Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

40.
Masken! Masken! Masken!

Es war noch nicht ganz elf Uhr, als Roger Warren den Schein hatte ausstellen lasten, der Audreys Freilassung bewirkte. Kaum zwölf Stunden waren seit ihrer Verhaftung verflossen, aber Warren erschien diese kurze Spanne Zeit unermeßlich lang, grotesk und voller Tragik.

Zur gleichen Stunde erreichte der Dampfer, an dessen Bord sich James Murdock befand, seinen New-Yorker Pier. Ein Zeitungsverkäufer drängte sich den aussteigenden Passagieren schon auf der Schiffstreppe entgegen.

»Neuer großer Einbruch! Eine halbe Million Juwelen gestohlen. Polizei im Kampf mit Verbrechern! Zwei Tote. ›Haken-Mary‹ in Haft. Zeitung gefällig?«

Murdock steckte ihm ein Zehn-Cent-Stück in die Hand, warf einen flüchtigen Blick auf das Blatt, steckte es in die Tasche und schritt den Pier entlang. Der Name seiner Bureauangestellten traf ihn völlig unerwartet. Wie ein Strandgut, das vor undenklichen Zeiten im Meer versunken war, wurde er plötzlich an die Küste dieses jungen und sonst doch so heiteren Tages geworfen.

Murdock war neugierig, was wohl geschehen sein mochte, aber er war durchaus nicht beunruhigt. Sein Lächeln wich auch nicht, als er beim Besteigen einer der wartenden Autodroschken die erschöpften Gesichter der Detektive Dean und Daniels erkannte, die sich in diskreter Entfernung vom Pier hielten. Im Gegenteil, sein Lächeln machte einem breiten Lachen Platz.

Er fuhr unmittelbar zu dem Bureau seiner Grundstücks- und Versicherungsfirma, das er in einem der großen Geschäftshäuser am unteren Broadway unterhielt. In aller Lässigkeit bezahlte er den Chauffeur. In aller Lässigkeit wandte er sich in das Gebäude, füllte sich an dem Zigarrenstand sein Etui und trat an den Fahrstuhl. Er begrüßte den Fahrstuhlführer mit einer Liebenswürdigkeit, wie sie dem größten Finanzmann New Yorks gegenüber nicht hätte größer sein können.

Wegen der Herren Dean und Daniels besorgte er sich nicht im geringsten. Daß die Kriminalbeamten Esel waren, war nicht seine Schuld, sondern einzig und allein die der Polizeibehörden. Er sagte seinen Angestellten im Bureau heiter guten Morgen, begab sich in sein Zimmer, ließ die Tür weit offen, warf die Zeitung auf sein Pult, hängte Hut und Mantel auf und zündete sich behaglich eine Zigarre an. Als Mr. Dean in der äußeren Bureautür erschien, hob er gerade den Telephonhörer ab und sagte:

»Zentrale? Bitte verbinden Sie mich mit der Hauptpolizei.«

»Besetzt.«

»Rufen Sie bitte, sobald die Leitung frei wird!«

Er hängte ab, lächelte dem verdutzten Kriminalbeamten freundlich zu und winkte ihm, näher zu treten.

»Freut mich sehr, Sie wiederzusehen, alter Knabe. Ich hatte extra im Hotel Raleigh hinterlassen, daß ich mit dem Drei-Uhr-Zug nach New York zurückfahren würde. Ich habe mir noch ein Auto genommen, um ihn ja nicht zu verpassen. Aber an der Sperre merkte ich, daß ich meine Aktenmappe mit meinem Billett, mit der Schlafwagenkarte und ein paar wichtigen Dokumenten hatte liegen lassen. Ich mußte wohl oder übel zurück. Zum Glück habe ich das Auto und meinen Kram noch erwischt, aber der Zug war weg. So was Dummes ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht passiert. Aber ich war so mit meinen Geschichten in Washington beschäftigt, daß ich, weiß Gott, meine Gedanken nicht beisammenhatte. Sie entschuldigen, bitte. Aber nein, bleiben Sie ruhig hier. Ich habe keine Geheimnisse!«

Das Telephon läutete. Er griff nach dem Hörer.

Das war ganz Murdock. Das Leben mußte ihm ein Alibi nach dem anderen liefern, aber er war darum nicht minder sparsam damit. Wie ein Boxchampion pflegte er keinen unnützen Schlag zu tun. Wenn das nötige Alibi auch monatelang vorher von ihm bedacht war, die Verhältnisse konnten sich immerhin gegen seine Durchschlagskraft verschwören. Also hieß es, ein neues zu improvisieren, und zwar vor der Nase des Detektivs.

*

»Ziehen Sie Ihren Mantel an und setzen Sie Ihren Hut auf«, sagte die Wärterin lächelnd zu Audrey Murdock. »Detektiv Warren hat den Entlassungsschein für Sie. Sie haben Glück. Wer mit Warren zu tun hat, kann überhaupt von Glück sagen. Der versteht's.«

Audrey fiel aus ihrem Traum. Er war schön gewesen, aber diese Nachricht war noch viel, viel schöner.

»Nichts ist zu seltsam, um wahr zu sein.«

Diese Worte hatten die Verzweiflung aus ihrem Herzen vertrieben und es mit Seligkeit erfüllt. Die Erinnerung an die harte, grobe Faust von Schutzmann Sanders zerrann und versank. Die Erscheinung ihrer dicken Zellengenossin im Gefängnis wurde zu einer unwirklichen Vision. Vergessen war die furchtbare Prüfungsstunde vor Inspektor Montrose. Ihr war, als ob aller Schmutz dieser Nacht von den Wassern einer unerwartet gewaltigen Flut hinweggespült worden sei.

Das Bewußtsein ihrer Schuldlosigkeit half ihr doppelt zu neuer Kraft, und wie die Nacht dem Tage, wich all ihr Schmerz der immer heller in ihr aufdämmernden Seligkeit. Seltsam und wunderbar, so unermeßlich ihr die Zeit von der Stunde ihrer Verhaftung an erschienen war, so schwer sie die Last der Minuten mit all ihren Folterqualen empfunden hatte, in ihrer jungen Freude empfand sie das Ganze kaum mehr als einen winzigen Nadelstich. Noch kannte sie den Grund nicht, der all das Leid auf sie heraufbeschworen hatte, aber ihr Herz sagte ihr, daß es nicht hatte böse gemeint sein können.

Audrey küßte die Wärterin, die nicht wußte, ob sie mehr erstaunt oder gerührt sein sollte. Die Gittertür klirrte. Ihr war es himmlisches Glockengeläut, und als sie sich in dem halbdunklen Gang Roger Warren gegenüber sah, erschienen ihr seine Augen wie leuchtende Sterne. Sie flog ihm entgegen und hängte sich voller Zärtlichkeit in seinen Arm. Die Wärterin wandte sich ab, das Taschentuch vor dem Gesicht.

»Wir wollen durch den Hinterausgang«, sagte Warren. »Sprich nicht, noch nicht.«

Er führte sie durch den langen Korridor. Als sie auf die Straße hinaustraten, fand sie eine Autodroschke auf sie warten. Sie war schon im Begriff, einzusteigen, als ein anderes Auto herangesaust kam, dem Edith Winthrop mit einem schmächtigen, intelligent aussehenden Herrn entstieg.

»Du lieber Himmel! Wo sind Sie denn gestern abend geblieben? Was haben Sie denn hier zu tun, Audrey?«

Edith Winthrops Fragen waren durchtränkt von Argwohn und mißfälliger Eifersucht. Warren grüßte.

»Miß Murdock und ich fahren wieder nach Long Island. Ich hatte dienstlich hier zu tun, und sie hat auf mich gewartet. Tut mir außerordentlich leid, daß ich Sie gestern so im Stich lassen mußte. Aber Pflicht ist Pflicht, und Miß Murdock hat mich begleitet. Ich hatte ja ihrem Vater versprochen, sie nicht aus den Augen zu lassen.«

Audrey fand ihr Stichwort.

»Rufen Sie mich doch bald draußen an«, sagte sie freundlich.

Mrs. Winthrop verdrossenes Staunen machte einem vielsagenden Lächeln Platz.

»Aber gern, mein Schatz. Ich muß doch von Ihnen hören, was Sie alles – erlebt haben.«

Die junge Witwe hatte einen tiefen Haß auf alle Polizeibeamten, seit sie Schutzmann Snyder so unbarmherzig ihres Idols beraubt hatte, während Audrey ihr Glück heimlich und verstohlen genossen hatte. Edith Winthrops etwas verdunsenes Gesicht verriet die Spuren allzu vielen Weins. Wie Schweinsäuglein blickten ihre sonst so klaren Augen durch die geschwollenen Lider, und ihr Lächeln hatte jeden Scharm verloren.

Audrey und Warren fuhren in ihrem Auto davon.

Edith Winthrop und ihr Begleiter, ein Juwelensachverständiger ihrer Versicherungsgesellschaft, betraten das Polizeigebäude. Der letzte Rest ihrer Verdrießlichkeit wurde ausgelöscht, als sie Harry Gregory, schmuck und tadellos, den Spazierstock schwingend, die Treppe herunterkommen sah.

*

Gregory war auf Anordnung des Polizeichefs auf freien Fuß gesetzt worden, nachdem sich aus der Untersuchung ergeben hatte, daß ihn Rechtsanwalt Chatterton in einem von ihm eigenhändig unterzeichneten Brief zur Besprechung einer gewissen Grundstücksangelegenheit in seine Wohnung gebeten hatte.

Kommissar Roxey hatte sich formell bei Gregory entschuldigt.

»Es tut mir leid, Mr. Gregory, daß Sie sich in so übler Gesellschaft haben aufhalten müssen«, meinte Roxey. »Der Kerl, den wir mit Ihnen zusammen verhaftet haben, ist nämlich ein höchst fauler Junge.«

»Seien Sie versichert, daß ich Ihnen nichts nachtrage.« Gregory war von zuckersüßer Liebenswürdigkeit. Er hatte die Frucht von Murdocks Alibi gekostet und war befriedigt. »Irrtümer können immer vorkommen. Aber die Kriminalpolizei hat auf der anderen Seite gerade erst meinem Kompagnon das Leben gerettet. Ich bin nämlich seit einer Reihe von Jahren mit Mr. Murdock assoziiert. Aber er behandelt mich schon mehr als seinen Sohn denn als seinen Kompagnon, sein Tod wäre für mich ein furchtbarer Schlag gewesen und für seine Tochter noch mehr.«

Roxey blinzelte vergnügt. Er mußte an die Situation denken, in der er die eben genannte junge Dame zuletzt gesehen, und nicht weniger an den Direktor von Gregorys Konkurrenzfirma, Molando, der auf demselben Stuhl gesessen hatte, von dem sich Gregory erhob.

»Na schön, – ich meine, natürlich, ich danke Ihnen«, sagte Roxey.

*

»Mein Gott, Harry!« rief Edith Winthrop. »Sie hier? Wie kommen Sie denn hierher?«

Gregory hatte wirklich keine Veranlassung, sonderlich erstaunt zu tun.

»Mrs. Winthrop. Das ist ja famos, daß ich Sie treffe. Ist der Herr auch ein Polizeibeamter?«

Edith Winthrops Begleiter überreichte ihm stillschweigend seine Karte.

»Können Sie sich das vorstellen? Ich habe gerade Audrey Murdock mit Warren hier getroffen,« sagte sie triefend vor Bosheit, »sie fahren wieder nach Long Island, wie's scheint. Audrey muß über Nacht – in der Stadt geblieben sein.«

Die letzten Worte zog sie absichtlich lang. Gregory machte eine Verbeugung, um sein Grinsen zu verbergen. Es war nicht mißzuverstehen, was Mrs. Winthrop hatte sagen wollen. Das Gefühl, daß Audrey Murdock ihn um dieses widerlichen Detektivs willen verschmäht hatte, gab einigen Gedanken, die er in seiner Zelle geträumt hatte, eine gewisse Schärfe.

»Ich muß zu Kommissar Roxey und ein paar Sachen von mir feststellen, die man bei mir gestohlen hat, als wir zu Tisch waren, Harry. Kommen Sie doch mit mir mit. Ich bin so schrecklich allein und habe schon eine Gänsehaut.«

»Ich habe gerade Kommissar Roxey gesprochen. Ein riesig liebenswürdiger Mensch. Aber selbstverständlich begleite ich Sie gern.«

Roxey hatte das Gefühl, als ob die Welt aus den Angeln fiele, als das Trio in sein Zimmer trat. Gregory entschuldigte sein Eindringen.

»Mr. Gregory ist nämlich ein sehr lieber Freund von mir. Wir haben gestern abend zusammen gegessen, als wir, – als ich bestohlen worden bin, wissen Sie? Ist es wirklich wahr, daß meine Juwelen wiedergefunden worden sind? Es ist ja kaum zu glauben!« sprudelte die Witwe.

»Das haben Sie zu entscheiden, gnädige Frau.« Roxey war kurz angebunden. Gregorys Unverschämtheit, sich durch sein neuerliches Erscheinen im Herzen des Hauptpolizeiamtes ein unzweideutiges Alibi zu verschaffen, war schon mehr als gerieben.

»Ich kann sie Ihnen ja beschreiben«, sagte Edith Winthrop mit einem koketten Seitenblick auf ihr Idol. »Zunächst war da eine Halskette mit einem Anhänger. Die Kette hat neun kleine, aber ganz gleiche Diamanten. Der Anhänger ist ein griechisches Kreuz mit vier großen blauweißen Steinen an jedem Ende und einem rosa Diamanten in der Mitte. Dann vier sehr schöne Ringe und mein Verlobungsring von meinem verstorbenen Mann, extra für mich in Holland gearbeitet. Anderthalb Karat ist der Stein. Dann eine fünfeckige Brosche aus weißem Gold und Platin mit neun Steinen. Fünf Steine an jeder Ecke. Vier, jeder von zwei Karat, als Muster und ein dreikarätiger in der Mitte. Dann –«

Sie beschrieb ihren ganzen Schmuck ziemlich genau. Roxey nickte. Er hatte die Juwelen noch nicht weitergereicht gehabt. Er zeigte sie ihr in der Zelluloidschachtel in dem blauen Stück Seife, wohin sie der »Salpeter-Ede« mit seinen jetzt erkaltenden Händen getan hatte.

Ein Stück nach dem anderen ließ der Sachverständige von der Versicherungsgesellschaft prüfend durch seine Finger gleiten, indem er sie mit den Angaben seiner Liste verglich.

»Es sind die richtigen Stücke«, erklärte er. »Keine Fälschungen.«

»Sie sollten Sie für mich in Verwahrung nehmen. Sie kosten mich wirklich zuviel Ärger«, sagte Edith Winthrop und sah unter ihrem Schleier schmachtend zu Gregory hinüber.

»Verzeihung, gnädige Frau«, erklärte Roxey kalt. »Aber zunächst brauchen wir sie. Wir müssen sie als Beweisstücke hier behalten, bis die Einbrecher verurteilt sind. Der betreffende Verwaltungsbeamte wird Ihnen eine offizielle Quittung darüber ausstellen.«

»Ich denke, sie sind alle erschossen worden. Das hat der Portier bei mir gesagt.«

»Portiers sind keine Beauftragten der Kriminalpolizei. Übrigens liegt ein Strafmandat gegen Sie vor. Vielleicht bemühen Sie sich zu der Abteilung. Ich gebe Ihnen gern einen meiner Leute mit.«

*

Harry Gregory verließ das Hauptpolizeigebäude mit etwas verminderter innerer Ruhe, wenn man ihm auch äußerlich nichts davon anmerkte. Der plötzliche Tod des »Salpeter-Ede« flammte als fette Überschrift über der Extra-Ausgabe einer Zeitung, die ihm entgegenprallte. Er kaufte sich das Blatt. Diese Tatsache konnte ihm unter keinen Umständen als Verbrechen angerechnet werden, selbst wenn er beobachtet wurde, wie er bestimmt glaubte. Die Ermordung des »Salpeter-Ede« so unmittelbar nach dem Attentat Gussets gegen Murdock hatte etwas Beklemmendes und Beängstigendes für Gregory. Wie, wenn der Betreffende, der den »Salpeter-Ede« getötet hatte und – der Zeitungsnachricht entsprechend – entkommen war, Murdock oder gar ihn selbst zu ermorden beabsichtigte?

»Ich werde mir doch lieber meinen Revolver aus dem Bureau holen«, dachte er bei sich.

Er entdeckte die anschließende Geschichte von der Verhaftung der »Haken-Mary«, und seine Furcht steigerte sich. Er wagte es nicht, sich seinem Geschäft zu nähern. Er las weiter. Irgendein geschickter Journalist hatte eine Photographie der »Haken-Mary« aus ihrer besten Blütezeit ausgegraben. Dies alte Bild starrte Gregory hämisch an. Wen mochte sie wohl ermordet haben? Murdock? Die Zeitung verriet nichts darüber. Aber er hatte seit zwei vollen Tagen kein Wort von Murdock gehört.

Der Schweiß rann ihm in dicken Tropfen über die Stirn. Er wagte es auch nicht, an den »Masken-Micky« zu telephonieren, da ja die »Haken-Mary« in dem Klub verhaftet worden war, und noch dazu von Roger Warren.

Irgendeine Uhr schlug die halbe Stunde. Es war ein teuflisches Geläute für Harry Gregorys Ohren. Aber dann erinnerte er sich an Murdocks Bemerkung, daß alle Polizeibeamten Esel wären. Und das war Balsam für sein Herz. Murdock hatte recht. Er hatte überhaupt immer recht. Gregory rief eine Autodroschke und ließ sich zu Murdocks Grundstücksbureau am Broadway fahren.

Gregory mußte sich förmlich vorwärts zwingen. Als er schließlich das Bureau betrat, sah er Murdock am Telephon sitzen. Neben ihm saß ein Fremder, eine recht unerfreulich aussehende Erscheinung. Ein neuer Polizeibeamter!

Murdock war gerade in einem Gespräch.

»Hauptpolizei. Bitte das Zimmer des Herrn Polizeichefs. Hier ist Direktor Murdock, Murdock & Co., Seidenfirma. Nein, mein Anruf ist nicht besprochen. Ach, das macht ja nichts. Sagen Sie nur, wer am Telephon ist. Danke vielmals.«

Murdock legte die Hand über den Hörer und sagte lächelnd zu seinem Kompagnon:

»Darf ich bekannt machen, Harry, Detektiv Dean. Mr. Gregory, mein Kompagnon in der Seidenfirma. Ich habe Mr. Dean auf der Reise nach Washington getroffen, Harry. Von Beruf ist er Ingenieur, aber aus Neigung Detektiv!«

Murdock wurde wieder vom Telephon in Anspruch genommen.

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, daß ich Sie störe. Aber Sie werden entschuldigen. Ist Detektiv Warren heute morgen vielleicht da gewesen? Ich hatte ihn gebeten, sich um meine Tochter Audrey zu kümmern. – Ach, vor zwei Minuten gegangen? – Aha, nach Long Island, nach meinem Landhaus? Danke vielmals, Herr Polizeichef. – Aber ja, ein prachtvoller Kerl, der Warren! – Selbstverständlich, zu Hause werde ich schon eine Nachricht von ihm finden. Bin gerade aus Washington zurück. Die Ruhe auf dem Dampfer hat mir recht gut getan. – Ich danke auch noch besonders für alles, was Ihre Behörde mich getan hat und noch tut. Guten Tag.«

Wut und Verdruß ließen Detektiv Dean fast aus der Haut fahren.

»Ein Freund von mir in Washington, der in New York glänzend Bescheid weiß, sagte zu mir: Wer ist denn der Herr, mit dem ich dich auf der Treppe vom Kapitol habe sprechen sehen?« erklärte Murdock, als er den Hörer wieder anhängte. »Sage ich, das ist Ingenieur Dean aus New York. Ich habe ihn im Zuge kennengelernt. – Sagt mein Freund, ein höherer Beamter aus der Finanzabteilung. Er mag ja ingeniös veranlagt sein, aber von Beruf ist er Detektiv. Es ist Mr. Dean von der New-Yorker Kriminalpolizei. Er hat übrigens noch einen Kollegen bei sich. Aber den kenne ich zufällig nicht. Mein Gott, hat der sich über mich amüsiert. Ich hatte gerade eine Besprechung mit dem Schatzsekretär.«

Murdock beugte sich über den Schreibtisch und lachte aus vollem Halse. Dean hatte keinerlei Grund, in seine geschickte Lüge irgendeinen Zweifel zu setzen. Aber er geriet völlig außer Fassung. Wenn es eine Lüge war, so konnte er sie so wenig widerlegen wie die offensichtliche Unwahrheit, mit der Murdock das zweifellos beabsichtigte Versäumen des Zuges glaubhaft gemacht hatte. Dean war außer Fassung, aber darum noch nicht entmutigt. Er fragte sich, welche neue Gemeinheit dieser ausgemachte Schurke wohl im Sinne haben mochte.

»Kann ich Ihnen sonst irgendwie behilflich sein heute morgen«, fragte Murdock ihn frank und frei, »oder vielleicht Mr. Gregory? Wir stehen der Kriminalpolizei jederzeit gern zur Verfügung, Tag und Nacht. Ich bin meinen Lebensrettern viel zu dankbar!«

»Schönsten Dank, Mr. Murdock, aber ich wüßte im Augenblick wirklich nicht. Guten Morgen.«

Murdock grinste seinem Kompagnon zu, als Mr. Dean aus dem Bureau stolperte.

»Esel!« sagte er höhnisch. »Der sitzt mal wieder fest!«

Gregory schüttelte den Kopf. Mit unsicherer Hand deutete er auf die Zeitungsüberschriften, auf die Photographie der »Haken-Mary«, ihre Lebensgeschichte in einem besonderen »Kasten«, in dem alle seine und Murdocks Pläne und Hoffnungen eingesargt zu sein schienen.

»Habe ich dir gesagt, daß Warren ein Esel ist oder nicht?« erklärte Murdock. »Ich wette tausend gegen eins, daß er Quatsch gemacht hat. Und ich werde es dir sofort beweisen!«

Er griff abermals nach dem Hörer und ließ sich mit dem Bureau seiner Seidenfirma verbinden. Gregory beugte sich über ihn, um die Antwort selbst zu hören. Mrs. Mallorys Stimme war unverkennbar.

»Halloh, Mary. Bin gerade aus Washington zurück. Ist bei euch alles in Ordnung. Ist Gregory schon dagewesen?«

»Alles tadellos! Mr. Gregory habe ich noch nicht gesehen.«

»Was soll denn das Zeug in den Zeitungen heißen?«

»Das muß verkehrt sein. Ich verstehe kein Wort davon.«

»Na schön. – Ach, da kommt Mr. Gregory gerade. Ich komme sehr bald mit ihm 'rüber. Ist der Scheck von Molando & Co. eingegangen? – So, also noch nicht?«

*

»Verstehste,« erklärte Benny Smart dem »Masken-Micky«, »dieser Esel von Detektiv kommt jetzt an die Reihe.« Er näherte sich dem Ende seiner langen, nicht immer in ihren Zusammenhängen klaren, aber doch stellenweise durchaus der Wahrheit entsprechenden Erzählung. »Glatte Sache. Er kommt wieder zu mir, heute abend, ganz allein. Ich hab's ihm gesteckt. Du würdest mich abmurksen, hab' ich ihm gesagt, nachdem er die ›Haken-Mary‹ erwischt hätte. Mich hat er auch festmachen wollen. Sonst wär' ich nich ausgekniffen. Aber ich hab's ihm gesteckt.«

»Warum hat er denn deine Frau überhaupt geklappt? Was hat sie denn gewollt, hier?« Micky war etwas argwöhnisch und runzelte die Stirn.

»Meine Alte? Hahaha! Du dummes Luder! Wo ist denn dein Verstand hin? Denkste vielleicht, ich habe Würmer? Du siehst wohl weiße Mäuse, was? Meine Alte? Hahaha! Dieser Esel, der Warren, hat wohl 'ne Ahnung, wer meine Alte ist? Die ist bei Murdock im Bureau wie alle Tage. Der Esel hat Murdocks Kleine erwischt. Das ist seine ›Haken-Mary‹, verstehste?«

»Was?« Der »Masken-Micky« wurde aschfahl.

»Wie oft soll ich dir denn das noch vorquatschen? Denkste, ich rede Blech? Es stimmt. Du kannst mir schon glauben, Murdocks Kleine sitzt im Kittchen. Warren denkt, er hat die ›Velvet-Mary‹. Glaubste nu, daß er ein Esel is?«

»Weswegen?« Mickys Gesicht verzerrte sich, als ob er Folterqualen zu erdulden hätte. Wenn James Murdock erfuhr, daß seine einzige Tochter hier bei ihm im Klub verhaftet worden war, dann hieß das für ihn das Allerschlimmste.

»Wegen Mord. Sie kam mit der Winthrop-Pflanze, mit der der Gregory, dieser Zylinderfatzke, jetzt immer geht, verstehste. Na, und sehen und festnehmen, war eins, und dann wollte er hinter mir her. Aber ich hab's ihm gesteckt, und zwar mächtig. Ich hab' ihm gesagt, daß er was Feines geklappt hat, hahaha! Ich soll mich bis heute abend nich mucksen, hat er gesagt. Selbstmurmelnd, hab' ich gesagt. Der kommt noch mal zu mir, das kann ich beschwören.«

»Warum willst du ihn denn kaltmachen?« Mickys Argwohn machte einer gewissen Skepsis Platz.

Benny Smart entfaltete ein Zeitungsblatt mit einer Photographie des toten »Mappen-Gusset« und einem Bild der Murdockschen Villa.

»Mein Stiefbruder, du weißt doch. Warren hat ihn abgeschossen.«

Der »Masken-Micky« nickte. Sein letzter Zweifel war geklärt. Bennys Rachegefühl bewies ihm zur Genüge, daß der alte Droschkenkutscher »zuverlässig« war.

»Wie wollen wir ihn aber kriegen? Ich denke, ich mache mich am besten selber an die Arbeit. Die Geschichte muß gut klappen!«

»Heute abend bei mir in der Straße. Er kommt allein. Schick' ein paar von der Bande zu meiner Alten nach Hause. Sie können nach der anderen Seite 'raus. Hahaha. Laß ein paar Schmiere stehen. Sie können ihn schon vorher abpassen und hinterhergehen, verstehste?«

»Da hast du einen Hunderter, Benny. Die Sache klappt. Ich mache mich sofort dahinter.«

Benny Smart riß den Hundertdollarschein an sich. »Das will ich meinen. Den haben wir! Er ist auch ein zu dummes Luder!«

Der »Masken-Micky« telephonierte eiligst an Murdocks verschiedene Bureaus. Da er sich gerade vom Broadway nach der Seidenfirma unterwegs befand, konnte er ihn nicht sofort erreichen. Murdock lachte noch immer vor sich hin.

*

»Ich denke, wir nehmen bei dir zu Hause deinen Wagen und fahren mit dem nach draußen«, meinte Warren, als er mit Audrey davonfuhr. »Mein Liebes, noch kann ich dir nichts erzählen. Polizeigeheimnis. Aber das meiste werde ich deinem Vater sagen können, sobald ich ihn sehe. Das ist mir gestattet worden.«

»Ich will gern warten«, gab Audrey ihm zur Antwort. »Wir beide wollen warten und hoffen, nicht?«

»Ja. Aber ich bin furchtbar müde. Bist du mir böse, wenn ich ein bißchen schlafe? Ich kann die Augen kaum mehr aufhalten. Die ganze Nacht auf den Beinen, und heute abend muß ich auch sehr früh wieder in der Stadt sein, um jemand zu treffen. Übrigens bist du nach wie vor meine Gefangene. Aber ich werde dich Wachtmeister zur Bewachung übergeben. Versprich mir, daß du ihn überall mit hinnehmen wirst!«

»Und dich auch, wenn es möglich ist.«

Warren nickte ein und fiel schließlich in tiefen Schlaf. Der Hut sank ihm vom Kopf, und der Verband wurde sichtbar. Audrey verlangsamte das Fahrtempo und sah Warren erschreckt an. Seine Wunde erklärte ihr, warum er nicht hatte früher zu ihr kommen können.

Sie beugte sich sanft über ihn und küßte ihn auf die Stirn.

»Nichts ist zu seltsam, um wahr zu sein«, flüsterte sie vor sich hin. Der Wagen zog wieder an. Warrens Schlaf wurde fester und fester.

Audrey hatte recht. Umsonst wechselt das Schicksal nicht so oft seine Masken.

Die Glocken in der Runde läuteten die volle Mittagsstunde. Abermals wählte das Geschick sich neue Gewänder. Zwei bisher noch unbekannte Verbrecher waren tot. Und mit dem zwölften Glockenschlage tat auch das Herz des »Salpeter-Ede« seinen letzten matten Schlag und überhob ihn jeder Frage nach Zeit und Stunde.


 << zurück weiter >>