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52.
Gespenster

Harry Gregory hatte James Murdocks Heimkehr gehört, hatte aus dem Fenster des Schlafzimmers, das stets für ihn bereit war, gesehen, als das Auto seines Kompagnons knirschend über den Kiesweg fuhr und unter dem gedeckten Hauseingang anhielt.

Er hatte auch Audreys frohen Willkommensgruß gehört und das darauffolgende Stimmengemurmel samt Murdocks erstaunter Frage »Was?«, als ihm seine Tochter erzählt hatte, daß Roger Warren große Stücke auf ihn hielte.

Den Rest der Unterhaltung hatte er nicht verstehen können. Gregory hatte seine guten Gründe, Murdock nicht zu stören, bis sich seine Tochter ahnungslos zurückgezogen haben würde.

Audrey war es nichts Neues gewesen, daß ihr Vater dem Alkohol kräftig zusprach. Er gehörte zu den lebensstarken Naturen, die, wenn sie einmal trinken, sich nicht um das Quantum kümmern. Wenn Murdock in der richtigen Stimmung war, brach er gern mit einem guten Freunde einer Flasche Kognak den Hals und trank drei Viertel allein, wenn die Sitzung lange genug dauerte.

Aber in dieser Nacht war er ohne Freund. Der Alkohol entzündete sich zu Flammen in seinem gedankenschweren Hirn. Er war eine kräftige Natur, wenn er auch schwach an Charakter war. Seine einzige seelische Stärke war die fast göttliche Verehrung, mit der er sein einziges Kind umgab. Männer wie James Murdock sitzen gefangen in dem engen Bannkreis ihrer entmenschten Gefühle und sind außerstande, sich zurechtzufinden, wenn ein noch nicht verloschener Gewissensfunke plötzlich ihr erkaltetes Herz in Flammen setzt.

Gregory kam nach unten. Sein dienstbeflissenes Gesicht trug das ewig glatte Lächeln zur Schau.

Als Murdock seiner gewahr wurde, lächelte er zurück. Aber sein Lächeln war das eines müden Mannes, das Lächeln eines durch zu vieles Wissen Enttäuschten, das Lächeln wachsender Hilflosigkeit und schwindender Kraft.

Gregorys Selbstüberschätzung, mit der er alle seine kleinen Dienstleistungen, die tatsächlichen nicht anders als die nur vermeintlichen, als etwas Besonderes hinzustellen beliebte, ließ ihn in dieser schweren Stunde als einen recht armseligen Gesellschafter erscheinen. James Murdock kannte ja auch den billigen Zynismus, mit dem sein Kompagnon seine Hohlheit zu verbrämen pflegte, zur Genüge.

»Ich bin direkt hier herausgefahren und habe mich Audreys angenommen«, erklärte Harry Gregory. »Dieser schmierige Hund, der Warren, war hier und hat mich beim Weggehen angeglotzt mit einem Blick, na, ich sage dir! Ich möchte wissen, wie er sich jetzt wohl fühlt! Wie stehen denn die Aktien?«

»Du kannst dir die neuste Zeitung aus meinem Auto holen«, gab ihm Murdock zur Antwort. »Da steht alles drin. Geh' und hole sie dir!«

Gregory verschwand eiligst. Murdocks Chauffeur hatte die Zeitung gerade in der Hand. Gregory schnappte sie ihm weg wie ein Jagdhund, den sein Herr apportieren läßt. Als er wieder im Zimmer war, setzte er sich und studierte die Alarmnachricht, die der übereifrige Journalist, ohne Kenntnis der wahren Tatsachen, in sein Blatt lanciert hatte.

Gregory legte die Zeitung schließlich beiseite und sah Murdock an, den alle möglichen Gespenster hetzten und jagten.

»Du bist doch unübertrefflich,« sagte er mit ehrlicher Bewunderung, »dieses gerissene Luder hättest du also mal wieder zugedeckt, und zwar diesmal mit einem Grabstein, was?«

»Sei so freundlich und lies den Brief auf meinem Schreibtisch.«

Gregory las die Mitteilungen, die Warren Audreys Vater hinterlassen hatte. Er warf den Briefbogen mit einer verächtlichen Bewegung beiseite.

»Alles Schwindel,« sagte er, »ich habe schon Audrey vorhin, ohne zu wissen, was in dem Brief steht, erklärt, daß der Bursche dich nur wegen Mordes hat festnageln wollen. Ich habe ihr auch gesagt, daß ich fest davon überzeugt bin, daß er binnen vierundzwanzig Stunden wieder hier erscheinen würde, um dich zu verhaften. Aber das wird er kaum können, was?«

»Du bist doch ein feiges Aas«, platzte Murdock heraus. »Daß du dich an seiner Leiche weiden kannst. Du bist doch tatsächlich schmieriger als der dreckigste Bravo, den ich mir je gekauft habe. Roger Warren war ein aufrechter Kerl. Ein ehrlicher, braver Junge. Er hat mir gestanden, daß er mich für einen anständigen Menschen hielt. Das habe ich ihm gegenüber nicht nötig gehabt. Ich wußte, was er ist. Und er hat es mir bewiesen. Und dafür habe ich ihn dem ›Masken-Micky‹ überlassen. Du –«

Die Wut erstickte ihn fast. Gregory wand sich auf seinem Stuhl. Sein Gesicht wurde leichenblaß. Seine Eigenliebe war seine Achillesferse. Murdock hatte ihm einen tödlichen Stich versetzt. Vielleicht konnte er ihn überleben, aber vergessen würde er die Beleidigung so wenig, wie er sie verzeihen konnte. Sein Blick fiel auf den offenen Likörschrank und dann auf das noch klebrige Glas in Reichweite seines Gegenübers.

»Du mußt schon reichlich betrunken sein, wenn du nach all den vielen Jahren mir gegenüber solche Töne redest«, erklärte er geschmeidig.

»Ich wünschte, ich könnte mich betrinken«, stöhnte Murdock. »Aber es glückt mir nicht. Ich bin nüchtern, eisig nüchtern. Sein Geist verfolgt mich! Aber du hast natürlich die Stirn gehabt und Audrey erzählt, daß er wiederkommen würde, um mich wegen Mordes zu verhaften. Wegen welchen Mordes?«

»Ich habe an Gusset gedacht. Aber ich habe damit weiter nichts beabsichtigt, als sie von ihrer Neigung zu kurieren. Die scheint gleich auf den ersten Blick eingesetzt zu haben. Na, morgen früh wird sie ja endgültig kuriert sein!«

Murdock gab ihm nicht gleich seine Antwort. Er stand auf, ging mit festen Schritten auf den Likörschrank zu, holte mit einem Ruck eine volle Kognakflasche hervor, riß mit einem kräftigen Schwung den Korken heraus und schüttete ein bis zum Rande volles Glas herunter. Er trank es aus bis zur Neige. Dann füllte er das Glas wieder, setzte sich und ließ es dicht neben sich stehen. Seine Finger glitten an dem glatten Glas liebkosend auf und nieder.

»Neigung, sagst du?« gab er schließlich Gregory zurück. »Nein, mein Herr. Sie hat ihn geliebt! Und ich glaube, er sie nicht minder. Aber den Unterschied kennst du nicht. Und wirst ihn nie erfahren. Warren war ein Ehrenmann. Ich bin ein elender Verbrecher. Aber du bist ein so elender Halunke, daß ich neben dir noch als Ehrenmann wirke. Du wirst nie die richtigen Unterschiede machen können. Nie! Dein ganzes bißchen Gehirn geht in einen Fingerhut, du Hundsfott. Vorhin, vorhin ist dort drüben am Fenster ein Hund mit drei Köpfen gewesen. Es sollte mich nicht wundern, wenn Warrens Geist herkäme, um mich zu verhaften. Ich wäre nicht darüber erstaunt, weiß der Himmel, ich wäre nicht erstaunt.«

»Ich werde mir das dreiköpfige Hundevieh gleich mal vornehmen«, erwiderte Gregory.

Er mußte seiner Mordlust irgendwie Luft geben. Er hatte das Gefühl, als ob er Murdock auf seinem Stuhl kaltmachen könnte. Aber was hatte das für einen Sinn gehabt? Aber Audrey, die ja nun glücklich nicht mehr von Warren beschützt werden konnte, hatte noch Wachtmeister! Das Vieh mußte dran glauben!

Er erhob sich und ging zur Tür. Der Hund war nicht zu sehen, das heißt, Gregory sah ihn nicht. Wachtmeister hatte darum nicht minder aufgepaßt, als die Tür sich geöffnet hatte. In dem gleichen Augenblick hatte er sich an einem Baum hochgestellt und wartete nur darauf, daß Gregory ihn passierte.

Gregory zog Murdocks Pistole, lugte bald hierhin und bald dahin, konnte aber Audreys vierbeinigen Beschützer nicht entdecken. Aber Wachtmeister entdeckte die Waffe. Er wußte, zu welchem Zwecke eine Pistole dient. Der Schußdämpfer am Lauf war allerdings etwas Neues für ihn, aber das kümmerte ihn nicht weiter. Er wartete, bis Gregory genügend weit von ihm entfernt war, sprang dann vorwärts und stellte sich erneut hinter einem Baum hoch. Diese Methode wiederholte er, bis Gregory den Rand der Wiese erreicht hatte.

In diesem Augenblick knackte ein Zweig unter Wachtmeisters ziemlich schwerem Gewicht. Gregory fuhr herum, als ob jemand auf ihn geschossen hätte. Wachtmeister witterte sofort die Gefahr und sprang auf Gregory los, der ihm die Mündung des Revolvers zwischen die Augen hielt und abdrückte.

Die Platzpatronen, die Inspektor Montrose so wohlweislich in die Revolverkammer getan hatte, zerbarsten in einer schwarzen Rauchwolke. Der Pulverdampf blendete den Hund, der mit einem kaum hörbaren Klagegeheul zu Boden sank und alle viere von sich streckte. Der Hund war ein vollendeter Schauspieler. Er konnte nicht sehen, aber er zuckte noch einmal und lag dann so still und steif, als ob er tatsächlich tot wäre.

Gregory lachte teuflisch, steckte die Waffe wieder in die Tasche und stolzierte in das Haus zurück. So schuf ein falscher Gedankengang abermals ein tragikomisches Gewebe, mit dem sich das Schicksal maskierte.

»Ich hoffe dich morgen früh vergnügter wiederzusehen«, erklärte Gregory Murdock. »Ich habe das Hundevieh über den Haufen geschossen. Mausetot. Ich denke, du schläfst dich jetzt lieber erst mal ordentlich aus. Wir haben eine große Sache vor, dächte ich.«

»Du hast recht«, erwiderte Murdock dumpf. Und Gregory ließ ihn allein.

Er ließ ihn allein mit dem einzigen Beruhigungsmittel für Murdocks Gedanken. Sein napoleonischer Coup hatte seine Phantasie seit Jahren in Bewegung gehalten. Faden auf Faden, Muster auf Muster hatte er zusammengewoben, bis sein Plan die Wirklichkeit deckte. Warren war nun einmal tot. Und Eduard Marks war ebenfalls tot. Aber für die Stöcke und Schirme drüben in Hoboken brauchte er die lebendige Formel für den chemischen Stoff, mit dem er sie zu füllen hatte.

Murdock lächelte wieder. Er wußte, welche Chemikalien er brauchte, und daß er sie sich durch seine chemische Scheinfirma leicht besorgen konnte. Es war ein Stoff von besonderer Kraft. Wer mit ihm in Berührung kam, dem sollte der Atem vergehen wie unter der Würgehand eines Straßenräubers. Aber das Wunderbare war, daß dieses erstickende Gift sich rasch verflüchtigte. Es verdampfte, ohne eine Spur, ja selbst ohne den leisesten Geruch zu hinterlassen. Aber das Erinnerungsvermögen wurde durch ihn zerstört. Der »Salpeter-Ede« hatte nicht umsonst mit heißem Bemühen Band auf Band für diese Wissenschaft studiert und sich das Hirn zermartert. Er war ein tüchtiger Chemiker, und die Vorproben hatten den Erfolg seiner Arbeit bewiesen.

»Ich werde sie schon alle kriegen«, sagte Murdock zu sich selbst, und die Vorfreude auf die kommenden Ereignisse spottete der harten Gewissensbisse, die er noch eben empfunden. »Ich werde dem Polizeichef einen Scheck über hunderttausend Dollar für Roger Warrens Mutter übersenden. Das ist das allerbeste Alibi!«

Er trank noch ein Glas in der Vorfreude auf den gewaltigsten aller seiner Erfolge. Dieses Narkotikum hatte auf ihn eine bessere Wirkung als alles andere. Er schuf es sich selbst und genoß es selbst. Sein Hirn war wieder kühl und klar. Jawohl, das Schicksal ist manchmal hart und unbarmherzig. Aber was hilft's? Es ist der Lauf der Welt. Das Schicksal hatte auch ihn einmal in die Knie gezwungen, als er seine geschäftliche Laufbahn begonnen hatte. Man hatte ihn betrogen, aber er war als Überbetrüger wieder aufgestanden. Er hatte die Leute, die ihn hintergangen hatten, überboten, bis zum finanziellen Weißbluten, bis sie vor Wut und Zorn zerplatzten. Sie wußten, daß er es war, der ihnen so mitspielte. Sie tobten gegen ihn. Aber sie ahnten nicht, daß seine Auferstehung auf etwa vierzigtausend Dollar beruhte, die er sich in barem Geld aus der Mappe eines Bankkassenboten zugeführt hatte.

Nur Gusset hatte davon gewußt. Und Gusset war tot. Für Yales hatte er gesorgt. Der war nach Argentinien unterwegs. Der »Masken-Micky« war auch erledigt und konnte nicht mehr schwatzen. Also war er sicher. Die Polizei konnte ihm nichts, aber auch gar nichts mehr anhaben. Er dachte an den Stich, den er dem Detektiv Dean versetzt hatte, als er ihn einen Ingenieur von Beruf und einen Detektiv aus Neigung genannt und im gleichen Augenblick mit dem Polizeichef persönlich am Telephon gesprochen hatte.

»Esel, alle miteinander! Esel!« flüsterte er vor sich hin. »Aber ich glaube, es ist wirklich Zeit für mich, schlafen zu gehen.« Er hielt inne. »Wie war doch die chemische Formel? Ich habe sie doch eben noch genau im Kopf gehabt?«

Er zerbrach sich den Schädel. Vergeblich.

»Komisch. Ich muß doch sehr müde sein. Ich will lieber ins Bett gehen. Nein, ich muß die Formel wissen. Der ›Salpeter-Ede‹ ist tot. Aber es ist alles aufgeschrieben. Er hat es selber noch aufgeschrieben. Wozu habe ich denn den Zettel hier? Ich sehe nach und tu ihn wieder an seinen Platz. Und dann gehe ich aber wirklich schlafen.«

Er stand auf und schob die Wandbekleidung auseinander. Der allzu viele Alkohol hatte ihn etwas benommen gemacht. Er vergaß seine übliche Vorsicht, mit der er sonst erst die Vorhänge dicht geschlossen, das Licht ausgelöscht und im Dunkel den geheimen Wandschrank geöffnet hatte.

Die innere Tür flog mit fast magischer Geschwindigkeit auf. Seine Finger wühlten den Behälter durch. Schließlich fand er das Kuvert und wog es bedächtig in der Hand.

Inzwischen hatten sich unentrinnbar für ihn die Tatsachen gehäuft, die von der Hauptpolizei aus verstecktesten Geheimfächern der Zeit herausgeholt worden waren. Während im großen New York Millionen und aber Millionen süßer Ruhe pflegten, waren die Gespenster aller Untaten James Murdocks aus ihren Gräbern und Grüften hervorgekrochen und hatten ihren Mund geöffnet.

Murdock fühlte einen kalten Hauch wie aus einem Grab. Roger Warren hatte das Flügelfenster weit aufgeschlagen. Er rieb sein Legitimationsschild am Ärmel blank, damit das Symbol des Gesetzes noch heller leuchtete.

Murdock sah auf. Statt des dreiköpfigen Hundes sah er ein Tier mit zwei Köpfen. Hatte Gregory nicht den Höllenhund mit seiner eigenen Waffe erschossen? Aber das zweiköpfige Untier hatte nur einen wirklichen Hundekopf, der zweite hatte das bleiche, strenge Gesicht des Detektivs Roger Warren, den der »Masken-Micky« und Benny Smart getötet hatten.

»Gespenster!« stotterte James Murdock.

In seinem Hirn kreiste es. Seine Gedanken wirbelten. Sein Kopf beschrieb erst einen kleinen und dann einen größeren Kreis. Die ganze Welt schien sich zu drehen. Murdock hörte aus weiter, weiter Ferne eine gespenstische Stimme.

»Der Chef der New-Yorker Kriminalpolizei fordert Sie auf, James Murdock, mir zur Hauptpolizei zu folgen! Wo befindet sich Harry Gregory?«

Diese letzten Worte hörten seine Ohren nicht mehr. Aber seine Augen sahen noch den Schimmer der stählernen Handschellen, die das Gespenst am Fenster aus der Tasche zog.

Murdocks Gedanken beschrieben einen Kreis von unendlicher, unbegrenzter Weite. Dann zerbarst die Bewegung. Zeit und Raum hatten aufgehört zu existieren. Er fiel krachend zu Boden.

Wachtmeister sprang ins Zimmer und schlich auf den Toten zu. Sein Fell sträubte sich. Er stockte. Seine Ohren standen kerzengerade. Dann drehte er sich um und sprang zum Fenster zurück. Er bellte nicht. Er knurrte nicht einmal.

Wachtmeister war ein Polizeihund und auf seine Weise ein ebenso tüchtiger und taktvoller Polizeibeamter wie sein Herr.

Aus der Ferne kam gedämpft der ungestüme Ruf einer Frauenstimme.

»Wachtmeister!« Es war Audrey, die gerufen hatte.


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