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Haken-Mary« Mallory nahm ein Bad und kleidete sich an. Sie tat es mit dem Eifer eines Menschen, der sein Bußgewand mit irdischem Purpur und Linnen vertauscht. Die Berührung mit dem Seidenstaat, den sie sich mit dem der Firma Murdock & Co. entwendeten Geld gekauft hatte, elektrisierte sie. Sie knisterte förmlich wie ein Glasstab, den man mit einem Seidenlappen reibt.
Aus den vergessensten Ecken und Winkeln ihres Gedächtnisses lugten die Gespenster der Alten-Mühlen-Bande, sprangen die Schatten der Erlebnisse in dem Lokal ihrer nächtlichen Freuden. Am hellichten Tage wären sie ihr weltenfern erschienen, aber in dem dämmernden Abendlicht grüßten sie sie anheimelnd und vertraut.
Unablässig vor sich hinsummend, wandte sie all die Kunstmittel an, die dazu geeignet waren, ihrem Äußeren die einst so verlockende Schönheit wiederzugeben. Sie setzte sich eine blonde Perücke auf und nickte erstaunt und befriedigt ihrem veränderten Ich im Spiegel zu.
»Piekfein! Du wirst es schon schaffen«, sagte sie, als ob sie gar nicht mit sich selbst spräche. »Wie stellst du dich zu ein paar Tropfen Belladonna, mein Schatz? Das wird deinen beiden Laternen schon das nötige Licht geben, was?«
Sie nahm einen silbernen Schuhlöffel und zog sich die neugekauften Gesellschaftsschuhe an.
»Effeff!« Sie kokettierte mit den Schuhen. »Wenn einem so ein Schmutzian siebzehn und einen halben Dollar dafür aus der Tasche zieht, kann man sich nicht wundern, wenn ein Mädchen nicht ehrlich bleiben kann in dieser gottverdammten Stadt. Aber gestohlene Frucht schmeckt am besten. Stimmt's? A–ach nee!
Wetten, daß Mr. Gregory sich nicht mucksen wird wegen der paar Kröten, die ich mir von ihm und seinem Kompagnon gepumpt habe?« fuhr sie in ihrem Selbstgespräch fort. »Wenn er das große Maul hat, erkläre ich ihm glatt, daß er schwindelt, und gebe ihm die Adresse von Inspektor Montrose. Der wird ihm schon klarmachen, daß ich anständig und ehrlich bin. Montrose ist mein Freund. Hat er es mir nicht extra gesagt?«
Ihre Worte klangen, als ob sie nicht von ihr, sondern von einem Phantom in ihrem Blut gesprochen würden. Und dies Phantom wuchs immer stärker und sicherer aus ihr empor. Ihre Sinne steigerten sich in ihrer Klarheit.
Bevor sie ihr Abendkleid anzog, prüfte sie ihre Muskeln. Sie spannte den Bizeps.
»Weich!« sagte sie enttäuscht, »damit schmeiße ich keinen Schneider über den Haufen.«
Sie kehrte dem Spiegel den Rücken und packte einen Stuhl. Die stummen Möbel, so schien es ihr, sahen sie sehnsüchtig an, als warteten sie nur auf den beseelenden Funken aus dem Nichts, um sich gleich ihr, von magischer Energie durchströmt, bewegen zu können.
Sie schwang den Stuhl über ihrem Kopf. Es benahm ihr den Atem. Sie versuchte ein paar Vorstöße. Aber nach einem Schlag gegen die linke Kinnlade ihres gedachten Gegners und einem rechten Haken, der ihn vermutlich ins Jenseits befördert hätte, mußte sie keuchend innehalten.
»Soll er zum Teufel gehen«, murmelte sie in Gedanken an Harry Gregory. »Ich denke, jetzt wäre es Zeit für einen guten Happen. Aber wohin? Ich werde wohl meine vier Stunden auf ihn warten müssen. Vor zehn oder elf wird er wohl nicht erscheinen. Wo ich nicht hingehen werde, das weiß ich. Zu Micky auf keinen Fall. Die Kaschemme haben die Blauen auf dem Kieker. Eine italienische Kneipe, schön! Spaghetti und Huhn. Das ist das Richtige für Benny und mich.«
Benny rekelte sich noch immer herum. In seinem Dämmerzustand spielte er weiter die freiwillig übernommene Rolle des finsteren Rächers. Als Mary ins Zimmer trat, tat er, als ob er fest schliefe. Sie schloß ihr Zimmer ab. Er sollte nicht an den Revolver herankönnen, den sie Gregory entwendet hatte. Aus jedem Gleichgewicht gebracht durch sein mörderisches Attentat auf den »Salpeter-Ede«, war Benny verstockt, mürrisch und argwöhnisch.
»Wo willste hin?« fragte er.
»Ich geh essen. Und dann hab' ich eine Verabredung. Komm mit, alter Esel, und laß deinem Wanst auch mal was Gutes zukommen. Was hat denn das für 'nen Sinn, sich zu Tode zu hassen? Du kannst doch die Welt nicht ändern, he?«
»Ich bin nich so tüchtig wie du«, brummte Benny.
»Bist du nie gewesen! Wetten? Ich habe dich geheiratet und nicht auf gute Zeiten gerechnet. Im Gegenteil. Aber wenn du mal was Gutes haben willst, komm mit. Ich habe Draht und will was springen lassen. Was hat denn der Zimt sonst für einen Sinn?«
Benny Smart konnte indessen seiner verzweifelten Stimmung nicht Herr werden. Diese Narkotika haben nun einmal eine vernichtende Wirkung. In einem Augenblick erheben sie die Phantasie zu den lichtesten, flammendsten Höhen und täuschen himmlische Paradiese vor, und im nächsten zerren sie ihre Opfer aus dem erstickenden Dunst ihrer Gedankenqual hinab in höllische Krater. Benny plante, seinen nächsten Schuß kurz vor Roger Warrens Kommen zu tun. Er spielte zwar den mißhandelten Ehemann, aber er war dabei doch im Innersten recht froh, daß Mary das Haus ohne ihn zu verlassen bereit war.
»Gregory wird dir schon die Frisur ruinieren«, grunzte er. »Ich kann hier nicht weg. Ich muß auf ein paar Leute warten.«
»Der Teufel soll Gregory holen und dich dazu«, erklärte Mary. »Dann esse ich eben alleine und gehe dann zu meiner Verabredung. Du läßt besser deine Finger von den Polizeimenschen, verstanden? Oder du wirst deine Knochen noch mal auf der Straße zusammenlesen müssen.«
Mary fegte aus dem Zimmer. Benny ließ sich nicht träumen, wie genau sie ins Schwarze getroffen hatte. Er war nie ein Träumer gewesen, der die Wirklichkeit voraussah. Er hatte niemals den Schmutz des Lebens abgestreift, um einmal den Glanz des Glücks zu genießen wie seine Frau, die jetzt im Auto der lichterhellen Stadt zufuhr. Sie muß irgendwo einen Kavalier aufgegabelt haben, sagte sich Benny. Aber wen, wann und wieso, das war und blieb ihm ein Rätsel.
Mary vermied es wohlweislich, sich ein Restaurant zu suchen, in dem eine geschraubte Gesellschaft unter steifen Gesprächen ihr Essen herunterschlingt. Sie fand, was sie brauchte. Der Prinzeßkragen ihres Kleides verhüllte die knochige Magerkeit ihres Nackens. Die Krähenfüße hatten die Schönheitsmittel verdeckt. Der seidene Schleier überschattete die starke Bemalung ihrer Brauen und Wimpern, unter denen heute wie vor Zeiten ihre leuchtenden Pupillen hervorschimmerten.
Die »Haken-Mary« nahm sich Zeit. Sie paradierte nicht vor den anderen Gästen. Sie saß ehrsam an ihrem Tisch, wählte lässig ihre Speisen und aß völlig ungezwungen. Der Kellner brachte ihr die Rechnung. Er wußte nicht recht, was er aus dieser halb sittsamen und halb dreist koketten Dame machen sollte, die ihr Gesicht nachdenklich in ihren Händen barg. Er stand würdevoll neben ihr. Sie schob ihm einen Dollar Trinkgeld hin. Er dienerte seinen Dank.
Draußen winkte sie eine Autodroschke und fuhr direkt wieder nach Hause. Auf der Fahrt betrachtete sie melancholisch die zarte Sichel des aufgehenden Mondes.
Sie betrat ihr Haus von der Straße her. Auf der anderen Seite standen die Detektive Dean und Daniels, die sich einen bedeutsamen Blick zuwarfen. Vor ein paar Minuten hatten sie bereits mehrere Gestalten schattenhaft in demselben Haus verschwinden sehen, ohne daß die Düsternis der engen Straße ihre nähere Identifizierung ermöglicht hätte.
Die Gestalt der »Haken-Mary« wurde viel deutlicher sichtbar, denn die Lampen des Autos gaben ihr ein klares Relief.
»Ich möchte wissen, wer diese Dame ist«, murmelte Daniels. »Mir scheint, der Inspektor hat das Gefühl gehabt, als ob hier heute nacht irgend was losgehen würde. Was meinst du, Kamerad, wollen wir nicht ein Stück weitergehen und uns dann auf der anderen Seite dichter an diese Haustür heranmachen?«
»Das ist eine Idee,« sagte Daniels zustimmend, »aber laß den Knüppel nicht aus der Hand!«
»Und meinen Revolver auch nicht,« meinte Dean, »so'n Knüppel ist ja ganz praktisch, wenn dir so ein Halunke an den Hals fährt, aber wenn er mit blauen Bohnen loslegt, hat er wenig Zweck.«
*
In voller Harmonie mit ihren heimlichen Gedanken an das immer näherrückende Stelldichein betrat die »Haken-Mary« ihre Wohnung. Es war Besuch da. Vier Männer. Als sie den »Masken-Micky« erkannte, blieb ihr fast das Herz stehen. Es war ihr, als ob sie eine plumpe Hand zurückzerrte in die grausige, düstere Wirklichkeit, die sie mit dem Verlassen von Murdocks Bureau hinter sich geworfen zu haben glaubte.
Ihr erster Gedanke war, daß Gregory vermutlich zurückgekommen war, den Diebstahl der dreihundert Dollar bemerkt und den »Masken-Micky« hinter ihr hergeschickt hatte. Aber sie warf königlich den Kopf zurück. Micky mochte ein noch so gemeiner und niedriger Geselle sein, zum Bespitzeln und Ausplündern einer Frau würde er sich niemals hergeben. Micky konnte nichts anderes sein, als er immer gewesen war, genau so wie sie selbst. Sie waren beide gute Kameraden gewesen. Es mußte also einen anderen Grund haben, daß er mit den vier Bravos hierhergekommen war.
»Ein seltenes Vergnügen«, sagte Mary mit strahlendem Lächeln und reichte ihm die Spitzen ihrer behandschuhten Finger.
»Du bist ja mächtig fein angepuppt«, erwiderte Micky. »Was ist denn Besonderes los?«
»Es ist weiter nichts los, Micky. Ich habe eine Verabredung mit einem Kavalier. Oder was denkste, wo ich den ganzen Staat herhabe? Reklame lohnt sich immer, was? Hast du nicht die dicken Annoncen gesehen, die ich in der Zeitung gehabt habe?«
Eigentlich wußte sie nicht, warum sie diese letzten Worte gesagt hatte. Es schien gar nicht ihre eigene Stimme zu sein, die sie sprach. Und auch das perlende Lachen schien ihr fremd, mit dem sie Mickys erstaunten und bewundernden Blicken entgegnete.
»Wann kommt er denn?« fragte er.
Das Gefühl einer drohenden Gefahr blitzte in ihr auf und wirbelte ihre Gedanken in ein anderes Fahrwasser. Die alte, verhaßte Furcht, ihre Angst, nicht um sich selbst, sondern um jemand anderen, markierte den Weg, den sie zu steuern hatte.
»Du meinst, wann ich wieder abschiebe?« ulkte sie. »Im Moment. Ich habe bloß was vergessen. Was ist denn los hier?«
Ihre Blicke wanderten prüfend über die jungen Burschen. Sie kannte ihre Mission. Sie kannte den Typ. Ihr Blick blieb auf »Haha-Benny« haften, der zusammengekauert gegen die Tür saß, die auf den Flur hinausführte.
»Na, du lausiges Aas«, sagte sie. »Haste schon wieder gekokst? Schwindle nicht. Ich seh's ja an deinen Augen. Ach, Micky, ich wollte, du würdest dieses Rattenvieh irgendwo ersäufen. Dreimal habe ich's ihm schon abgewöhnt. Dreimal habe ich mir die Finger blutig schuften müssen, damit man ihn nicht zu fassen kriegte. Dreimal habe ich ihn in eine Anstalt geschickt, und er ist als geheilt entlassen worden. Und nu sieh dir das Mistvieh an!«
Sie tat einen Schritt auf Benny zu, der sich sofort unter den Tisch verkroch. Die drei Bravos brüllten vor Lachen.
Mary verfolgte ihren Ehegemahl nicht weiter. Sie hatte keine Lust dazu. Sie suchte nach einem Weg, in ihr Schlafzimmer zu kommen. Sie war sich nicht klar, ob es ihr ohne Waffe in der Hand gelingen würde, von Micky aus der Wohnung gelassen zu werden. Und auch dann erschien es ihr noch zweifelhaft.
Aber ihr Schlafzimmer hatte kein nach außen gehendes Fenster, sondern nur einen dürftigen Ersatz dafür, ein enges Loch, das ein paar Streifen Sonnenlicht hereinließ und etwas Luft, die von undefinierbaren Düften geschwängert war. Durch dieses Loch konnte sie nicht heraus, selbst wenn sie gewollt hätte. Aber sie wollte es auch nicht, selbst wenn sie es gekonnt hätte, denn ihre Verabredung ließ es nicht zu, daß sie sich ihr Kleid ruinierte oder auch nur kraus machte. Es handelte sich um ein höchst wundersames Stelldichein, und sie mußte so gut aussehen, wie sie es nur vermochte.
Sie schloß die Tür auf und ging in ihr Schlafzimmer. Sie ließ sie aber halb offen und knipste das elektrische Licht an. Dann öffnete sie ihr Schreibpult. Die Pistole mit dem Schußdämpfer lag noch an ihrem alten Platz. Ohne daß es jemand hätte merken können, manipulierte sie die Waffe mit der einen Hand in ihre Handtasche, während sie mit der anderen die Parfümflasche ergriff und sich, lustig trällernd, Brust und Hals besprengte. Sie suchte ein besonders nettes Taschentuch aus und hielt es geflissentlich über der offenen Handtasche, um den Revolver im Notfall ohne weiteres rasch herausziehen zu können. Sie hielt die Handtasche fest umklammert, als sie die Tür wieder abschloß.
»Ich will nicht hoffen,« erklärte sie, »daß einer von den Herren vielleicht denkt, ich hätte irgendein Mißtrauen gegen ihn. Durchaus nicht. Aber wenn ich meine paar Spargroschen nicht abschließe, dann verhaut das Luder da alles, was ich habe, um sein Koks zu kriegen. Ich würde ihn gern erst noch wieder zusammenstauchen, aber ich habe wirklich keine Zeit. Ich muß gehen.«
»Ja –,« Mickys Augen umwölbten sich, »tut mir leid, Mary. Wir haben hier etwas zu erledigen, meine Freunde hier und ich. Es wird gleich so weit sein. Kannst du Benny nicht für zehn, fuffzehn Minuten auf die Beine bringen?«
»Das sollte mir so passen!« gab sie zur Antwort. »Wer hat euch denn die Erlaubnis gegeben, meine Wohnung für eure Geschäfte zu benutzen? Ich habe ja nichts dagegen, und ich tu's gern für einen alten Bekannten. Aber ich habe eine Verabredung, die erste seit vielen Jahren, und ich habe etwas dagegen, daß ich die brechen soll. Es tut mir leid, Micky.«
Er wollte protestieren.
»Hände hoch!« rief die »Haken Mary«, und der Ton ihrer Stimme war ganz gewiß nicht milder als der, den das Quartett in ihrem Zimmer bei ähnlichen Gelegenheiten anzuwenden pflegte. Die Pistole in ihrer Hand gab dem Kommando einen zwar weniger rhetorisch, aber darum nicht minder zwingenden Nachdruck. Selbst Benny hielt die Arme hoch.
»Ihr könnt euch nachher die Pistole von Benny holen lassen«, erklärte sie. »Tut mir leid, meine Herrschaften. Aber ich kann nicht anders. Ihr hättet mir schon den Leichenwagen schicken müssen, wenn ich meine Verabredung hätte brechen sollen. Außerdem habe ich keine Lust, dabei zu sein, wenn ihr euer Geschäft hier erledigt. Das ist hier meine Wohnung. Was soll denn das überhaupt heißen, Micky? Du hast Dich doch sonst nicht hinter 'ner Weiberschürze verschanzt, he?«
Ihre freie Hand griff nach der Klinke der Tür, die auf die Seitentreppe hinausführte. Der »Masken-Micky« war viel zu konsterniert, um eine Antwort zu finden.
»Ich gehe jetzt die Treppe runter, den Revolver nach oben gerichtet, verstanden? Wenn ich unten bin, schmeiße ich das Ding auf der Straße in den Mülleimer. Benny kann es euch wieder rausklauben.«
Die Tür schloß sich hinter ihr. Die Vier ließen ihre Arme langsam sinken. Benny hielt sie noch hoch, bis das Klappen ihrer hohen Absätze kaum mehr zu hören war. Dann ging er zur Tür und spähte vorsichtig die Treppe hinab.
»Wartet hier oben«, flüsterte er und machte sich auf den Weg. Er konnte die Gestalt seiner Frau in dem Halbdunkel des Ganges zwischen den Häusern verschwinden sehen. Micky schlich hinter ihm her. Er konnte die »Haken-Mary« nicht mehr sehen, aber er sah Benny. Er hatte nicht die Absicht, Benny noch einmal sein schadenfrohes »Hahaha« lachen zu lasten, wie er es nach dem mißlungenen Einbruch bei Mrs. Winthrop getan hatte.
Benny stöberte in dem Mülleimer nach dem Revolver, verkroch sich dann dahinter und machte dem »Masken-Micky« ein Zeichen.
Die »Haken-Mary« befand sich gerade an der Stelle, wo der Häusergang in die Straße einmündete, durch die Roger Warren kommen mußte. Ein Schutzmann vertrat ihr den Weg, als sie gerade um die Ecke bog. Es war ein junger Bursche, frisch von der Polizeischule, aber er war stramm auf seinem Posten.
Die »Haken-Mary« hatte ihre Gedanken einzig und allein bei der Gestalt, die auf ihrer Straßenseite in ziemlicher Entfernung und noch kaum erkennbar einbog. Sie erkannte ihn an seiner Figur, an der breiten, kraftstrotzenden Brust. Er kam mit jener Elastizität geschritten, die sie nie vergessen hatte. Wie er jetzt ging, war er von jeher gegangen.
»Halt! Wo wollen Sie hin?« herrschte sie der junge Schutzmann an.
Die »Haken-Mary« blieb stehen.
»Meinen Sie mich?« fragte sie und zeigte ihm ein blitzendes Lächeln.
»Jawohl. Wie heißen Sie? Wo wohnen Sie? Wo wollen Sie hin?«
»Ich habe eine Verabredung mit meinem Freund«, erwiderte sie und lächelte verschmitzt.
Der Schutzmann betrachtete sie genauer. Er sah in ihr nicht die Erscheinung, für die sich die »Haken-Mary« den ganzen Tag gehalten hatte. Er sah nur das bemalte Gesicht und die etwas verrutschte blonde Perücke. Er sah nur die teueren Sachen, die sie anhatte, und die falsche Ehrbarkeit, die auf die richtige Straßendirne schließen ließ. Und seine Instruktion war, die Straßen von allem Weibsgesindel frei zu halten.
Die »Haken-Mary« griff seiner Erklärung, daß er sie verhaften müsse, vor. Mit einem raschen, schlangenhaft gelenkigen Schlag traf sie ihn mitten zwischen die Augen, und während sich ihre behandschuhte Linke in seine Augenhöhle bohrte, versetzte sie ihm einen krachenden Hieb gegen seine Kinnlade. Sie konnte kaum ausholen, aber die während all der Jahre ihres ehrbaren Lebens aufgespeicherte Kraft gab dem »Haken« eine fast hysterische Wucht.
Der junge Schutzmann stürzte zusammen, und in demselben Augenblick trat sie ihm auf die Brust und tanzte darauf herum wie eine Ballerina. Sie nahm sich Zeit. Sie sah auch mit einem Seitenblick das kokain-verzerrte Gesicht ihres Ehegatten hinter dem Mülleimer hervorlugen.
Aber als der »stets perfekte Arbeiter«, der sie von jeher gewesen war, ließ sie sich selbst von Bennys teuflischem Grinsen nicht stören, sondern tanzte lustig auf dem Schutzmann herum und stieg dann graziös über sein Gesicht hinweg auf Roger Warren zu. Der Detektiv traute seinen Augen nicht. Es schien ihm schier unglaublich, daß ihm die »Haken-Mary« nach so viel Jahren wieder entgegentrat und ihm lachend und so laut, daß es »Haha-Benny« hören konnte, zurief:
»Du gefällst mir schon besser, mein Junge. Von dir lasse ich mich gerne mitnehmen.«
Aber im gleichen Atem flüsterte sie leise: »Um Gottes willen, gehen Sie nicht in den Gang. Benny paßt auf. Sie gehen in eine Falle. Der ›Masken-Micky‹ ist mit drei Kerlen in meiner Wohnung. Achtung! Aber rasch!«
Sie zog ihn zur Seite und warf sich ihm um den Hals. Für diesen Augenblick hatte sie gelebt und geschuftet.
Das Zischen der ersten und einzigen Kugel, mit der Benny Smart den Mann, den er haßte, niederzuknallen versuchte, fand sein Echo in einem Pistolenschuß aus der Waffe des am Boden liegenden Schutzmannes, der sich nicht erst lange erhoben hatte, als sein erstaunter Blick den vor Mordlust glühenden Augen des alten Droschkenkutschers begegnete.
Benny warf den Revolver mit dem Schußdämpfer rasch auf die Straße und duckte sich vor dem zweiten Schuß hinter den Mülleimer.
Roger Warren fühlte den Schlag der Kugel aus Benny Smarts Waffe, als sie den Körper der »Haken-Mary« traf. Er konnte seine eigene Waffe nicht fassen, denn ihre schützende Umklammerung war zu fest. Jetzt senkte sich ihr einer Arm und griff nach seiner Hand.
»Nicht zu hart sein zu Benny. Er ist ja doch nur ein armer, närrischer Kokser. Er hat ›Mappengussets‹ Schicksal niemals überwinden können. Sein Stiefbruder. Ach, ich – ich – bin – ja – so glücklich.«
Als ihre Finger erschlafften, streichelte ihn noch die Zärtlichkeit ihrer Stimme. Er beugte sich zu ihr nieder, um ihre letzten, schwachen Worte zu verstehen.
»Ich – ich – habe dich – stets geliebt«, hauchte sie, und der Glanz ihres einstigen Lächelns trat aus ihre rotgeschminkten Lippen. »Ich habe um – deinetwillen die Bande verlassen. Ich habe – ehrbar gelebt. Für dich – –«
Sie verschied sanft in seinen Armen.
Roger Warren hörte den Schuß nicht, mit dem der »Masken-Micky« nach Benny Smart zielte, dessen Wahnsinnslachen durch die Dunkelheit schallte. Die Kugel verfehlte ihr Ziel. Sie prallte auf dem Straßenpflaster ab und traf den noch immer am Boden liegenden Schutzmann in den Arm. Er sprang auf. Seine rechte Hand war gelähmt.
»Hier, nehmen Sie sie.« Warren schob ihm die Tote in den Arm, sprang mit ein paar Sätzen dem Gang zu, riß Benny Smart mit der linken Hand aus seinem Versteck, und feuerte mit der Rechten blind auf den »Masken-Micky«, der oben hinter der Tür hervorlugte.