Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Sie müssen Tee mit mir trinken«, erklärte Audrey, und Warren nahm mit dankbarem Lächeln ihre Aufforderung an. Sein Lächeln galt nicht minder der entzückenden Kameradschaftlichkeit, mit der sie ihn behandelte. Er versank in einem Meer alles überwogender zärtlicher Gefühle. Es ließ sich nicht länger leugnen, der strenge, selbstbewußte Roger Warren hatte sich kopfüber verliebt.
Wie die Dinge jetzt lagen, war es ganz offensichtlich klar, daß Murdock nicht nur Gregory, sondern auch Warren übertrumpft hatte. Daß er außerdem den alten erfahrenen und gewitzten Kriminalmann, Inspektor Montrose mit seiner Behauptung, Gusset niemals in seinem Leben vorher gesehen zu haben, ausgestochen hätte, war seine feste Überzeugung. Aber Montrose hatte nicht nur diese »sichere« Lüge durchschaut, sondern zugleich auch Murdocks Spiel übertrumpft, mit dem er von vornherein die Arbeit der Kriminalpolizei zur Ergebnislosigkeit verurteilt zu haben glaubte. Trotz der Sicherheit, die Murdock Gregory gegenüber geheuchelt hatte, hatte er noch in der gleichen Nacht die unter Umständen so belastende Kugel aus der Wand seines Bibliothekzimmers entfernt und sie persönlich in den Ascheneimer unten im Keller geworfen, von wo aus sie in den Müllwagen wandern sollte.
Aber auch hier wurde Murdock übertrumpft. Er brüstete sich damit, daß er sein Geschäft kannte wie kein zweiter. Er war auch ein außerordentlich gerissener Geschäftsmann. Aber deshalb entging ihm doch die Tatsache, daß sich in dem Müllwagen ein Abteil befand, das ebenso fein säuberlich von den übrigen abgetrennt war wie sein Privatbureau von den anderen weitläufigen Räumen des Geschäftshauses, in dem zur Zeit die Kisten mit der gestohlenen Seide mit dem Stempel »Universal« ruhig lagerten.
Inspektor Montrose verstand zu rechnen. Er war den ganzen Tag am Werke. Alles, was er nötig hatte, war gesunder Menschenverstand, derselbe Verstand, dem er schließlich seine Stellung verdankte, und die Fähigkeit, drei und eins zu addieren.
Roger Warrens Rapport, der vom Distrikt zur Hauptpolizei weitergereicht worden war, lag Inspektor Montrose vor. Es fand sich darin der folgende Passus:
»Ich habe, wie bereits oben bemerkt, dreimal auf den Eindringling geschossen. Mein erster Schuß muß nach meiner Ansicht seinen rechten Vorderarm getroffen haben, was daraus hervorgeht, daß er nicht den beabsichtigten Schuß gegen Mr. Murdock abfeuerte. Mein zweiter Schuß folgte unmittelbar seinem ersten auf mich. Wie Doktor Dell erklärt, hat er vermutlich seinen rechten Oberarm zerschmettert. Meine Absicht war, den Mann kampfunfähig zu machen, nicht ihn zu töten, denn ich wußte damals nicht, mit wem ich es zu tun hatte. Mein dritter Schuß hat ihn offenbar mitten in die Stirn getroffen, wie der offizielle Leichenbefund noch zu erhärten hat. Ich habe diesen Schuß abgegeben, nachdem der Mann das zweitemal auf mich gefeuert hatte.«
Also drei Schüsse!
In Kenntnis der Tatsache, daß Warren von sich aus dreimal geschossen hatte, war es für Inspektor Montrose nicht schwer, darauf zu kommen, daß noch eine vierte Kugel vorhanden sein müsse, und zwar die, die Warren mit seinem dritten Schuß abgegeben hatte, die aber den Einbrecher verfehlt haben mußte.
Da Inspektor Montrose außerdem wußte, daß Murdock eine falsche Aussage gemacht hatte, begab er sich an die Arbeit, diese vierte Kugel aufzuspüren. Da er andererseits wußte, daß Warren keine Kenntnis von Murdocks Lüge hatte, wäre es falsch gewesen, gerade Warren mit der Suche nach der Kugel zu beauftragen. Ebenso wollte er natürlich vermeiden, den tatsächlichen Mörder des »Mappen-Gusset« dadurch stutzig zu machen, daß er einen anderen seiner Leute in sein Haus schickte oder auch nur in seine Nähe brachte.
Der Inspektor durchschaute Murdock. Er durchschaute seine Absicht, jeden möglichen Verdacht zu verschleiern, er durchschaute die Dankbarkeit, mit der er Warren behandelte, und mit der er sich um eine so rasche Erledigung der formellen Anklage wegen Totschlags im Interesse des jungen Kriminalbeamten bemüht hatte. Er war sich natürlich auch klar darüber, daß Murdock seinen Revolver entweder in sein Bureau bringen lassen oder selbst dorthin mitnehmen würde. Da er verschiedene Bureaus hatte, blieb nur die eine Frage übrig, in welches? Aber das war erst in zweiter Linie von Bedeutung. Zuerst mußte die Kugel gefunden werden, Warrens Kugel, die ihr Ziel verfehlt hatte.
Aus diesem Grunde also das Abteil in dem Müllwagen. Am ersten Morgen nach dem Verbrechen ergab sich nichts. Aber an dem zweiten Morgen fand sich tatsächlich die vermißte Kugel. Inspektor Montrose wetterte nicht, wie er es getan hatte, als es sich herausstellte, daß die drei Kugeln in Gussets Körper nicht vom gleichen Kalibergrad gewesen waren, dazu hatte er zuviel Humor. Er mußte lächeln, als ihm der Detektiv, der zwei Vormittage je sechs Häuserblocks hatte gewissenhaft den Müllwagen fahren müssen, die Kugel überreichte, und sagte: »Verbindlichsten Dank, James!«
Diese seine Worte waren nicht auf den Detektiv gemünzt. Der Inspektor bedankte sich nicht bei ihm, sondern bei James Murdock.
Inspektor Montroses ironischer Dank wurde an dem gleichen Spätnachmittag ausgesprochen, an dem Roger Warren mit der Tochter des Mannes am Teetisch saß, dessen Mordtat bereits bekannt war, und um den sich das Netz der Beweise immer fester und fester zusammenzog trotz all seiner Gerissenheit.
Warren hatte von alledem keine Ahnung. Und ebensowenig ahnte es das junge Mädchen, das, nachdem es Warren ihre Vermutungen, Ängste und die offenbar über dem Haupte des Vaters schwebende Gefahr gebeichtet hatte, seinem Kummer in einem Strom von Tränen Luft machte. Als sie sich schließlich entschloß, in diesem Zusammenhang Gregory zu erwähnen, kreisten alle ihre Worte nur mehr um diesen Namen.
Warren hörte Audrey schweigend zu. Nur ab und zu nickte er. Seine Vermutung hatte sich, wenn auch vielleicht zunächst nur in unwesentlichen Einzelpunkten, vollauf bestätigt. Was sie ihm erzählte, begegnete sich mit dem, was er im ersten Augenblick in bezug aus Gregory empfunden hatte.
Aber er saß zwischen zwei Feuern. Er fühlte sich mehr als hingezogen zu dem jungen Mädchen. Er hatte den Wunsch, sie zu trösten und sie zu beruhigen. Aber seine Pflicht verbot es ihm. Er war nicht umsonst mit dem Vertrauen des obersten Chefs der New-Yorker Polizei, mit der verwickelten, höchst geheimnisvollen und schwierigen Aufgabe betraut worden, er und kein anderer!
Roger Warren war sich dieser Sonderstellung bewußt, und mithin drängte er alle Gefühle der Zuneigung zu Audrey, all diese seltsam neuen Empfindungen zurück. Er sagte sich, daß er nach jeder Richtung unbehindert seinen Weg gehen mußte, daß er keine Hilfe in Anspruch nehmen durfte, und daß er in New York oder über New York hinaus sein Ziel zu verfolgen hatte, und zwar unbeirrt, unbarmherzig, mit ungetrübtem Scharfblick und vor allem mit unermüdlicher Geduld.
Daß Audreys innere Erregung echt war, bezweifelte er nicht. Sie war viel zu unschuldig, um so berechnend, viel zu unerfahren, um so abgefeimt zu sein, und war außerdem auch viel zu sicher in ihrer ganzen Art, um irgendeiner hysterischen Anwandlung nachzugeben. Dazu kam, daß sich jedes ihrer Worte mit Warrens Auffassung über Gregory deckte.
Er verstand sie vollkommen, wenn ihm auch die ganze Situation in ihrer Ungewöhnlichkeit nicht klar war. Auch Audrey konnte sie nicht übersehen, denn erstens kannte sie den wahren Charakter ihres Vaters nicht, und zweitens konnte sie nicht ahnen, daß er im Anschluß an die Attacke, die Gregory in demselben Zimmer, in dem sie jetzt mit Warren Tee trank, auf sie verübt hatte, ihm mit seiner unbeugsamen Energie das Versprechen abgerungen hatte, seine Tochter in Zukunft in Frieden zu lassen.
Roger Warren befand sich in einer recht mißlichen Lage. Seine Gedanken arbeiteten unablässig, aber sie waren genau so chaotisch wie Audrey Murdocks Gefühle, die ihr das instinktive Mißtrauen gegen Gregory eingegeben hatten, und die sie nicht daran zweifeln ließen, daß er einen unheimlich starken Einfluß auf ihren Vater ausübte.
»Irgend etwas muß geschehen«, sagte Warren schließlich, um überhaupt etwas zu sagen. »Haben Sie schönsten Dank. Ich muß jetzt gehen. Ich werde morgen Ihren Vater in seinem Bureau aufsuchen und denke, manches mit ihm besprechen zu können.«
»Ach, Sie ahnen nicht, wie mich das erleichtert«, sagte sie mit leuchtenden Augen, deren Glanz die Spuren ihrer Tränen überstrahlte. »Sie können ja ganz vertraulich mit ihm sprechen und ihn vor Gregory warnen. Er wird ganz sicher auf Sie hören, besonders, da Sie doch ein Polizeimann sind. Er wird sicher auf Sie hören. Sie haben ihm doch schließlich das Leben gerettet. Sie werden ihn warnen, nicht wahr, Sie tun es?«
Warren fühlte abermals den Boden unter seinen Füßen wanken. Die Geschichte wurde immer heikler. Er konnte ihr wirklich kein derartiges Versprechen geben, um so mehr als er vorhin erfahren hatte, daß Gregory nicht Murdocks Angestellter, sondern sein Kompagnon war.
Murdock würde ihm sicherlich keinen Dank dafür wissen, wenn er die Unantastbarkeit seines Teilhabers in Zweifel zog. Es war schließlich gleichbedeutend mit einem Zweifel an der Unantastbarkeit der ganzen Firma. Wenn ihm Murdock vielleicht auch Glauben schenkte, so würden sich doch alle möglichen Untersuchungen, Aufklärungen und Feststellungen als notwendig erweisen, bevor der Vorwurf ungesetzlicher Handlungen endgültig und mit rechtlicher Beweiskraft erhoben werden konnte.
Roger Warren wußte nur zu gut, daß sein Chef ihm einen derartigen Schnitzer niemals verzeihen würde. Murdock konnte Gregory gegenüber irgendeine Bemerkung fallen lassen, und Gregory war viel zu geschickt, um nicht im gleichen Augenblick dafür zu sorgen, daß alle Beweisstücke verschwanden, die er selbst oder andere Kriminalbeamte sonst hätten ausfindig machen können.
»Ich bin im Dienst,« sagte Warren also nach einigem Zögern, »und Sie müssen verstehen, daß ich im voraus keinerlei Versprechungen machen darf. Es ist meine Pflicht, Verbrecher dingfest zu machen. Ich muß vermeiden, daß sie, und wenn auch nur indirekt, gewarnt werden.«
Er brachte es nicht über das Herz, diesem Mädchen gegenüber eine Stellungnahme zu heucheln, die mit seiner Berufspflicht im Widerspruch gestanden hätte. Und ein Kompromiß schien nicht möglich, ohne daß er sich selbst zum Narren machte.
»Sie vertrauen mir also nicht?« fragte Audrey.
»Doch, von ganzem Herzen«, erwiderte er.
»Warum wollen Sie es mir dann nicht versprechen?«
Er ergriff ihre Hände und zog Audrey dicht an sich. Ihr tobendes Herz schlug gegen das seine.
»Doch, ich vertraue dir von ganzem, ganzem Herzen, denn ich habe dich lieb!« sagte er.
Sie schmiegte sich an ihn und flüsterte: »Ach, es erscheint mir alles zu seltsam, zu merkwürdig, um wahr zu sein.«
»Nichts ist so merkwürdig, daß es nicht wahr sein könnte«, belehrte er sie.