Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10.
Eine Spur im Dunkel

So schrill und gebieterisch auch der verzweifelte Notruf des Schleppers war, er kam zu spät, als daß es dem sofort herbeieilenden Polizeiboot »Sivanoy« noch möglich gewesen wäre, die beiden Männer auf der Dampfbarkasse zu fassen. Der Führer des »Sivanoy« verlor keine Zeit. Binnen wenigen Minuten war er von dem Kapitän des Schleppers über den ganzen Raubüberfall unterrichtet, aber die Barkasse war inzwischen längst außer Sicht und lag geborgen an – oder vielleicht auch unter – einem der Kais an der New-Yorker Seite des Hudson. An eine Verfolgung oder gar an eine Festnahme der Verbrecher war nicht mehr zu denken. Sie waren sicher an Land, und ihr Fahrzeug war festgemacht. Nichts wies mehr darauf hin, daß die beiden Männer irgendwie mit dem Überfall auf dem Fluß in Zusammenhang standen, als sie zwei Schutzleuten auffielen, die sich auf die gellenden Alarmrufe des Schleppers hin zu ihrer Orientierung auf den Kai begaben.

Sie sahen die beiden Männer, und die Männer sahen sie. Im gleichen Augenblick beschleunigten die Verbrecher ihre Schritte. Auch die beiden Schutzleute verdoppelten ihre Eile. Die Verbrecher setzten sich in Trab, und es begann eine wilde Jagd über die Kisten und Ballen hinweg, mit denen der Kai überhäuft war. Bald verschwanden sie, bald tauchten sie wieder auf in ihrer Flucht zu der Stelle zurück, wo sie die Barkasse festgemacht hatten.

Sie entgingen ihrer Festnahme. Im Nu waren sie vom Ufer abgestoßen. Sie waren sich beide ihres Verbrechens nur zu gut bewußt, denn Beihilfe wird nach amerikanischem Gesetz nicht minder streng bestraft als die Tat selbst.

Der ganze Zwischenfall bedurfte hier einer so ausführlichen Darstellung, weil er für die nachfolgenden Ereignisse von außerordentlicher Bedeutung ist. Also die beiden erreichten tatsächlich die Barkasse und waren bereits mitten auf dem Fluß, ehe die Schutzleute zur Spitze des Kais gelangen konnten. Das Boot kreuzte auf dem Hudson.

Mit der gleichen Unermüdlichkeit, mit der ein Naturwissenschaftler durch die Linse seines Mikroskops ein äußerlich vielleicht ganz harmloses Objekt nach dem Erreger einer gefährlichen Seuche durchforscht, suchte der lichtstarke Scheinwerfer des »Sivanoy« den Hudson ab und entdeckte natürlich auch die Barkasse.

Nichts deutete darauf hin, daß es gerade diejenige Barkasse war, die den Revolverhelden von dem Schlepper aufgenommen hatte. Außerdem hatte der Kapitän des Schleppers den Mann mit der Pistole überhaupt nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen, weder als er ihn bedroht, noch als er ihn niedergeschlagen hatte. Wenn nicht die Wunde, die er empfangen hatte, jeden Zweifel daran ausgeschlossen hätte, daß er sie sich hatte selbst beibringen können, wären die Polizeibeamten vielleicht sogar seiner ganzen Erzählung gegenüber etwas skeptisch gewesen und hätten – nicht ganz unberechtigt – angenommen, daß der Kapitän mit dem Räuber im Bunde war.

Auch der Heizer des Schleppers hatte den geflüchteten Verbrecher nicht gesehen. Was er von der Sache wußte, ist bereits berichtet. Aber nichtsdestoweniger entschloß sich der Führer des »Sivanoy«, die Barkasse zu verfolgen, zumal sie mit völlig unerlaubter Schnelligkeit fuhr und außerdem seinen Haltesignalen nicht die mindeste Aufmerksamkeit schenkte.

Mit rasender Geschwindigkeit bemühte sich der »Sivanoy«, die Barkasse einzuholen. Da das Polizeiboot im Hafen wohlbekannt war, taten natürlich Dampfer, Schlepper, Fähren und was sonst gerade auf dem Fluß fuhr und seine wilde Jagd beobachtete, alles nur Erdenkliche, um seiner Fahrt möglichst freie Bahn zu geben.

Da, ein Pistolenschuß blitzte durch den Dämmerdunst, der tief über dem Fluß hing. Eine Kugel pfiff dicht über den Ausguck am Bug des »Sivanoy« hin. Wenn man bisher auch noch keinen Beweis für eine beabsichtigte Flucht gehabt hatte, jetzt war er einwandfrei gegeben. Eine Salve von dem Polizeiboot aus folgte und wurde von ein, zwei Schüssen der Verfolgten blind erwidert. Die Jagd war vorüber. Einer der beiden Insassen der Barkasse sprang über Bord. Die Lust an einer weiteren Schießerei war ihm anscheinend unter den gegebenen Umständen vergangen, denn er wußte wohl, daß sich die New Yorker Polizei ihre Opfer, tot oder lebendig, nicht entwischen läßt.

Der andere Insasse der Barkasse, ihr Steuermann und Maschinist, ergab sich, und man legte ihm Handschellen an. Aber auch sein Gefährte wurde unverzüglich mit einem Bootshaken aus dem Fluß gefischt. Selbstverständlich fand man bei keinem von beiden eine Waffe. Der Hudson ist tief und – verschwiegen. Die beiden wurden selbstverständlich nach New York gebracht und binnen einer Stunde im Hauptpolizeiamt abgeliefert, wo man ihre Daumenabdrücke nahm. Den Daumenabdruck des Mannes, der in der Murdockschen Villa erschossen worden war, hatte man ein paar Stunden vorher genommen.

Auf diese Weise hatte man seine Personalien ohne weiteres feststellen können. Der Tote war Bernard Gusset, in der New Yorker Verbrecherwelt bekannt unter dem Namen »Mappen-Gusset«, denn er war vor Jahren an einem Raubüberfall auf einen Bankkassenboten beteiligt gewesen, dem man eine Mappe mit Bargeld und Papieren im Werte von etwa 50 000 Dollar abgenommen hatte.

Nachdem man den Daumenabdruck des Mannes genommen hatte, der von der Barkasse in den Hudson gesprungen war, stellte es sich heraus, daß er der Komplize des »Mappen-Gusset« bei dem erwähnten Raubüberfall gewesen war. Sein Name war Harold Yates. Die beiden waren deswegen verurteilt worden und hatten ihre Zuchthausstrafen abgebüßt. »Mappen-Gusset« hatte zehn und Yates fünfeinhalb Jahre abgesessen.

Dies an sich sehr merkwürdige Zusammentreffen warf indessen kein unmittelbar neues Licht auf den Tod Gussets in James Murdocks Villa. Aber schließlich konnte sich daraus eine Spur ergeben, und die Kriminalpolizei, deren Aufgabe es nun einmal ist, sich mit äußerster Sorgfalt ihrem unermüdlichen Kampf gegen das Verbrechertum, vom Kleptomanen bis zum Mörder, hinzugeben, hatte auch hier nach bestem Können ihre Schritte zu tun.

Der Mann, den man mit Yates zusammen festgenommen hatte, war, wie sich herausstellte, der Eigentümer der Barkasse. Sein Name war Leonard Grove. Er sowohl wie Yates leugneten natürlich energisch jede Beziehung zu irgendeinem Verbrechen, wann oder wo es auch sein mochte. Über Grove befanden sich übrigens keinerlei Akten bei der Kriminalpolizei.

Beide Männer machten zur Entschuldigung für ihre rasche Fahrt geltend, daß sie hätten auf Fischfang gehen und die Flußmündung vor Tagesanbruch hinter sich haben wollen.

Grove besonders beteuerte mit allem Nachdruck, er hätte nicht die geringste Ahnung davon gehabt, daß der »Sivanoy« sie verfolgt hätte. Er leugnete auch, selbst geschossen oder Yates haben feuern gehört zu haben. Bei dem Geräusch des Motors wäre überhaupt kein Schuß zu hören, erklärte er. Das war richtig und doch falsch. Auf jeden Fall aber genügte diese geschickte Verteidigung, um der Polizei den bündigen Schluß unmöglich zu machen, daß er an dem Überfall auf dem Fluß beteiligt gewesen war, zumal der Kapitän des Schleppers ihn nicht zu identifizieren vermochte.

Nichtsdestoweniger mußten die beiden Männer die »Morgenparade« im Hauptpolizeiamt mitmachen, die selbst von den hartgesottensten Verbrechern so außerordentlich gefürchtet ist.


 << zurück weiter >>