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15.
Faun und Nymphe

Als Gregory nach unten ging, stand Audrey am Fenster. Warren ließ lange auf sich warten. In Gregory erwachten alle Gefühle vom Abend vorher. Was sich eben begeben hatte, war vergessen, tot. Dies Mädchen war das Leben. Ihre Gestalt war so ebenmäßig wie die Gestalt einer Nymphe. Ja, eine Nymphe war sie, bei hellichtem Tage erschienen. Die Halle wurde zum Hain in des Waldes Tiefe, und niemand hinderte ihn, seine Nymphe zu verfolgen.

Audrey wandte sich in das Wohnzimmer zu ihrer Rechten, ohne Gregorys gewahr zu werden. An der Tür blieb er stehen, sah sich vorsichtig um und ging ihr nach. Er war nur ein kärglicher Ersatzmann für den Besucher, den sie erwartete. Aber das konnte Gregory nicht wissen.

»Wie geht's Ihnen heute, liebe Audrey«, fragte er ängstlich besorgt.

»Danke, gut, und Ihnen?« Ihr Ton war höflich, aber nicht mehr als das.

»Wenn ich im Sterben läge, ein Blick von Ihnen würde mich restlos wieder gesund machen«, gab er galant zur Antwort.

»Hoffen wir, daß eine solche Arznei nicht nötig sein wird«, gab sie zurück.

Gregory lachte. In Kleinigkeiten war er stets höflich. Er dämpfte sein Lachen. »Die Notwendigkeit ist bereits gegeben, und die Arznei ist ja gottlob bei der Hand. Ich schmachte nach einem Blick von Ihnen wie ein Sterbender.«

Sie machte aus ihrem Unwillen keinen Hehl, wenn sie sich auch zu beherrschen bemühte. Gregory ignorierte ihn, obwohl er aus ihren Blicken und ihrer ganzen Haltung deutlich entnahm, wie stark ihr Gefühl gegen ihn war.

»Es gibt hier in New York wirklich eine Fülle junger Mädchen,« fuhr er fort, und seine Stimme bekam etwas verliebt Schnurrendes, »aber ich sehe sie alle nur wie durch einen Nebel, halb verschwommen. Klar und deutlich sehe ich nur Sie allein, ob ich nun in Ihrer Nähe bin oder nicht. Können Sie mir das erklären, Audrey?«

»Leute, die nicht deutlich sehen können, sollten zum Augenarzt gehen, meinen Sie nicht auch?« spottete sie, den Angriff parierend.

Audrey wollte nichts mit Gregory zu schaffen haben. Aber andererseits wollte sie ihn auch nicht geradezu beleidigen. Sie duldete ihn mehr um ihres Vaters willen. Er genoß schließlich das volle Vertrauen ihres Vaters. Sie konnte nicht in ganzem Umfang ermessen, was das zu bedeuten hatte. Aber wie der Blinde mit seinem Stock die Tiefe des Wassers fühlt, an dessen Rand er steht, so fühlte Audrey trotz ihrer jugendlichen Blindheit intuitiv das Wasser zu ihres und ihres Vaters Füßen, ahnte die gefahrdrohenden Stromschnellen und tödlichen Strudel.

Gregory trat dichter an sie heran. Sein Lächeln wurde zuversichtlicher. Er liebte sie auf seine Art noch mehr um ihrer schüchternen Versuche willen, sich ihm zu entziehen. Sie war schlagfertig. Auch das hatte er gern an ihr. Es gab seinen Werbungen erst die rechte Würze.

»Der Arzt, der die Krankheit meiner Augen heilen könnte, ist noch nicht geboren. Amor ist blind, Audrey, und alle Opfer dieses Gottes empfangen von ihm das gleiche Gebrechen. – Unser Tanz gestern abend, erinnern Sie sich? Ich hatte meine Arme um Sie geschlungen, aber der Gefangene war ich. Ich fühlte mich glücklicher dabei, als wenn ich ein Triumphator gewesen wäre, im Purpurmantel auf dem goldenen Siegeswagen, den Lorbeerkranz auf meiner Stirne und um mich her das Jubelrufen meines Gefolges.«

Audrey zitterte. Sie fühlte einen doppelten Widerwillen, weil sie sich schuldig fühlte. Die Schamröte stieg ihr ins Gesicht. Gregory mißverstand ihr Erglühen und glaubte sie an seiner eigenen, unheilig brennenden Flamme entzündet.

»Audrey,« sagte er und trat ganz dicht zu ihr, »gestern abend hielt ich Sie in meinen Armen. Aber auch Sie haben mich mit den Ihren umfangen gehabt. Auch Sie, ganz unwillkürlich. Um keinen Preis der Welt hätte ich Ihre Hände von meiner Schulter genommen. Ihr Gesicht bog sich zu mir empor. Für diesen Augenblick habe ich gelebt. Ihre Augen, Ihre Lippen, Ihr Leib – – –«

Er zog sie in seine Arme. Aber im gleichen Augenblick riß sie sich los. Ihre Augen flammten, und ihr Gesicht war blutrot vor Zorn. Zuerst konnte sie nur stammeln, aber dann wurde sie ihrer Worte Herr und ihre glockenhelle Stimme schwang voll schallender Entrüstung.

*

Murdock saß einsam in seinem Arbeitszimmer und starrte auf das weiße Fleckchen an der Wand.

»Warren hat mir erklärt, daß sein Revolver 0,75-kalibrig war,« dachte er bei sich, »meiner auch. Aber ich habe doch eine Dummheit gemacht. Ob mir das noch öfter passieren wird? Unsinn. Ich will mich nicht verrückt machen. Was hat's für 'nen Sinn. Wie oft der Detektiv auf den Einbrecher oder der Einbrecher auf den Detektiv geschossen hat, ist ja doch ganz gleichgültig. Die Polizei jedenfalls kann es nicht wissen. Warren hat keine Ahnung, daß ich auch geschossen habe. Erstens hat er es nicht sehen und zweitens nicht hören können. Darauf möchte ich mein Leben wetten. Er hat Montrose und Marsh und Dell hier in meiner Gegenwart erklärt, daß er Gusset erschossen hat. Und er hat vor Gericht seine Erklärung wiederholt. Damit ist die Sache verbrieft und versiegelt. Nein, ich kümmere mich nicht um das Loch an der Wand und mache es auch nicht zu. Es wäre nur ein Beweis gegen mich. Und jetzt ist's ein Beweis für mich. Aber Gregory hat's gesehen. Er ist gerissen und wird von Tag zu Tag gerissener. Ich muß etwas vorsichtiger werden, auch mit ihm. Wenn Gregory versuchen sollte, mich – – –«

Murdock erhob sich. Er wälzte jetzt wieder die Einzelheiten des allergewaltigsten seiner Pläne in seinem Hirn. Er ging zur Tür und öffnete sie. Die schmetternden Entrüstungsrufe Audreys und die verteidigenden Antworten Gregorys schallten zu ihm herauf. Er konnte die einzelnen Worte nicht hören, aber der Ton genügte. Murdocks phantastischer Traum war zu Ende.

Er ging zur Treppe und sah hinunter. Er konnte die beiden nicht sehen, aber eine heiße Blutwelle rauschte in ihm empor, und sein Zorn sprang auf wie ein Geiser. Murdock erlaubte sich nur selten den Luxus eines Temperamentausbruches. Aber er war wütend um Audreys willen, doppelt wütend, weil er ihre Wut auf seinen Kompagnon unmißverständlich fühlte, ihren Zorn gegen den Mann, auf den er in allen Dingen vertrauen wollte.

»Gregory!« Der Ruf klang wie ein Peitschenhieb. Murdocks jüngerer Kompagnon tauchte in der Halle auf. Er war durchaus nicht niedergeschlagen. Im Gegenteil, er trug den Kopf ganz hoch. Es war ein Rückzug, aber keine Niederlage.

Audrey blieb schluchzend im Zimmer.

Murdock wagte nichts zu sagen. Um Audreys Erniedrigung nicht noch zu vergrößern, wollte er auch den Anschein vermeiden, als ob er gehört und durchschaut hätte, was sich soeben ereignet hatte. Er warf den Kopf zurück, was für Gregory soviel hieß wie: »Heraufkommen!«

Gregory stieg mit schwunghaften Schritten die Treppe hinauf. Er wollte den Eindruck erwecken, als ob nichts geschehen wäre. Er hatte Murdock noch niemals wütend auf sich gesehen. Als ihn Murdock vor sich in sein Arbeitszimmer treten ließ und die Tür schloß, überkam ihn eine Furcht. Es war ein böses Zeichen. Aber Gregory verlor nicht die Herrschaft über sich selbst. Seine Hand verriet kein Zittern, als er sich eine Zigarette anzündete und sich seinen Stuhl auf Murdocks Wink ihm gegenüber an den Schreibtisch zog.

Murdock wußte, was er zu tun hatte. Er kannte die Macht, die Gregory über ihn besaß. Und ganz wie in der vergangenen Nacht setzte er alles auf die eine und einzige Karte, auf das Geschäft!

Ein anonymer Wink von diesem Manne an die Polizei, vielleicht ein Wink, nachdem er sich selbst in Sicherheit gebracht hatte, und Murdock war erledigt, ein entlarvter Verbrecher, vielleicht, wer weiß, zum Tode verurteilt. Aber in dem Augenblick, in dem Audrey in Frage kam, hätte Murdock auch dem Tode unerschrocken ins Gesicht gesehen.

Trotz allen Weitblicks, trotz all seines Scharfsinns und seiner Fähigkeit, den Gang der Ereignisse Monate und Monate im voraus zu bestimmen, hätte James Murdock nicht in seinen kühnsten Träumen daran gedacht, daß eine derartige Situation entstehen, daß der einzige Mann, dem er seine tiefsten, wenn auch nicht seine allertiefsten Geheimnisse anvertraut hatte, ihm jemals so gegenübersitzen würde, wie er es jetzt tat.

In Murdock glomm es. Nur mit Mühe wurde er Herr über seinen Zorn. Wenn Gusset nicht in der Nacht vorher erschienen gewesen wäre, dann wäre jetzt Gregory nach einem geräuschlosen Schuß mit einer Kugel im Hirn auf den gleichen Teppich niedergesunken, auf dem der ehemalige Zuchthäusler gelegen hatte.

»Ich möchte frei von der Leber weg reden, Gregory«, sagte Murdock schließlich, und seine Stimme klang so ruhig, daß es ihn selbst überraschte. »Wir beide sind Verbrecher, oder besser, wir sind Kapitalverbrecher. Jawohl, das sind wir,« wiederholte er nachdenklich, »und dazu gehören wir. Wir beide sind vom gleichen Schlag. Wenn's anders wäre, würden wir kaum zusammen arbeiten. Mit einem einzigen Unterschied. Ich bin ein gutes Stück älter als du. Du bist noch jung. Du hast noch eine ordentliche Strecke Wegs vor dir. Ich will mich nicht mit dir verzanken. Dazu hast du viel zu gute Qualitäten. Aber du mußt verstehen, was ich dir jetzt zu sagen habe. Das ist das einzige, was ich verlange. Und ich verlange, daß du es beherzigst. Ich rede einmal und nicht wieder davon!«

Gregory nickte. Er empfand einen gewissen Groll, nicht gegen Murdock, wohl aber gegen Audrey.

»Audrey ist eine andere Sorte Mensch,« fuhr Murdock fort, »eine ganz andere Klasse. Sie ist eigentlich viel zu gut und viel zu schön, um meine Tochter zu sein. Du siehst, ich bin ganz offen mit dir. So, und nachdem wir uns darüber einig sind, Gregory, habe ich folgendes zu sagen: wenn ich keiner solchen Tochter würdig bin, dann bist du keiner solchen Frau würdig wie Audrey. Das ist mein erstes und letztes Wort in der Angelegenheit. Ich mache dir keinen Vorwurf daraus, daß du ihr deine Bewunderung schenkst. Im Gegenteil, das spricht höchstens zu deinen Gunsten, wenn ich auch diesen Vorzug erst vor ein paar Minuten bei dir entdeckt habe.«

Gregory scharrte unruhig mit den Füßen. Er hatte diesen eisigen Ton schon früher von Murdock gehört, wenn ihm jemand den Gehorsam verweigert hatte, aber er hatte niemals ihm gegolten. Das Schicksal der Betreffenden war gewöhnlich nicht sehr erfreulich gewesen. Die beiden Kompagnons hatten darüber nie ein Wort verloren.

»Mach an dem Punkt halt, an dem ich dich vorhin zu mir heraufgerufen habe. Hände weg! Von dieser Sekunde an wirst du ein für alle Male irgendwelche intimen Annäherungen an meine Tochter unterlassen.«

Murdock machte eine Pause und sah sein schweigendes Gegenüber fest und durchdringend an. Als er wieder zu sprechen anhub, war sein Ton bedeutend liebenswürdiger.

»Gregory, ich habe niemals einem Menschen mein Vertrauen geschenkt. Dir vertraue ich. Ich habe meine Freiheit, vielleicht sogar mein Leben ohne Schwanken in deine Hände gelegt. Jetzt vertraue ich dir etwas, das weit wertvoller ist, meine Ehre. Noch setze ich keinen Zweifel in dich. Ich verstehe dich dazu viel zu gut. Ich verurteile dich nicht, aber ich muß dir mit aller Energie erklären, daß ich mir verbitte, daß du dich meiner Tochter aufdrängst. Ich verlange dein Ehrenwort in dieser Angelegenheit, Gregory. Was hast du mir zu antworten?«

Gregory warf seine Zigarette fort. Sein Gesicht bekam einen Ausdruck höchster Achtung, einen Ausdruck, den sich Gregory willkürlich zu geben vermochte, und der viel intensiver und weit schmeichelhafter wirkte als ein ganzer Band wohlgesetzter Worte.

»Was kann ich anderes sagen, als daß ich zustimme? Sicherlich, ich bin ein Verbrecher. Wir beide sind's, wenn auch, wie du ja gesagt hast, keine Verbrecher gewöhnlicher Art. Du appellierst an meine Ehre und triffst damit den Punkt, an dem ich am verwundbarsten bin. Auch wir haben unsere Ehre. Das weißt du genau so gut wie ich.«

Gregory stand von seinem Stuhl auf, streckte Murdock über den Schreibtisch die offene Hand entgegen und sah ihm fest ins Auge.

»Ich gebe dir mein Ehrenwort, daß ich von dieser Stunde an bis zum Äußersten deine Wünsche respektieren werde. Ich werde das Vertrauen, das du in mich gesetzt hast, nicht mißbrauchen. Du hast mir eine größere Ehre erwiesen als wenn du gesagt hättest: ›Gregory, ich bin ein Lump. Ich weiß es. Aber du bist ein Ehrenmann!‹ Meine Hand drauf! Du hast meine Ergebenheit zu dir besiegelt und mich mit Banden an dich gefesselt, die ich nicht zu sprengen vermöchte, selbst wenn ich wollte.«

Murdock streckte auch ihm seine Hand entgegen und schlug in die Gregorys ein.

»Ich danke dir«, sagte er und hielt ihn fest wie in einem Schraubstock. Gregory trug den Schmerz wie ein Heiliger am Marterpfahl. Schließlich lockerte Murdock den eisernen Griff und schritt zum Fenster. Er tat, als ob er hinausblickte. Er war tief bewegt. Aber es ging vorüber, und Murdock war wieder ganz, was er von sich gesagt hatte, der Verbrecher.

Mit seinem jüngeren Kompagnon war es nicht anders. Aber darum liebte er Audrey nicht weniger, als er es getan hatte, bevor er das Zimmer betrat.

Die beiden unterhielten sich noch eine Weile ungezwungen über alles Mögliche. Die Kluft war überbrückt.


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