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24.
Inspektor Montroses Methoden

Der Kriminalbeamte, der einzelne Spuren verfolgt, hat niemals alle Glieder der Beweiskette vor Augen. Er kann nur den einen oder den anderen Umstand erkennen, der später bei der Zusammenreihung den endgültig bindenden Beweisschluß ergibt. Sobald er ein Glied gefunden hat, muß er sich auf die Suche nach dem nächsten machen, bis er so weit ist, daß die Beweismomente stark genug sind, um eine Verhaftung, eine Anklage und schließlich die Verurteilung zu garantieren.

Aus diesem Grunde hatte sich Inspektor Montrose zunächst mit der Aufklärung des minimalen, aber doch klar ersichtlichen Unterschiedes zu beschäftigen, den die dritte der in Gussets Körper gefundenen Kugeln von den beiden anderen aufwies.

Am Morgen des gleichen Tages, an dem Roger Warren seine Nachforschungen in der Murdockschen Seidenfirma angestellt hatte, also am zweiten Tage nach Audreys wilder Gesellschaft und dem Tode des »Mappen-Gusset«, hatte der Kriminalinspektor bereits zwei Glieder der Kette beisammen, die zur Verhaftung, Anklage und vermutlich zur Verurteilung Murdocks wegen Mordes führen mußten.

Eines dieser beiden Beweisglieder waren eben die drei Kugeln, von denen zwei vom Kaliber 0,75 aus der Polizeiwaffe Warrens stammen mußten. Die dritte hatte das Kaliber 0,750. Warren hatte dreimal geschossen, und drei Kugeln waren aus dem Körper des Toten entfernt worden. Zwei weitere Kugeln hatte man in der Hallenwand gefunden. Beide waren von größerem Kaliber und paßten genau in die Waffe, mit der Gusset geschossen hatte.

Das zweite Beweisglied bildete die vierte Kugel, die in dem Müll aus der Murdockschen Villa gefunden worden war. Diese Kugel war zweifellos diejenige, die Roger Warren mit seinem Revolver abgefeuert hatte, ohne Gusset damit zu treffen. Bei diesem Schuß stand Warren draußen in der Halle, während sich der Einbrecher hinter dem Sessel der Länge nach auf den Boden geworfen hatte und halb außer Sicht auf den Detektiv feuerte.

Diese beiden Beweisglieder hatte Inspektor Montrose in der Hand. Aber so wesentlich sie auch waren, er brauchte noch zum mindesten drei weitere Momente, um die Kette so schließen zu können, daß sie auch dem logischsten Zweifler vor Gericht standhielt.

Diese drei Momente waren die folgenden:

1. Wenn vier Schüsse abgegeben worden waren, warum erwähnte Warrens Bericht nur drei?

2. Wenn Murdock eine Waffe besaß und den vierten Schuß aus dieser Waffe vom Kaliber 0,750 abgegeben hatte, wo befand sich der Revolver, und wie konnte er herbeigeschafft werden?

3. Was war das Motiv, das James Murdock veranlaßte, den »Mappen-Gusset« in dem gleichen Augenblick niederzuschießen, in dem der Kriminalbeamte bereits die Waffe zum Schuß erhoben hatte?

Wenn Murdock nicht gelogen gehabt hätte, wenn er nicht seine Waffe zur Zeit der Schießerei verborgen und sie nachher heimlich aus dem Hause gebracht hätte, wäre vermutlich niemals auch nur der leiseste Verdacht gegen ihn entstanden.

Murdock hätte weiter nichts zu tun gehabt, als auf Roger Warrens erste Frage, ob er den Einbrecher je vorher gesehen gehabt hätte, statt mit einem Nein mit einem klaren Ja zu antworten. Wenn er dies Ja gesagt und hinzugefügt hätte, daß er vor Jahren einmal mit Gusset »etwas vorgehabt« und daß Gusset ihm Rache geschworen hätte, dann würde voraussichtlich schon allein die Tatsache, daß Gusset inzwischen wegen eines Verbrechens im Zuchthaus gesessen hatte, genügt haben, um den reichen und über jeden Vorwurf erhabenen Geschäftsmann von jedem Schein irgendeines Verdachtes zu reinigen.

Wenn es sich unmittelbar herausgestellt hätte, daß Murdock und nicht Warren die Kugel abgeschossen hatte, die nach Aussage des Polizeiarztes den Tod des Gusset herbeigeführt hatte, so wäre natürlich Warren nicht wegen Totschlages in Ausübung dienstlicher Pflichten zur Verantwortung gezogen worden. An seiner Statt hätte sich Murdock zu verantworten gehabt, aber Murdock hätte in Warren den besten Kronzeugen gehabt. Er wäre ebenso rasch entlastet worden wie Warren, da Gussets Verbrechertum aktenmäßig bekannt war und Warren Zeuge der Vorgänge in der Murdockschen Villa gewesen war. Auf diese Weise wäre Murdock der Erfolg sicher gewesen, den er jetzt nur zu haben glaubte, als er sich nach Washington begab, um dort die letzten Vorbereitungen für die erstaunlichste verbrecherische Leistung seiner langen Laufbahn zu treffen.

Murdock war bei allem Geschick eben doch nicht weitblickend genug gewesen.

Murdock hatte gelogen. Er hatte nicht nur Warren gegenüber, sondern ebenso Inspektor Montrose gegenüber gelogen.

Murdock hatte gelogen, weil er geglaubt hatte, lügen zu müssen. Er hatte das Gefühl gehabt, daß er nicht zugeben konnte, Gusset gekannt zu haben, ohne damit die Bekanntschaft mit Gussets einstigen verbrecherischen Umtrieben oder sogar seine persönliche Teilnahme daran indirekt zuzugestehen.

Murdock hatte geglaubt lügen zu müssen, weil er sehr wohl wußte, daß er Gusset gekannt hatte. Und obgleich er wußte, daß niemand anders außer ihm die letzten Verwünschungen Gussets gehört haben, daß niemand anders außer Gusset jemals bezeugen konnte, daß sie sich früher einmal gekannt hatten, log er in Gegenwart der Leiche des Mannes, den er getötet hatte. Also hatte er Angst gehabt.

Inspektor Montrose untersuchte das nächste Glied seiner Beweiskette. Er ging mit einfacher, aber untrüglicher Logik vor. »Wenn Warren Murdock nicht hatte schießen hören, wenn er in seinem Bericht überhaupt eines solchen Schusses keinerlei Erwähnung tat, dann hatte Murdock an dem Revolver, für den sich in den polizeilichen Akten ein Waffenschein befand, unbedingt einen Dämpfer.«

Die Erschießung Gussets hatte im Distrikt Inspektor Montroses stattgefunden. Die Seidenfirma und Murdocks Bureau befanden sich in einem anderen Polizeibezirk. Aber bei der Verfolgung eines Verbrechens ist jeder Kriminalbeamte berechtigt, seinen Amtsbezirk zu überschreiten, wenn er seine Vorgesetzten vorher davon in Kenntnis setzt.

Der Polizeichef hatte Inspektor Montrose, mit dem er soeben seine Besprechung gehabt hatte, unverzüglich telephonisch davon verständigt, daß ihm Warren mitgeteilt habe, er fahre mit Murdock auf dessen Landsitz nach Long Island, wo er auch Gregory treffen würde.

»Die Waffe,« hatte der Inspektor dem Polizeichef geantwortet, »kann sich meiner Meinung nach nur in Murdocks Villa oder in seinem Bureau in der Seidenfirma befinden. Ich möchte aber wetten, daß er sie im Bureau hat. Seit Gussets Erschießung hat er seine anderen Bureaus nicht betreten, wie mir meine Leute Dean und Daniels, die ihm nicht von den Fersen gewichen sind, ausdrücklich versichert haben. Die beiden fahren übrigens mit ihm nach Washington. Ich habe einen anderen Detektiv inzwischen mit seiner Verfolgung in der Stadt beauftragt, und ein vierter wird ihn auf Long Island im Auge behalten. Um die Pistole kümmere ich mich, glaube ich, am besten selber. Einverstanden?«

»Aber selbstverständlich. Einverstanden«, erwiderte ihm der Chef der Polizei.

Der Inspektor begab sich in Zivil in Murdocks Bureau. Mrs. Mary Mallory war selbstverständlich da. Der Inspektor kannte sie nicht. Er hatte keine Ahnung von der Tatsache, daß er die berüchtigte »Haken-Mary« vor sich hatte, und daß man sich in der Hauptpolizei auch bereits ihrer Fingerabdrücke versichert hatte. Mary hatte die letzten zwölf Jahre einen durchaus einwandfreien Lebenswandel geführt. Die »gute alte Zeit« war vorüber. Die Verbrecherbanden waren auseinander gesplittert, und ihre Macht längst dahin. Mary hatte einen ehemaligen Droschkenkutscher geheiratet und hatte eine kleine Wohnung in einem Teil New Yorks, der mit der guten alten Zeit vergessen war, und zwar in der Gegend südwestlich von dem Künstlerviertel »Greenwich Village«.

Inspektor Montrose fragte nach Mr. Murdock.

»Mr. Murdock ist heute nachmittag nach seinem Landhaus gefahren«, antwortete ängstlich die Angestellte mit dem ewig scheuen Blick.

Das war ein vielversprechender Anfang. Die Person hatte die Wahrheit gesagt.

»Ist Mr. Gregory vielleicht zu sprechen?«

»Nein, Herr. Ich glaube, er ist mit Mr. Murdock zusammen hinausgefahren.«

Inspektor Montrose wußte, daß auch diese Antwort der Wahrheit entsprach. Er lächelte. Er konnte auch liebenswürdig lächeln, wenn er wollte. Mrs. Mallory (denn nur unter diesem Namen war sie in der Firma bekannt) war beruhigt. Der Herr schien wirklich sehr nett zu sein.

»Kann ich Ihnen irgendwie dienen?« fragte sie höflich.

»Die Sache ist nämlich die,« sagte Montrose abermals mit einem verbindlichen Lächeln, »ich bin hinter einem Mann mit einem Revolver her. Man hat mir gesagt, er hätte die Waffe hierhergebracht. Ich wollte Mr. Murdock nur fragen, ob er den betreffenden Mann gesehen hat. Mein Name ist Montrose, Inspektor von der Kriminalpolizei.« Er legitimierte sich.

»Haben Sie irgendwen mit einem Revolver gesehen? Sie wissen doch, vorgestern nacht hat jemand versucht, Mr. Murdock zu ermorden. Seine Villa gehört zu meinem Distrikt. Es scheint mir so, als ob noch jemand anders hinter ihm her ist. Darum wollte ich lieber mal heraufkommen und mich vergewissern.«

Inspektor Montrose sagte die völlige Wahrheit. Er hatte Humor, und dieser Humor half ihm über die Lüge hinweg. Es war wirklich jemand hinter Murdock her, und dieser jemand war er.

»Nein,« erwiderte die »Haken-Mary«, wesentlich erleichtert, »ich habe keinen Mann mit einem Revolver gesehen. Aber eine weibliche Person habe ich damit beobachtet.«

»Wann?«

»Heute vormittag.«

»Was hat sie mit der Waffe gemacht?«

»Sie hat sie in Mr. Murdocks Schreibtischschublade getan.«

Der kluge, alte Polizeimann saß fest. Er schüttelte den Kopf. Sein Lächeln war nicht mehr halb so vergnügt wie vorher. Er war bitter enttäuscht.

»War Mr. Murdock zu der Zeit zugegen?«

»Ja, er war unten im Lager mit einem Kriminalbeamten. Ich glaube, Warren war sein Name. Sie haben sich zusammen die Seiden angesehen, um festzustellen, ob Mr. Murdock vielleicht zufällig gestohlene Ware gekauft hätte.«

Die Wahrheit ihrer Aussage schien Inspektor Montrose abermals zu überwältigen. Ihre Offenheit war unmöglich gemacht. Er hatte nun schon den dritten Beweis, und zwar auf drei ganz verschiedenen Gebieten, daß diese Person »in Ordnung« war.

»Ich kann mir eigentlich kaum vorstellen,« meinte er, »daß diese Frauensperson die Absicht gehabt hat, Mr. Murdock zu erschießen, denn dann würde sie vermutlich die Gelegenheit wahrgenommen haben, was? Kennen Sie sie übrigens?«

»Gewiß, Herr, ich kenne sie sehr gut. Sie würde Mr. Murdock ganz gewiß nicht erschossen haben. Es war nämlich seine eigene Tochter.«

»Na also. Wenn sie den Revolver weggelegt hat, geschah es vielleicht aus Furcht, daß jemand anders ihren Vater damit erschießen könnte. Sie wissen ja, vorgestern nacht hat es jemand versucht. Und seine Tochter hat es miterlebt. Sie gab gerade eine Gesellschaft. Ich möchte doch wissen, was sie mit der Waffe gewollt hat. Sie werden es mir aber auch wohl kaum sagen können.«

Montrose bemerkte ein plötzliches Aufleuchten in den Augen der kleinen Angestellten. Merkwürdig!

»Doch, ich sah sie lächeln und mit dem Revolver flüstern. Mir kam das direkt komisch vor. Ich habe sie nie etwas so Komisches tun sehen, solange ich hier auch im Geschäft bin.«

»Und das wäre wie lange?«

»Etwas über fünf Jahre.«

Er fragte sie nach ihrer Beschäftigung in der Firma. Sie gab ihm genaue Auskunft. Er fragte sie, wo sie wohnte, und sie gab ihm die Straße an, die Hausnummer und die Etage. Dann fragte er, wieso sie das junge Mädchen denn beobachtet hätte.

»Ich mußte hier diese Register aus Mr. Murdocks Privatbureau holen«, sie ging und zeigte Inspektor Montrose die betreffenden Kästen. »Ich hatte sie hier herausnehmen müssen. Detektiv Warren hat eine ganze Anzahl von den Papieren mit zur Polizei genommen. Ich mußte Merkzettel in die Register hineinstecken, damit ich es nicht vergaß. Wenn die Tür zu Mr. Murdocks Privatbureau auch nur ein ganz klein wenig offen ist, kann ich die eine Seite seines Schreibtisches überblicken, sehen Sie?«

Inspektor Montrose begab sich zu der bezeichneten Stelle und lugte. »Wenn die Tür zu ist, kann ich wirklich nicht beurteilen, was Sie haben sehen können.«

»Ich kann sie ja aufschließen. Ich habe den Schlüssel.« Und Mrs. Mallory machte die Tür auf und zeigte dem Inspektor, was er sehen wollte.

»Jawohl! Sie haben ganz recht«, sagte er. »Es mag Ihnen vielleicht nicht den Eindruck machen, als ob diese Kleinigkeit von besonderer Bedeutung ist, aber unter Umständen kann man nicht wissen. Ich spreche natürlich von dem Revolver und der jungen Dame. Sie hat mit der Waffe geflüstert, sagten Sie?«

»Und gelächelt«, erklärte Mrs. Mallory mit Bestimmtheit. »Ich konnte sie gerade stehen sehen. Und weil es mir so komisch vorkam, habe ich mich an die Türspalte gestellt und ihr zugesehen, bis sie den Revolver in den Schreibtisch tat.«

»Vielleicht hatte sie ihr Vater gebeten, ihm die Waffe zu bringen, damit er sie mit nach draußen nehmen könnte. Irgend jemand ist ganz scharf hinter ihm her.« Und er lächelte von neuem.

Mrs. Mallory schüttelte mit dem Kopf. »Nein, er hat sie nicht mitgenommen. Sie ist noch in seinem Schreibtisch. Ich habe das Schubfach selber abgeschlossen, als er fort war, aber ich habe das Ding nicht angefaßt wegen – – –«

»Ich denke, wir sehen uns die Sache mal selber an.«

Sie schloß das Schubfach auf. Ein neuer Beweis für Murdocks Lüge war erbracht.

»Ich habe sowieso mit Mr. Murdock morgen oder übermorgen zu sprechen«, erklärte Inspektor Montrose. »Ich denke, ich kann die Waffe ruhig an mich nehmen. Er hat ja einen Waffenschein. Wollen Sie mir vertrauen und ihm inzwischen nichts von meinem Besuch sagen?«

»Sehr gern.«

»Ich muß Mr. Murdock mit allen Mitteln gegen ein zweites, höchst wahrscheinliches Attentat auf sein Leben schützen«, sagte er listig. »Sie sprechen am besten überhaupt keinem Menschen davon, daß ich hier war. Ich werde Mr. Murdock nachher schon alles erklären. Und ich werde auch nicht vergessen, ein gutes Wort für eine seiner Angestellten einzulegen.«

»Ich verrate keinen Ton«, sagte Mary. »Das kann ich Ihnen versprechen. Wenn ich Ihnen sonst irgendwie von Nutzen sein kann, Herr Inspektor – – –«

»Wer kann das wissen? Man weiß nie, wann man Hilfe braucht. Mr. Murdock hat sie jedenfalls genau so nötig wie vorgestern nacht. Guten Tag.«


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