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27.
Allein im Dunkel

Warren empfand zunächst ein Gefühl der Befriedigung über die Rettung Audrey Murdocks, als er vom »Klub Versailles« im Auto dem Rendezvous mit »Haha-Benny« Smart entgegenraste. Aber dieses Gefühl wich rasch einer inneren Beunruhigung darüber, daß er Audrey nicht unmittelbar zur Polizeistation hatte folgen, sie befreien und ihr die Gründe für die ganze unvermeidliche Maßnahme hatte erklären können.

Obwohl er wußte, daß alles, was sich ereignet hatte, auf seine eigene amtliche Order hin geschehen war, und daß diese Dinge unabänderlich waren, kam es ihm doch vor, als ob ihm jemand die Seele aus dem Leibe risse. Er taumelte zwischen Traum und Wachen, und Raum und Zeit versanken im Fieber seiner Gedanken.

Er sprang aus seinem Auto und schoß quer über die Straße in das Timesgebäude. Im Nu war er in einer Telephonzelle. Er ließ sich durch die Zentrale in der Hauptpolizei mit der Polizeistation in der 67. Straße verbinden.

»Hier Roger Warren, Detektiv von der Zentrale.« Seine Kehle war wie ausgebrannt. »Ich habe eben eine Gefangene geschickt. ›Haken-Mary‹. Bringen Sie sie zum Inspektor ins Zimmer. Nicht in eine Zelle. Bestellen Sie dem Inspektor, ich setze mich persönlich mit ihm in Verbindung, sobald ich irgend kann. Habe jetzt nicht eine Sekunde Zeit. Registrieren Sie Mord. Aber lassen Sie niemand in ihre Nähe.«

»In Ordnung, Warren«, antwortete ihm der diensthabende Beamte von seinem Pult aus. »Der Inspektor und auch Kommissar Marsh sind hier. Ich werde es bestellen.«

Warren hing den Hörer an. Er raste zur Untergrundbahn und konnte sich noch gerade in einen überfüllten Wagen hineinpressen. An der 14. Straße stieg er aus, rief ein Auto und fuhr in der Richtung nach dem Rendezvous-Platz, den ihm Benny Smart genannt hatte.

Einen Häuserblock vorher stieg er aus und hielt sich im Dunkel einer kurzen Allee, bis die Droschke außer Sicht war. Dann prüfte er seine Waffe, nicht ohne die Dummheit zu verfluchen, mit der er sich vorhin von ihr getrennt hatte. Die Waffe in der Hand, tastete er sich einen nur spärlich beleuchteten Gang zwischen zwei Häusern entlang, bis er zu einer stockdunklen, kaum erkennbaren Treppe kam, an deren zweitem Absatz Benny Smart ihn zu erwarten versprochen hatte.

Warren klomm die Stufen ohne jeden Zwischenfall empor. Er klopfte das verabredete Signal und hielt seinen Revolver fest in der Überziehertasche. Bennys hartes, verrunzeltes Gesicht lugte durch einen Türspalt, und im gleichen Augenblick schlüpfte Warren durch die mit aller Vorsicht geöffnete Tür.

»Hier herein«, sagte Benny und wies ihm den Weg.

Warren folgte ihm in ein kleines Wohnzimmer und setzte sich auf einen Stuhl. Das fadenscheinige Mobiliar trug den sichtbaren Stempel der Armut. Aber über allem schwebte der Geist des Ewigweiblichen. Das bewies der blinkende Strauß künstlicher Rosen nicht minder als der saubere altmodische Flickenteppich, dessen verblichene Farben von gar mancher Wäsche zeugten, und die weißen Seitengardinen an den Fenstern, vor denen der schlaue alte Droschkenkutscher wohlweislich die Rouleaus heruntergelassen hatte.

»Sie sind mir aber flink«, erklärte Benny. »Bin selber kaum hier. Habe erst die Hochbahn und dann ein Auto nehmen müssen, daß ich auch ja nicht erst nach Ihnen kam. ›Nen dicken Happen haben Sie heute geschluckt. Die Haken-Mary, hahaha!‹«

»Lassen Sie das Lachen doch!« Warren runzelte gebieterisch die Stirn. »Was ist also los mit dem Zylinderfatzken, wie Sie ihn nennen, dem – Gregory, oder wie heißt er noch? Und wie dreht er das Ding mit den Brillanten? Und wie heißt die Dame?«

»Gregory bricht ein paar Sektpullen den Hals, mit ihr zusammen im Klub, verstehen Sie. Und inzwischen geht der Salpeter-Ede, der alte Geldschrankknacker, Sie wissen doch, mit zwei von seinen Kerls los und schmeißt die Geschichte. Das Zeug ist unter Brüdern seine zweihundertfuffzig braune Lappen wert. Wie sie heißt? Winthrop heißt sie. Wo sie wohnt? Das werden wir gleich haben.«

Hahaha! Und Benny Smart machte seinem Namen Ehre, indem er das Telephonbuch holte und Warren zeigte, daß »die Winthrop« in einem vornehmen Etagenhaus in der Westend Avenue wohnte. Warren wußte nur zu gut, daß er die Wahrheit sprach, hatte er doch Edith Winthrops Wohnung selbst kaum vor ein paar Stunden verlassen, als er in den »Klub Versailles« gefahren war.

»Wann steigt denn die Sache?« fragte er weiter.

»Sie werden wohl schon dabei sein«, antwortete Benny mit fast kindlich unschuldiger Unbefangenheit. »Aber der Salpeter-Ede hat zu Gregory gesagt, daß das Geschäft nicht so einfach wäre. Sie haben also auf alle Fälle noch Zeit. Aber festnageln müssen Sie ihn. Er muß geklappt werden. Sie verstehen's ja. Sie haben ja auch die ›Haken-Mary‹ geklappt, was? Sie Schlaufuchs, Sie sind glatter als 'n Aal und verflucht fix, hahaha!«

An der Tür bewegte sich etwas. Eine Frau lugte herein. Sie runzelte die Stirn. Warren sah ihr Gesicht in dem zerbrochenen Glas des Pfeilerspiegels an der gegenüberliegenden Wand. Er unterdrückte seine Überraschung über diese neue Entdeckung. Er verriet durch nichts, daß er in diesem Gesicht das der wirklichen »Haken-Mary« erkannt hatte.

Warren verstand nicht recht, was wohl in dem verstörten Hirn Bennys vorgegangen sein mochte, daß er Audrey Murdock mit dieser Frau verwechselte. Aber mochte der Grund dafür liegen, worin er mochte, die Tatsache genügte dem Detektiv als Beweis dafür, daß er die richtige Fährte verfolgt hatte.

Warrens Hauptaufgabe lag jetzt darin, festzustellen, in welcher Beziehung Gregory – falls die Sache überhaupt stimmte – zu dem »Ding« stand, das in Mrs. Winthrops Wohnung »gedreht« wurde. Er mußte nach Möglichkeit die Spur aufnehmen, die von dem Salpeter-Ede und seinen beiden Spießgesellen zu dem geschmeidig eleganten und so energisch arbeitenden Schurken führte, den Audrey Murdock so tief verachtete und fürchtete.

Wenn ihm das gelang, diente er nicht nur der Polizei, sondern ebenso dem jungen Mädchen, das er für diese Nacht aus aller Lebensgefahr gerettet hatte.

Sein Entschluß war gefaßt, und alle seine Gedanken galten jetzt der Tat. Warren fühlte sich erleichtert.

»Aber wie soll ich diesen Gregory mit dem Ding da in Zusammenhang bringen?« fragte er vorsichtig. »Er ist doch bloß der Drahtzieher, was? Und Sie wollen doch gerade, daß ich ihn ins Kittchen bringe. Ist es nicht so? Oder wollen Sie vielleicht nicht die Prämie von der Versicherungsgesellschaft für die Brillanten? Habe ich recht, Benny? Soll gemacht werden. Aber erst sagen Sie mir in Gottes Namen, wie soll ich den Gregory abfassen, wenn er im Klub ist und ein bombensicheres Alibi hat. Es gibt doch schließlich nichts Sicheres, als mit derselben Person zusammen zu sein, deren Safe geknackt wird.«

»Schiebung!« zischte der ehemalige Droschkenkutscher. »Alles Schiebung. Fassen Sie nur erst mal Ede und die beiden anderen. Aber aufpassen. Die beiden Herrschaften sind keine Bleisoldaten. Die schießen scharf, verstanden? Wenn Sie sie haben, wissen Sie, was dann passiert? Dann bringt Gregorys Rechtsanwalt das Geld für die Bürgschaft, damit sie wieder auf freien Fuß kommen. Verstanden?«

»Nein, Benny, da komme ich nicht ganz mit.«

»Mensch, ich meine, das Geld ist da. Geld für so 'ne Bürgschaft ist immer da. Meinen Sie vielleicht, der ›Salpeter-Ede‹ hat Lust, den Dreck für Gregory auszufressen? Sie brauchen Gregory nur abzufassen, wenn er zu dem Rechtsanwalt geht, um Ede aus dem Kittchen zu kriegen. Aber erst müssen Sie die drei festgesetzt haben. Ede quatscht nichts aus. Aber wenn er merkt, daß Gregory ihn nicht aus der dicken Tinte 'rausholt, dann wird er schon das Maul aufmachen. ›Salpeter-Ede‹ ist zu alt. Er hat gerade dreimal gesessen und lange genug. Jetzt hat er keine Lust mehr. Und das Ding da heißt lebenslänglich, das weiß er ganz genau. Aber erst haben müssen Sie ihn. Dann wird's schon klappen. Wenn er nicht 'rauskommt, dann wird er schon mit der Sprache 'rausrücken, sage ich Ihnen. Und wenn er 'rauskommt, dann erwischen Sie Gregory bei seinem Rechtsanwalt; denn woanders kann er Ede nicht treffen, wenn er die Brillanten haben will.«

»Sehr schön, Benny. Sie brauchen sich keine Sorgen mehr zu machen, wenn ich Gregory erwische. Aber nun verraten Sie mir mal, warum Sie durchaus wollen, daß ich ihn ins Kittchen bringe. Die Belohnung könnten Sie doch sowieso bekommen. Stimmt's? Die wird doch auch fällig, wenn ich nur den ›Salpeter-Ede‹ und die beiden anderen festsetze.«

Warren hatte sich bei seiner letzten Frage erhoben.

»Das erzähle ich Ihnen, wenn Sie Gregory haben. Ich werde Ihnen Geschichten erzählen, daß Ihnen der Schädel springt. Sie sind ein gescheiter Kerl. Sie gefallen mir. – Ich darf mich hier jetzt nicht 'raustrauen, seit ich ihm ausgerissen bin aus seinem noblen Klub. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß der Gregory mit jemand zusammen arbeitet. Und das ist der eigentliche Mann an der Spitze von der ganzen Bande von der ›Alten Mühle‹, von dem ›Masken-Micky‹ und noch einem Dutzend anderen. Aber den kriegen Sie nicht, ehe Sie Gregory haben. Haben Sie keine Bange. Mich finden Sie immer hier. Ich darf hier nicht mehr weg. Sie würden mich abmurksen. Hier findet mich keiner; denn für gewöhnlich bin ich woanders. Ich habe hier bloß 'ne alte Freundin wohnen, verstehen Sie?«

»Immer hübsch langsam, Benny. Woher soll ich wissen, daß das hier nicht bloß eine Falle für mich ist? Haben Sie mir nicht vorhin in der Garderobe meinen Revolver aus der Manteltasche genommen? Sie haben sich mit dem Ding davongemacht und sind in den Korridor geschlichen, he? Und dann haben Sie sich hinter den Vorhang gestellt. Warum haben Sie die ›Haken-Mary‹ denn niederknallen wollen, warum?«

Warren fuhr Benny an den Kragen und packte ihn. Aber er gab keinen Laut von sich, nicht einmal das halbwahnsinnige Hahaha! und versuchte sich auch nicht frei zu machen. Das harte, verrunzelte Gesicht bekam fast den gleichen Ausdruck, den der Tod dem Antlitz des sterbenden »Mappen-Gusset« aufgeprägt hatte.

»Sie sind doch nicht so schlau, wie ich gedacht hätte«, röchelte Benny Smart. »Sie waren doch neulich nacht in der Villa von Murdock. Als mein Stiefbruder, der ›Mappen-Gusset‹ auch da war, was? Und Sie denken, Sie haben ihn erschossen, was? Das stimmt nicht. Wenn Sie ihn erschossen hätten, verstanden, dann hätte ich Ihnen mit Ihrem eigenen Revolver das Gehirn ausgeblasen, vorhin hinterm Vorhang. Glauben Sie mir nun? Der ›Haken-Mary‹ habe ich 'ne Kugel in die Knochen schießen wollen, aber sicher. Aber Sie sind mir zu rasch gewesen. Zu spät für mich. Aber ihr Alter, der Murdock, das ist der Hauptmacher von der ganzen Bande, das sage ich Ihnen. Gregory ist ja weiter nichts als ein dreckiger Handlanger in dem Geschäft mit Murdock. Aber wollen Sie hier vielleicht übernachten?«

Roger Warren war fest entschlossen, keine Zeit mehr zu verlieren. Bennys Wink war nicht zu verachten, zumal der Kerl mit einer erstaunlichen Offenheit geredet hatte. Er glaubte natürlich nur die eine Hälfte von Benny Smarts Geschichte, und zwar die, die sich auf Gregory bezog. Die andere Hälfte, die Murdock anging, hielt er für eine Ausgeburt seiner krankhaften Phantasie, die ihn ja auch dazu gebracht hatte, Audrey als die »Haken-Mary« anzusprechen.

Roger Warren eilte von dannen. Er nahm die Untergrundbahn, stieg an der 14. Straße in einen Expreßzug um. Auf diese Weise hoffte er rascher als mit einem Auto zur 72. Straße und in die Nachbarschaft von Edith Winthrops Haus zu kommen.

Das Haus und die Lage der Wohnung auf der Etage waren ihm bekannt. Außerdem hatte man ihn mit Mrs. Winthrop zusammen dort gesehen. Er hatte noch den Gesellschaftsanzug von vorhin an, selbst den Spazierstock trug er noch am Arm. Sein Kommen würde also niemand weiter auffallen. Im Gegenteil. Er betrat das Haus mit einer selbstverständlichen Sicherheit, nickte dem Fahrstuhlführer zu und ließ sich zu Edith Winthrops Etage hinauffahren. Es war derselbe Mann, der ihn am frühen Abend gefahren hatte, als er zuerst allein und dann mit Mrs. Winthrop zusammen den Fahrstuhl benutzt hatte.

Auf der Etage angelangt, schritt Warren rasch auf die Tür zu Mrs. Winthrops Wohnung zu. Er zweifelte nicht daran, daß er sie offen finden würde; denn kein Einbrecher, der einen bewaffneten Spießgesellen hat und einen zweiten, der für ihn Schmiere steht, wird jemals eine Tür abschließen. Wenn man rasch einen Ausgang braucht, bedeuten Sekunden manchmal nicht nur den Verlust der Freiheit, sondern oft auch den des Lebens.

Die Tür war also offen. Roger trat ein, den Revolver schußbereit. Mit zwei Sätzen war er den Korridor entlang und stand an der offenen Tür zu Edith Winthrops Schlafzimmer.

Auch die Tür des Safes stand offen. Ein Mann bückte sich gerade und langte hinein. Er stand mit dem Rücken gegen Warren. Bennys Wink war also absolut zuverlässig gewesen.

»Hände hoch, Salpeter!« rief Warren, indem er sich nach allen Seiten umsah. Niemand sonst war zu erblicken. Er ging von der Seite, die Mauerwand im Rücken, auf den »Salpeter-Ede« zu, der sich seinem Befehl nicht widersetzte. In diesem Augenblick ging das Licht aus.

Warren schoß blind auf den Mann vor dem Safe. Drei blitzende Schüsse und ihr hallendes Echo antworteten ihm. Warren war die Zielscheibe für die drei Schützen in dem gleichen Raum. Die drei Kugeln pfiffen über seinen Kopf hin, denn er hatte sich rasch gebückt und feuerte zweimal zurück, den rechten Arm weitmöglichst hoch gestreckt.

Die nächsten Schüsse waren in der Höhe seines blitzenden Revolvers gehalten, verfehlten also natürlich das beabsichtigte Ziel.

Aber der Mann, der hinter ihm hergekommen war, verfehlte ihn nicht. Ein bleigefüllter Holzknüppel sauste mit aller Gewalt auf seinen Schädel nieder. Warren taumelte, aber er wandte den zweiten tödlichen Schlag ab, indem er das Handgelenk seines Angreifers packte. Im gleichen Augenblick schoß er wieder, aber nicht auf den Mann mit dem Totschläger, sondern auf eine Gestalt, deren Schatten sich vor einem Fenster abhob, das auf die Feuertreppe außen am Hause hinauslief.

Der Verbrecher, den er festhielt, tat wutschnaubend einen Schritt zurück und half durch diesen plötzlichen Ruck Warren wieder auf die Füße. Es war ein stämmiger Kerl, aber der Detektiv drehte ihm mit aller Kraft den Daumen um, so daß er zu Boden fiel. Ein geschickter Schlag mit dem Revolverkolben auf seinen Hinterkopf besorgte das Weitere. Der zweite Verbrecher wollte den Weg aus dem Zimmer gewinnen, stieß aber im Dunkel mit Warren zusammen.

Draußen schrillten die Alarmpfeifen von Schutzleuten. Man hörte das Widerhallen derber Schritte auf dem Straßenpflaster. Hilfe war also unterwegs. Die Lampen im Flur waren ebenfalls ausgelöscht. Der Fahrstuhl war ganz offensichtlich ohne Bedienung. Trotz des empfangenen Schlages arbeitete Warrens Gehirn rasch genug, um ihn nicht einen Augenblick darüber im Zweifel zu lassen, daß es der Fahrstuhlführer gewesen sein mußte, der hinter ihm hergeschlichen war und ihm den Hieb über den Kopf versetzt hatte.

Warren rang, stieß und hieb blind, aber tapfer auf die drei Verbrecher ein, mit denen er sich verknäult auf dem Boden wälzte. Der Fahrstuhlmann, der zu unterst lag, hatte in seiner verzweifelten Abwehr die Beine seines Komplicen gepackt. Warren gelang es, sich frei zu machen. Aber im gleichen Augenblick wurde er wieder gepackt und wälzte sich mit dem dritten Gegner auf der Erde. Der Fahrstuhlführer hatte sich inzwischen erhoben und war entschlossen, dem Detektiv den Garaus zu machen, bevor ihm irgendwer zu Hilfe kommen konnte. Er griff nach Warrens Kehle und preßte sie zusammen. Der Detektiv wehrte sich mit verhaltenem Atem und versuchte, die eiserne Umklammerung los zu werden.

Es war ein lautloser, kurzer, aber heißer Kampf. Dann folgten gedämpfte Schritte auf dem Läufer im Flur, Warren wurde auf und nieder geschwenkt und flog, ohne daß er mit seinen Füßen einen Halt gewinnen konnte, kopfüber die Marmortreppe hinunter, deren scharfe und architektonisch recht wirksame Biegung nicht darauf berechnet war, den Sturz eines Fallenden zu dämpfen und zu erleichtern.

Warren schlug auf. Der Marmor traf seinen Schädel mit der Wucht einer Keule. Himmel und Hölle tanzten vor seinen Augen. Wie das Brüllen einer Brandung, wie der Zusammenprall zweier Planeten brauste es in seinen Ohren.

Die drei Verbrecher, die sich in Mrs. Winthrops Wohnung zu schaffen gemacht hatten, stoben auseinander. Sie waren samt und sonders berufsmäßige Einbrecher. Der »Salpeter-Ede« kletterte trotz seines Alters mit affenartiger Geschwindigkeit die Feuertreppe hinab. Der Fahrstuhlführer und der dritte Mann flüchteten durch den Flur. Der Fahrstuhlführer benutzte den Lift. Seine Furcht war viel zu ehrlich, um den Eindruck der Verstellung zu machen, als er sich den gerade eintretenden Polizeibeamten entsetzt gegenübersah.

»Dritter Stock!« keuchte er und fuhr die Beamten, ohne viel weitere Worte zu machen, nach oben. Inzwischen gewann der dritte Mann die Tür und allem Anschein nach die Freiheit. Aber nur dem Anschein nach. Auf halbem Wege zur nächsten Straßenecke stieß er auf den Kriminalkommissar Raynor, der in Vertretung seines Inspektors das Revier inspizierte. Er war in Zivil.

Kommissar Raynor hatte die Schutzleute auf das Haus zueilen sehen. Da ihm aus dem gleichen Eingang jetzt ein flüchtender Mann entgegenrannte, rief er ihm sein Halt! zu. Der Flüchtling erwiderte mit einem Schuß. Er traf nicht. Aber die Kugel, die der Kommissar darauf abfeuerte, verfehlte das Ziel nicht. Der Flüchtling knickte zusammen und stürzte auf das Pflaster. Die Geier der Nacht waren um einen Genossen ärmer.

Ein Mieter in dem Hause hatte inzwischen die Polizei telephonisch verständigt. Der ganze Häuserblock wurde allmählich umzingelt, und es folgte eine genaue Durchsuchung des Hauses. Ehe es aber so weit war, hatte der »Salpeter-Ede« ein Stück der Feuertreppe bereits hinter sich. Er sah einen Schutzmann in Uniform den Hof betreten, feuerte und traf ihn schwer. Der Schutzmann stürzte zu Boden, und der Revolver des Verbrechers klatschte neben ihn auf das Pflaster.

Der »Salpeter-Ede« schwang sich durch ein offenes Fenster im zweiten Stock und entledigte sich des seines Inhalt beraubten Juwelenkastens und der Gummifinger, deren er sich bei seiner Arbeit bedient hatte. Darauf schloß er das Fenster und das innen befestigte Sicherheitsschloß. Drei Minuten später erschien ein ehrbar aussehender, zitternder alter Mann, mit einem Schlafanzug bekleidet, in der Tür der gleichen Wohnung des zweiten Stockwerkes und lugte ängstlich auf den Flur hinaus. Er bat die Polizeibeamten, die das Treppenhaus absuchten, inständig mit vor Furcht vibrierender Stimme, sie möchten doch ja auch in seiner Wohnung nachsehen.

»Ich habe gesehen, wie ein Kerl von der Feuertreppe gerade vor meinem Schlafzimmerfenster geschossen hat«, stöhnte er. Der zahnlose Mund war vor Schreck verzerrt, und seine halbgelähmten Hände bebten, als er stotterte: »Wo soll das bloß noch hin?«

Der »Salpeter-Ede« hatte seine falschen Zähne in ein Glas Wasser getan. Er war alt genug, daß er einen Gegenspieler der Sarah Bernhardt hätte abgeben können, und sein verbrecherisches Debüt dürfte auch ungefähr mit ihrem ersten Auftreten zusammengefallen sein.

Zwei Polizeibeamte, der eine in Zivil und der andere in Uniform, stürzten durch die Wohnung nach der Seite, die auf den Hof hinaus lag. Der Riegel des Sicherheitsschlosses an dem Fenster schnappte zurück. Der eine Beamte duckte sich. Alles lag im tiefsten Dunkel.

Auf der Feuertreppe erhob sich ein Mann aus seiner gebückten Stellung, fuhr mit einem Knirschen zurück und feuerte. Sein Schuß traf den Mann in Uniform. Wie ein Echo folgte ein Schuß von seiten des Detektivs und besiegelte das Schicksal des Verbrechers. Er drehte sich und fiel vornüber die zwei Stockwerke auf den Hof hinab, dicht neben den niedergeschossenen Schutzmann und gerade auf den leeren Juwelenkasten. Die Kugel hatte das Herz dieses Geiers mitten durchschossen.

Sein Schicksal war eigentlich schon in der Stunde besiegelt worden, in der Harry Gregory auf Anraten Murdocks den »Salpeter-Ede« veranlaßt hatte, sich ein Sicherheitsschloß an sein Fenster machen zu lassen. Wenn der Verbrecher das gewußt gehabt hätte, wäre er sicherlich nicht dem Vorschlag seines Komplizen gefolgt, gerade durch dieses Fenster zu ihm hereinzuflüchten, falls ihm alle anderen Ausgänge gesperrt sein sollten.

Tote plaudern nichts aus. Dieser Satz hat auch der Polizei gegenüber seine Geltung. Der Gedanke des »Salpeter-Ede«, seinen Gehilfen an das Fenster zu locken, war eine höchst geniale Idee, denn sie verschaffte ihm einen bombensicheren Beweis zu seinen Gunsten. Der »Salpeter-Ede« war einer der wertvollsten Mitarbeiter Murdocks, und er war auf diese Weise am besten geschützt.

Der leere Juwelenkasten im Hof, die Gummifinger daneben, der schwer verwundete und bewußtlose Schutzmann und der mitten ins Herz getroffene Einbrecher, dazu ein offenes Fenster im Erdgeschoß, durch das man über einen Haufen Mülleimer und Kohlenkasten hinweg zu einem unverschlossenen Hintereingang gelangen konnte, was brauchte man noch, um die Polizei auf die falsche Fährte zu locken, daß ein dritter Einbrecher mit der Beute geflüchtet sein müsse?

James Murdock, der zu dieser Zeit auf mondbeglänzten Fluten sanft dem mächtigen New York entgegenschaukelte, hatte wirklich auch nicht die geringste Kleinigkeit unbedacht gelassen, die überhaupt vorher zu bedenken gewesen war. Auch die falsche Fährte wurde verfolgt. Einer von Murdocks Leuten, der rauchend am Fenster des gegenüber liegenden Hauses saß, machte die Polizei freundlichst darauf aufmerksam, daß er einen Mann die Straße in der Richtung nach der zehnten Avenue habe hinabrennen sehen.


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