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14.
In der Hauptsache zwei Schurken betreffend

Höchst selten – in der Praxis so gut wie gar nicht – geschieht es, daß der New-Yorker Polizeichef einen Kriminalfall seinen höheren Beamten aus den Händen nimmt und ihn selbst führt. Es liegt eigentlich keinerlei Notwendigkeit für eine derartige Maßnahme vor, und außerdem gehört sie auch gar nicht zu den Obliegenheiten des Chefs.

Abteilungsleiter, Inspektoren und Kommissare bilden je nachdem die obersten Kontrollinstanzen. Die Kontrolle über den Seidenraub auf dem Hudson lag auch noch ungeschmälert in ihren Händen.

Die Erschießung des Einbrechers in der Fifth Avenue fand noch am gleichen Tage ihre formelle gerichtliche Erledigung. Warren hatte sich wegen des Totschlags in Ausübung seiner dienstlichen Pflichten zu verantworten. Murdock war natürlich bei der Verhandlung anwesend. Der junge Kriminalbeamte wurde entlastet, und Murdock sprach ihm seinen Glückwunsch angesichts des versammelten Gerichtshofes aus.

Wenn der Polizeichef Roger Warren so ganz allein mit seiner Mission betraute, so wollte er damit eigentlich den Fall gegen einen möglichen Sturmwind sichern. Üblich war es durchaus nicht. Üblicherweise gehen Kriminalbeamte paarweise auf die Jagd. Und das hat seine guten Gründe. Aber diese Gründe hielt Roger Warren zur Zeit für seine Person nicht für stichhaltig. Wenn er mit einem zweiten Beamten zusammen arbeiten würde, so mußte das ganz selbstverständlich Verdacht erregen. Gusset war tot, das gerichtliche Nachspiel erledigt und somit der ganze Fall offiziell abgeschlossen. Was lag also für ein Grund vor, daß zwei Kriminalbeamte der Sache noch weiter nachgehen sollten? Diese Frage mußte ganz unbedingt von den noch unentdeckten Schuldigen gestellt werden.

Es wurden also weiter keine Kriminalbeamte mit der Aufnahme der verbrecherischen Spur betraut. Eigentlich war es zunächst noch überhaupt keine richtige Spur, sagte sich Warren. Das »Universal«-Muster hatte sich auf Murdocks Schreibtisch befunden, ehe der Raub auf dem Hudson begangen worden war. Es konnte also unmöglich einen Bestandteil der gestohlenen Ware darstellen. Diese Feststellung war wesentlich, denn sie zeugte für die Anwendung der richtigen kriminalpolizeilichen Denkmethodik, aber sie war noch um vieles wesentlicher für die Entwicklung der kommenden Ereignisse.

Roger Warren hatte, wie gesagt, keine Kenntnis von der Entdeckung, die Inspektor Montrose gemacht hatte. Das war nicht nur unnötig, sondern hätte ganz zweifellos von allem Anfang an die Bemühungen des so geschickt arbeitenden jungen Detektivs behindert und vielleicht sogar zum Scheitern gebracht. Die ganze Situation hätte dadurch für ihn ein anderes Gesicht bekommen. Es hätte seine Gedanken verwirrt und ihn von dem Ziel abgelenkt, das er sich gesteckt hatte. So aber waren für Warren Tür und Tor offen.

»Sie müssen Audrey anrufen«, erklärte ihm Murdock, als sie den Gerichtssaal verließen, »Sie müssen ihr persönlich mitteilen, daß Sie jetzt endgültig entlastet sind. Sie hat noch heute morgen mit mir von Ihnen gesprochen und mir auch von Ihrem Hund erzählt. Sie will ihn mit zu uns aufs Land nehmen, hat sie gesagt. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen. Ich für meine Person habe ihr in meinem ganzen Leben noch keine Bitte abgeschlagen.«

»Vielen Dank, Mr. Murdock,« sagte Warren, »vielleicht rufen Sie sie an, und ich spreche dann auch ein paar Worte mit ihr.«

Murdock telephonierte mit seiner Tochter. Audrey war glücklich. Sie ließ Warren bitten, mit ihrem Vater zum Esten zu ihnen zu kommen. Warren entschuldigte sich wegen dienstlicher Pflichten, versprach aber auf ihre wiederholte Bitte hin, wenn irgend möglich im Laufe des Nachmittags vorbeizukommen.

Murdock war ganz obenauf. Die Entlastung Warrens schloß die gerichtliche Anerkennung in sich, daß Gusset in Ausübung dienstlicher Pflichten von einem Kriminalbeamten erschossen worden war, und das war für ihn unter den augenblicklichen Verhältnissen nicht wenig wert. Daß Warren die Einladung zum Essen ablehnte, war ihm auch nicht unangenehm, denn er erwartete zu Hause Harry Gregory, um mit ihm wegen der Seidenlieferung zu sprechen, die im Laufe der nächsten achtundvierzig Stunden verpflichtungsgemäß vorgenommen werden mußte.

»Gregory hat schon recht,« sagte er in Gedanken zu sich, als er in seinem Auto nach Hause fuhr, »ich mache mir aus Polizeimenschen so wenig wie er, aber mitunter haben sie doch auch ihr Gutes. Dieser Warren ist tatsächlich ein Gentleman und nicht bloß ein Kriminalbeamter. Je mehr ich in diesen Tagen einen Beamten von der Zentrale in meiner Nähe habe, um so besser für mich. Allerdings nicht zu nahe. Aber die Nähe von Warren ist ganz die richtige. Ja, ja, er hat mir das Leben gerettet.«

Roger eilte nach Hause. Zum Glück war der Kehrichteimer noch nicht geleert worden. Er fischte und fischte in dem Abfall herum, bis er das blutbefleckte Stück Seide fand. Er klopfte es sauber und tat es sorgfältig beiseite, denn er wollte es bei nächster Gelegenheit dem Polizeichef vorweisen. Alsdann warf er sich in einen neuen Anzug, ließ sich rasieren, kam ziemlich spät erst dazu. Mittag zu essen, und zog sofort los, um bei Murdocks den versprochenen Besuch zu machen.

Audrey hatte sich ähnlich viel Mühe mit ihrer äußeren Erscheinung gegeben. Sie hatte sich nach dem Mittagessen ein einfaches, aber bezaubernd hübsches Kleid angezogen. Kein Schatten von den grausigen Ereignissen der letzten Nacht verdunkelte ihren Weg, bis sie sich entschloß, wieder nach unten zu gehen.

Gregory war erschienen und befand sich mit ihrem Vater in dem Bibliothekzimmer. Die Tür war geschlossen. Sie hörte wohl die Stimmen der beiden, aber sie konnte nicht verstehen, was sie sprachen. Audrey überlief ein Schauder, als sie zuerst Gregorys Stimme wieder vernahm, und es schüttelte sie bei der Erinnerung an seine ganze Art während des Tanzens am vergangenen Abend.

Audrey pflegte nicht zu horchen. Wenn sie stehenblieb, so geschah es nur, weil sie in Gedanken an ihren Vater war. Wenn Gregory von schlechtem Einfluß auf sie war, so konnte seine Gesellschaft auch für ihren Vater nichts taugen. Mit einem Seufzer stieg sie die Treppe hinunter.

Von der tollen Gesellschaft waren keine Spuren mehr geblieben. Der Raum war wieder ganz alltäglich. Wie unendlich weit doch alles zurücklag. Audrey dachte darüber nach, welches Band wohl ihren Vater mit Gregory verknüpfen mochte. Wie Gespenster tauchten ihre Gefühle und Ahnungen der letzten Nacht wieder auf und beängstigten sie.

»Aus welchem Grunde ist der Fremde in unser Haus eingedrungen, und warum hat er meinen Vater töten wollen?« fragte sie sich. »Ich zweifle nicht daran, daß er es gewollt hat. Er hat ihn nicht berauben wollen. Sollte –, aber nein, Gregory würde meinem Vater nichts Böses antun. Aber wer sonst und aus welchem Grunde?«

Ein Lachen drang durch die geschlossenen Türen des Bibliothekzimmers. Audrey wurde wieder schwankend.

In Murdocks Arbeitszimmer besprachen sich zwei Schurken.

»Sie haben Yates laufen lassen müssen«, erklärte Gregory mit verschmitzt lauernden Blicken, die ein selbstgefälliges Lächeln mehr als ersetzten. »Er ist raus und unterwegs nach Argentinien.«

Murdock lachte mit Stentorstimme, daß das ganze Zimmer schütterte.

»Warum auch nicht?« sagte er höhnisch. »Was blieb ihnen auch anderes übrig? In der ganzen Kriminalpolizei ist ja auch nicht ein einziger Kerl mit Verstand. Lauter Esel an der öffentlichen Futterkrippe, weiter nichts. Ich möchte mich der Gesellschaft nicht anvertrauen müssen! Die bekommen auch nicht so viel raus! Die Seide ist bei uns im Lager, in Kisten verpackt, die wir aus Japan bekommen haben. Die Frachtmarken sind deutlich genug. Wir haben die Bescheinigung vom Zollamt, daß die Ware verzollt ist. Wir haben die Ladescheine von der Bahn, wir haben die Quittungen für den Transport, – wobei sollen uns denn die Kerle fassen?«

»Du bist ein Meister,« sagte Gregory bewundernd, »aber, wenn du gestattest – – –«

»Schieß los!«

»Ich würde die Sache doch nicht für so unbedingt sicher nehmen. Mit Gusset heute nacht sind wir gerade noch so vorbeigerutscht. Das alte Sprichwort, du weißt schon: ›Der Krug geht so lange zu Wasser – – –‹«

»Solche Weisheiten sind was für Narren. Ich kümmere mich nicht um solche Redensarten. Aber davon ganz zu schweigen, ich habe durchaus nicht die Absicht, unvorsichtig zu sein. Ich mache das Geschäft nicht, um dabei erwischt zu werden und freies Logis mit Licht, Heizung und Bedienung zu bekommen. Ich mache es, weil es nichts Grandioseres in der ganzen Welt gibt, als so still im Dunkeln zu sitzen, die Drähte in den Fingern, und seine Puppen tanzen zu lassen.«

»Wenn ich nicht ganz wie du empfände,« gab Gregory zur Antwort, »würde ich nicht mitmachen. Aber mein Gefühl sagt mir, ›Hochmut kommt vor dem Falle!‹ Du siehst, ich zitiere noch ein Sprichwort auf die Gefahr hin, von dir als Narr betrachtet zu werden.«

»Lieber Sohn, ich werde dich niemals für einen Narren halten. Du bist der einzige Mensch auf der Welt, der ganz nach meinem Geschmack ist. Du machst dein Geschäft genau so gut, wie ich es mache. Weiß Gott, du bist kein Leisetreter. Du ziehst frisch und frei vom Leder und gewinnst. Wie heute nacht auch. Ich will dir mal was sagen: ich habe einen neuen Plan, eine ganz große Sache. Es ist vielleicht die beste Idee, die ich je in meinem Leben gehabt habe. Und es wird unser bestes Geschäft von allen. Ein fabelhafter Gewinn. Die Geschichte wird einen Höllenspektakel machen, aber laß sie nur erst explodieren, uns wird's nicht stören. Verstanden?«

»Ich verstehe nur, daß du wieder etwas vorhast. Du hast ja schließlich immer große Dinge im Kopf. Wenn du losziehst, geht's doch gewöhnlich auf Walfischjagd und nicht auf Heringsfang. Aber erkläre dich etwas näher, dann werde ich dich besser verstehen. Erst muß ich wissen, um was es sich handelt.«

Eine fast übernatürliche Verschlagenheit züngelte aus Murdocks Blicken. Er lächelte vielversprechend, aber er verdoppelte dabei seine Unergründlichkeit.

»Noch zu früh, Gregory. Wir wollen den Krug nicht zu oft zu Wasser gehen lassen, wenn es nicht unbedingt notwendig ist. Außerdem ist die Sache bei mir noch nicht ganz reif. Der Plan muß lückenlos sein. Der Erfolg darf durch keinen Zufall in Zweifel gestellt werden können. Wenn es soweit ist, sollst du alles wissen.«

Gregory erstickte seine Enttäuschung mit einem heuchlerischen Lächeln. »Na schön, dann werde ich bis dahin zu raten versuchen, was dein nächster Walfisch sein wird«, erwiderte er, »und was mit dem Tran gemacht werden soll! Inzwischen werde ich mir die Zeit mit Audrey ver – – –«

Gregory stockte plötzlich. Mit seinen ruhelosen Blicken hatte er anscheinend etwas entdeckt. Unmittelbar hinter der Stelle, an der Gusset in der vergangenen Nacht gelegen hatte, leuchtete ein weißes Fleckchen an der Wand. Gregory bückte sich, sah Murdock an und zeigte mit dem Finger auf die Stelle.

»Entschuldige, wenn ich wieder zitiere,« sagte er, »aber eine Kugel kam geflogen!«

Murdock trat zu ihm hin, warf einen Blick auf die Stelle an der Wand, zuckte mit den Achseln und lachte heiser.

»Stimmt. Aber von mir ist sie nicht gekommen. Sein Kopf war mehr nach dieser Seite.« Er zeigte ein paar Meter weiter nach links. »Laß die Kriminalpolizei sich die Köpfe darüber zerbrechen. Die haben gewöhnlich mehr Erklärungen als Haare auf dem Kopf. Was kümmert's mich? Man soll nicht zu vorsichtig sein, Gregory. Das ist der Grund, daß die meisten Leute doch eines Tages geklappt werden.«


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