ist, als ob sich's um ein Scheibenschießen gehandelt hätte. Die beiden sind schwer verwundet. Der eine wird sogar kaum mit dem Leben davonkommen. Und unten in der Stadt, in der Kanalstraße, haben ein paar Einbrecher sich ein Pfandleihgeschäft vorgenommen. Sie haben sich durch eine Steinmauer in einen alten Safe durchgebohrt, der natürlich keine Alarmvorrichtung hatte. Ein paar andere Banditen haben in der Fifth Avenue einen Ascheimer durch ein Schaufenster geschleudert und sind mit den Pelzen im Wert von vielleicht fünfzigtausend Dollar auf und davon. Und drüben in Queens hat's zwei Fälle von Straßenraub gegeben und gleichzeitig einen Brand. Vermutlich haben die Kerle das Feuer gelegt, um die Aufmerksamkeit der Polizei abzulenken. Bei dieser Gelegenheit haben sie auch einen Untergrundbahn-Kassierer ausgeraubt. Aber sagen Sie mal, Inspektor Montrose, wo steckt eigentlich Roger Warren?«

»Keine Ahnung; er hat telephoniert, daß er möglichst bald wegen der ›Haken-Mary‹ kommen würde. Wir sollten sie inzwischen wegen Mordes registrieren.«

»Wo hat er sie denn erwischt?«

»Schutzmann Sanders, den ich mit der speziellen Mission beauftragt hatte, den Klub Versailles zu beobachten, erklärt, er hätte sie dort auf Befehl von Warren festgenommen. Um das gleich hinzuzufügen, ich habe hier eine Liste der Gäste, die bei Miß Murdock eingeladen waren in der Nacht, als Gusset erschossen wurde. Sanders hat die Aufstellung gemacht. Mrs. Winthrop gehört auch dazu. Dieselbe Mrs. Winthrop, bei der man heute nacht eingebrochen ist, in Inspektor Raynors Distrikt, wissen Sie. Warrens Gefangene habe ich übrigens festgesetzt. Er hat sie als ›Haken-Mary‹ einliefern lassen, aber sie nennt sich selber Audrey Murdock. Allem Anschein nach gehören die beiden Geschichten irgendwie zusammen.«

»Wie meinen Sie das, Inspektor?«

»Ich meine das so: Mrs. Winthrop ist nicht zu Hause gewesen, während der Einbruch stattfand, wenn ich den drahtlosen Rapport richtig verstanden habe. Man muß also wohl annehmen, daß die Kerle gewußt haben, daß sie nicht zu Hause war. Wo sie gewesen ist, habe ich natürlich keine Ahnung, aber vielleicht kann uns die ›Haken-Mary‹ Auskunft darüber geben. Ich möchte sie auch gern noch wegen einer anderen Frage hören, – eine Sache, über die nur der Chef und ich orientiert sind. Das wird das erste sein, weswegen ich ihn morgen früh sprechen muß. Aber glauben Sie nicht, daß es ganz vernünftig wäre, sie gleich noch mal ins Verhör zu nehmen?«

»Ausgezeichnet, natürlich, um so mehr, als wir nicht die leiseste Spur von den Winthropschen Juwelen haben. Der Fahrstuhlführer in dem Winthropschen Haus hat Kommissar Raynor gegenüber erklärt, daß sich im dritten Stock auf dem dunklen Flur ein Kampf zwischen verschiedenen Männern abgespielt hat. Er hätte den Krach gehört und wäre hinaufgefahren, hätte aber eins über den Schädel bekommen. Einer von den Kerlen hat ihm einen Bleiknüppel über den Kopf geschlagen. Vermutlich ist es derselbe gewesen, den Kommissar Raynor über den Haufen geschossen hat, als er über die Straße fliehen wollte.«

»Und wie hat die Schlägerei angefangen?«

»Der Fahrstuhlführer erklärt, ein Herr in Gesellschaftsanzug, den er bereits am frühen Abend mit Mrs. Winthrop und einer jungen Dame zusammen gesehen gehabt hätte, wäre wiedergekommen und hätte sich zur Winthropschen Wohnung hinauffahren lassen. Er, der Fahrstuhlführer, wäre dann wieder nach unten. Aber kurz darauf hätte er Schüsse und Lärm gehört und wäre wieder nach oben. Seine Geschichte ist durchaus lückenlos und einwandfrei nach Kommissar Raynors Ansicht.«

In Inspektor Montroses Gesicht leuchtete etwas auf.

»Im Gesellschaftsanzug? Nanu, Sanders hat doch extra noch gesagt, als er wegen der ›Haken-Mary‹ anrief, Warren wäre in vollstem Wichs. Das ist also der Grund, warum er sich nicht um seine Gefangene gekümmert hat! Der Junge übertrumpft mich doch tatsächlich zum zweiten Male. Ich habe nämlich aus einem anderen Grund auch die Murdock, oder vielmehr die ›Haken-Mary‹, wie Warren sie nennt, – verhaften wollen. Und jetzt ist er auf eigene Faust hinter den Juwelenräubern her. Das sieht ihm ähnlich. Vermutlich hat er nicht einmal Zeit gehabt, sich um Unterstützung zu bemühen. Aber wo mag er stecken?«

»Ich weiß es nicht,« sagte Kommissar Raynor, »aber meiner Meinung nach ist er hinter dem Einbrecher her, der vom Hof aus durch das Souterrain mit den Juwelen geflüchtet ist, nachdem er den leeren Kasten auf den Hof geworfen hatte.«

Er schilderte, wie der andere Einbrecher von dem Hinterfenster der Wohnung im zweiten Stockwerk aus erschossen worden war, nachdem der alte Mieter der Etage die Polizeibeamten hereingerufen hatte.

Montrose, Roxey und Marsh nickten zustimmend. Warrens rätselhaftes Verschwinden war wirklich typisch für ihn. Er war nicht nur ein Mann von athletischer Kraft, sondern besaß neben allen körperlichen Mut eine stählerne Willensstärke und Entschlossenheit.

»Er wird den Kerl mit den Juwelen schon packen und bald erscheinen,« sagte Raynor mit einer Bestimmtheit, die jeden Zweifel ausschloß, »er hat seinen Mann noch immer gefaßt. Aber inzwischen sollten wir wirklich einmal die Person ausforschen, wie Kommissar Roxey vorgeschlagen hat. Die ganze Bande scheint sich doch um die ›Haken-Mary‹ herum zu gruppieren, nicht wahr?«

Also wurde angeordnet, daß Audrey Murdock aus dem Gefängnis zum Verhör in die Hauptpolizei geholt würde. Dies geschah kaum eine Stunde, nachdem sie dorthin gebracht worden war. Inzwischen schickte Inspektor Montrose zur Personalabteilung und ließ um die Photographien und Fingerabdrücke ersuchen, die von der ›Haken-Mary‹ Mallory gemacht worden waren, ehe sie für Jahre den Augen der Polizei entschwunden war. Er wollte die Fingerabdrücke mit denen vergleichen, die sich auf der Pistole aus Murdocks Schreibtisch gefunden hatten. Der Beamte indessen, der den Nachtdienst in der betreffenden Abteilung versah, gab die Auskunft, daß Roger Warren die Akten zum Polizeichef gebracht hätte, und daß sie leider von dort noch nicht wieder zurückgekommen wären.

*

Auf fernem Meer erwachte James Murdock aus tiefem Schlaf und zündete sich eine Zigarre an. Die Detektive Dean und Daniels hatte er »festgenagelt«. Sich selbst hatte er wie gewöhnlich ein klares und unbestreitbares Alibi verschafft. Wenn man ihn je ausfragen würde, er hatte seine Antwort bereit. Er hatte in der Autodroschke seine Aktenmappe mit wichtigen Papieren liegen gelassen und mußte zurück, um sie zu holen. Auf diese Weise war ihm der Zug vor der Nase weggefahren. Das Lächeln, das auf seine Lippen trat, erfolgte in dem gleichen Augenblick, in dem die Gefängniswärterin seine Tochter aufforderte, sich fertig zu machen, um das Gefängnis zu verlassen. Audrey war im Augenblick von ihrem Lager an der Zellentür. Ihre nackten Schultern deckte sie mit dem Kissenbezug.


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